Wiener Zeitung Neu in der Linkmap:
 
  Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Das Unternehmen Benutzer-Hilfe
 Politik  Europa  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon Interview  Glossen  Bücher  Musik  Debatten 
Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Zum 100. Todestag des französischen Schriftstellers Emile Zola

Zola: Im Namen der Wahrheit

Von Ingeborg Waldinger

Etienne . . . bog auf die Landstraße ein . . . Unter seinen Füßen hallten die dumpfen Schläge . . . Alle waren sie da unten, die Kumpels . . . Die Aprilsonne stand hoch am Himmel . . . Überall schwoll die Saat . . . Männer drängten empor, ein schwarzes Heer von Rächern, deren Same langsam in den Furchen aufging und heranwuchs für die Ernte des kommenden Jahrhunderts - und bald würde dieses Keimen die Erde sprengen. - "Germinal", der Bergarbeiterroman mit dem Namen des Aussaatmonats der Revolution, endet mit der Vision von einer neuen, gerechten Gesellschaft.

Autor Emile Zola, der große Franzose, hat einen italienischen Einwanderer zum Vater: Francesco Zolla (damals noch mit zwei "l" geschrieben), einen anerkannten Techniker aus venezianischer Offiziersfamilie. Mutter Emilie-Aurélie entstammt dem französischen Kleinbürgertum.

Schule mit Cézanne

Emile erblickt 1840 in Paris das Licht der Welt, doch die Kanalbauprojekte des Vaters bedingen die Übersiedelung nach Aix-en-Provence. Hier teilt der kleine Zolla mit Cézanne die Schulbank, durchstreift mit dem Freund das Umland. Den unbeschwerten Zeiten folgen Jahre der Not, denn der Vater stirbt früh.

Die Familie geht nach Paris, wo Emile als Stipendiat eines elitären Lycée an der Phalanx der Jeunesse dorée abprallt. Er scheitert am Baccalauréat, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, fasst im Verlagshaus Hachette Fuß, bringt es zum PR-Chef - wertvolle Lehrjahre in Sachen "Ware Buch".

Lyrisches war zu diesem Zeitpunkt längst aus seiner Feder getröpfelt, auch einfache Prosa, Fingerübungen eben, wie sie einem Literaten geziemen. Doch der - mit 22 Jahren - eingebürgerte Außenseiter Zola weiß, dass ihn anderes interessiert.

Er war in ein Paris krasser Gegensätze geraten. Das Haussmann-Fieber hatte um sich gegriffen, ganze Straßenzüge fielen der Abrissbirne zum Opfer. Der Prunk der neuen Boulevards und Kaufhäuser war groß, die Wohnungsnot und Seuchengefahr nicht minder.

"Ein Stück Natur"

Schon arbeitet Zola für verschiedene Tageszeitungen und sägt am Thron des allmächtigen Umbau-Präfekten Haussmann. Daneben schreibt er Literatur- und Kunstkritiken. Er verteidigt die als Kleckser verpönten Impressionisten gegen den verstockten Akademismus der Salon-Jury, fasst sein ästhetisches Programm in einem Brief

an Freund Valabrègue zusammen: "Ein Kunstwerk ist ein Stück

Natur, gesehen durch ein Temperament."

Zola fordert vom Künstler Genialität und Individualität ein, relativiert den Impressionismus zuletzt als naturalistische "Vorläuferkunst" und lehnt den Symbolismus als mystizistisch ab. Sein Künstlerroman "Das Werk" zeigt einen an Schaffen und Leben scheiternden Maler, dessen Charakterzüge fatal an Cézanne erinnern; eine lange Freundschaft zerbricht.

Der Romancier erkennt rasch das Dilemma seiner wahren Anliegen: ein "naturalistisches" Bild von der Gesellschaft, ihren Rändern und Abgründen ist dem bürgerlichen Leser nicht ohne poetische Konzessionen vermittelbar. Die Geschichten von Proletariat, Prostitution und Verbrechen zeigen verbotene Milieus, schildern Menschen und Umgebung unerbittlich.

Mag sich des Bourgeois' dunkle Seele auch an derlei Lektüre delektieren, so verlangt dessen honette Hälfte doch nach Zucht und Ordnung. Zola balanciert zwischen diesen Polen: "Nana", Kind der Misere, Soubrette des Variété und schließlich mächtige Edelkurtisane, wird im gleichnamigen Roman an den Blattern sterben.

