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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Ödön von Horváth schrieb seine berühmtesten Stücke in der süddeutschen Provinzstadt Murnau

Horvath: Wahlheimat Bayern

Von Elisabeth Tworek

Ein Ausflug durch das bayerische Oberland führten den Ministerialrat Dr. Edmund von Horváth, seine Frau und die beiden Söhne Ödön und Lajos 1920 zufällig nach Murnau am Staffelsee. Das idyllische Murnau, das die Künstlergruppe des "Blauen Reiter" begeistert hatte, und wo Wassily Kandinsky mit Gabriele Münter von 1909 bis 1914 glückliche Jahre verbrachte, gefiel auch den Horváths so gut, dass sie ein Jahr später in der Bahnhofstraße ein Grundstück kauften. Nach eigenen Plänen ließen sie dort ein Landhaus errichten. Im Herbst 1924 war die Villa bezugsfertig und diente neben dem Münchner Haus als "Sommersitz".

Murnau, das 1925 etwa 2.900 Einwohner zählte, wurde für Horváth zwischen 1924 und 1933 zum Hauptwohnsitz. Die Gründe sind vielfältig. Ödön von Horváth war ein begeisterter Bergsteiger und Tourengeher, und er nutzte Murnau als Ausgangspunkt zahlreicher Berg- und Klettertouren. Zudem bot die Villa der Eltern kostenlose Logis. Horváth hatte soeben sein Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität München abgebrochen und wollte Schriftsteller werden. Auf der Suche nach Stoffen und Motiven fand er in Murnau die Leute, die ihn für seine Kleinbürgerstudien interessierten: Handwerker, Geschäftsleute, Beamte, Angestellte, Bauern. In dieser kleinen Welt bekamen Inflation, Arbeitslosigkeit und der aufkommende Nationalsozialismus ein persönliches Gesicht.

In den zahlreichen Wirtschaften des Ortes, in Biergärten und Ausflugs-Cafés saß er oft stundenlang, las Zeitung, trank sein Bier, hörte den Leuten zu und machte sich Notizen. Auch genoss er das außergewöhnliche Privileg, als "Zugereister" an den Stammtischen seiner Lieblingswirtschaften willkommen zu sein. Er notierte sich auf losen Zetteln und in Notizbüchern Pläne, Titel, Konzepte, Dialogfetzen. Sie bilden das Rohmaterial für seine späteren Volksstücke und Prosaschriften.

Häufig bekam Ödön von Horváth Besuch von Freunden aus München. Mit der Bahn war Murnau in gut eineinhalb Stunden bequem zu erreichen. Das Moor, der See, das nahe gelegene Gebirge luden Sommer wie Winter zu Vergnügen und Erholung ein. Das Strandhotel und das Strand-Café, direkt am Staffelsee in der Murnauer Bucht gelegen, entwickelten sich zu gesellschaftlichen Treffpunkten. Es gab das ganze Jahr über Künstlerkonzerte und im Fasching einfallsreiche Maskenbälle. Wenn der Staffelsee zugefroren war, trafen sich Horváth und seine Freunde zum Eisstockschießen, Schlittschuhlaufen und zu den regelmäßig stattfindenden Eisrennen. Im Sommer waren Ödön und Lajos von Horváth regelmäßig im Strandbad anzutreffen und am Abend tranken sie in einem der Biergärten ihr Bier.

Zunächst genoss die Diplomatenfamilie in Murnau hohes Ansehen. Die Horváths waren in das Klein-stadtleben fest integriert, auch wenn man nicht so genau wusste, wovon die erwachsenen Söhne eigentlich lebten und auch wenn sich ihr Lebensstil von dem der einheimischen