"Prachtvolles Fleisch"

Zuvor aber wird die "Mouche d'or", Goldfliege, ihre heuchlerische Clientèle aussaugen: ". . . groß, schön, von prachtvollem Fleisch wie eine Pflanze inmitten eines Misthaufens, rächte sie die Bettler und Verlassenen, deren Produkt sie war. Mit ihr stieg die Fäulnis, die man im Volk gären ließ, wieder nach oben und brachte die Aristokratie zum Faulen. Sie wurde zur Naturgewalt, zu einem Gärungsstoff der Zerstörung und verdarb Paris zwischen ihren schneeigen Schenkeln . . .; eine sonnenfarbene, aus dem Kot aufgeflogene Fliege (. . .), die den Tod auf den Aasen aufnahm und die, summend, tanzend,

einen Glanz von Edelsteinen

ausstrahlend, die Männer in den Palästen vergiftete." Mit Nanas Fleisch fault auch das Zweite

Kaiserreich.

Der Roman wird ein Bestseller. Zola kauft mit dem Erlös seinen "Kaninchenstall", ein nettes Häuschen in Médan, den künftigen Treffpunkt eines hochkarätigen Naturalistenzirkels.

Eine Frage beschäftigt den Autor zentral: Wer bestimmt eigentlich das Leben des Einzelnen? Er stellt sich diese Frage vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels: Industrialisierung, Kapitalismus und Positivismus haben das Ende der alten Welt besiegelt. Auf diesem Humus entwickelt sich das "Zweite Kaiserreich", das mit dem Staatsstreich Napoléon III. beginnt und mit der Niederlage Frankreichs gegen Deutschland in Sedan 1871 endet.

Es ist die Zeit kühnen Ehrgeizes, maßloser Begierde, großer Erfindungen und Vermögen; Entwicklungen, deren unerwünschte Nebenwirkungen wie Korruption und Verelendung des Proletariats das System auch schon wieder von innen bedrohen.

Selbst der technische Fortschritt wird nicht generell als Segen empfunden: die neuen Maschinen, besonders die Eisenbahn, ihre Kraft und Geschwindigkeit überfordern den Erfahrungshorizont breiter Kreise. Die Wissenschaft setzt zur umfassenden Erklärung der Welt an: die Natur ist beherrschbar, alles folgt einem nachweislichen Kausalitätsprinzip.

Positivismus, Determination

Hippolyte Taine prägt die markige Formel, wonach Laster und Tugend berechenbar wären wie Vitriol und Zucker. Zola kann dem Positivismus Großes abgewinnen. Die experimentelle Medizin des Claude Bernard liefert die Strukturanleitung für den "experimentellen Roman".

Vererbungsforscher Dr. Lucas legt dem Autor die Fährte der biologischen Determination. Erweitert um die Milieutheorie, begreift Zola den Menschen als doppelt fremdbestimmtes Wesen: hier das Erbgut der Familie, da die Einflüsse der Umgebung.

Die Sippe der "Rougon-Macquart" stellt das Personal eines gleichnamigen, monumentalen Romanzyklus. Die bonapartistischen Rougons gehören mehrheitlich zu den "Dicken", die republikanischen Macquarts zu den "Mageren" der Gesellschaft. Die "wissenschaftlich" angelegte "Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich" kommt indes nicht ohne Mythen und Hypothesen aus: ein gemeinsames Naturgesetz soll das gigantische Räderwerk antreiben, soll das Verhalten des Finanzhais, der Prostituierten, des Grubenarbeiters, Künstlers oder Priesters erklären.

Zum einen ist da die problematische genetische Disposition der Familien, ausgelöst durch die geisteskranke Gattin eines Ur-Rougon, welche auch noch eine Mesalliance mit dem Trinker Macquart eingeht. Zum anderen - ja was? Worauf, auf welchen "pathologischen" Befund lässt sich die vergnügungssüchtige, skrupellose Epoche des Second Empire zurückführen? Hier bleibt Zola die schlüssige Antwort schuldig. Zwar zeigt er komplexe Zusammenhänge auf, aber nicht die eine, gemeinsame "Ursache" der historischen Entwicklungen.

Als 1870 der erste Roman des Zyklus erscheint, ist die beschriebene Ära Geschichte. Aus dem geplanten Zeitroman ist das "Tableau eines toten Reiches" geworden. Dem Eröffnungsroman "La fortune des Rougon" folgen 19 weitere Bände (darunter "Nana", "Germinal") im Jahresabstand, oft auch als Feuilletons in Tageszeitungen.

Luxus und Dekadenz

Sie erzählen von Luxus und Dekadenz der Oberen ("La Curée"), von der Verfehlung eines Priesters und dessen Auszug aus dem provenzalischen Paradies ("La Faute de l'Abbé Mouret"), von Markthallen ("Le Ventre de Paris") und Schnapsbuden ("L'Assommoir"), von der Höllenkraft der Eisenbahn und einem mordenden Lokführer ("La Bête Humaine"), schließlich von Stammbaumforschung und Frischzellenkuren ("Le Docteur Pascal").

Von Anbeginn hatte Zolas mit biologistischen Metaphern angereicherter Kosmos den Keim der Fäulnis in sich getragen. Der Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreiches lieferte nun den historischen Beleg für den prophezeiten Untergang.

Doch Zolas Visionen enden nicht in "La débâcle" (Roman über Krieg und Niederlage Frankreichs gegen Deutschland sowie die Kommune), sondern betrachten den politisch-sozialen Verfall des Systems - und die Leiden des Volks - als notwendiges Opfer. Auf dieser Asche keimt eine neue, bessere, demokratischere Welt, in der sich Wohlfahrt und technischer Fortschritt verbinden.

Großer Börsenkrach

Die Chronik weiß anderes zu berichten: Die Dritte Republik kann sich nur mühsam konstituieren; das ökonomische Erbe lastet. Die vorangegangene Gründerzeit hatte zu einem unkontrollierten Wachstum von Unternehmen und Kapital geführt.

Ersten Spekulationsskandalen und Finanzkrisen folgt 1882 der große Börsenkrach. Die Aktien der Bank "Union Générale" fallen nach einem sagenhaften Höhenflug ins Bodenlose.

Emile Zola will verstehen. Welcher Mechanismus treibt die Aktienkurse an? Der Dichter stürzt sich in Fachliteratur, besucht die Börse, erhält Nachhilfe vom Verleger Fasquelle, welcher gewissermaßen auch als Privatbankier des kontolosen Poeten fungierte. Eine neue Welt tut sich auf. Auch sie folgt einer gewissen Logik.

Die Finessen des Insiderhandels, Aktienrückkaufs durch den Emissär und der Termingeschäfte können indes fatale Folgen haben, ganze Vermögen vernichten. Neun Jahre vor Georg Simmels "Philosophie des Geldes" kommt Zolas Roman "Das Geld" 1891 auf den Markt:

Der Spekulant und Fantast Aristide Rougon, genannt Saccard, Bruder des Ministers Eugène Rougon, gründet die "Banque Universelle", unterliegt auf dem glatten Börsenparkett jedoch dem ungleichen Gegenspieler Gundermann, dem imponierend schlichten, leberkranken "Meister der Börse und der Welt (. . .), der die Geheimnisse wusste, der nach Belieben Hausse und Baisse machte, wie Gott den Donner macht."

War Zola Antisemit?

Dieser Gott ist niemand anderem nachempfunden als dem asketischen James de Rothschild - die Vorurteile gegen das Finanzjudentum liegen auf dem Tapet . . . Zola ein Antisemit? Sein Engagement in der Dreyfus-Affäre entlastet ihn klar.

Saccard wird nach seinem Prozess Frankreich verlassen und, ein wenig faustisch, in Holland durch Sumpftrockenlegung Land gewinnen. "Er hatte Recht behalten: noch immer ist das Geld der Düngerboden, auf dem die Menschheit von morgen wächst, das vergiftende und vernichtende Geld ist die treibende Kraft eines jeden sozialen Wachstums, der notwendige Nährboden für die großen, das Leben erleichternden Arbeiten."

Zola glaubt an eine positive, zur Wohlfahrt führende Form des Kapitalismus. Er exemplifiziert diesen Gedanken im Roman "Au bonheur des dames", der Geschichte eines Pariser Großkaufhauses. Diese "Kathedralen des modernen Handels" begründen zwar den Untergang des Kleinhandels, tragen aber zum allgemeinen Wohlstand bei.

Tod in Paris

War in der Bergarbeitergeschichte "Germinal" die schwierige Geburt proletarischer Solidarität ein Thema und im Bauernroman "La Terre" etwa die soziale Frage des Eigentums, so setzt sich Zola im Kaufhausroman mit den Frühformen des "Mobbing" und der Notwendigkeit der sozialen Absicherung von Angestellten auseinander.

In Summe entsprechen Zolas sozialistische Visionen jedoch weniger dem Marxismus denn Fouriers Sozialutopien: im Spätwerk "Travail" (neben "Fruchtbarkeit", "Wahrheit" und "Gerechtigkeit" Teil der Tetralogie "Quatre Evangiles") wird der philanthropische Traum von einer "cité ouvrière" wahr.

Der Marxismus hatte Zola übrigens der Verunglimpfung des Arbeiterstandes geziehen und Balzac den "besseren Realisten" genannt . . .

Emile Zola stirbt am 29. September des Jahres 1902 in seiner Pariser Wohnung an den Folgen einer Kohlenmonoxydvergiftung - der Abzug eines Kamins war defekt. Seine kinderlose Witwe adoptiert die beiden Sprosse aus Zolas außerehelicher Verbindung mit der Wäscherin Jeanne Rozerot.

Freitag, 27. September 2002 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:18:00

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum · AGB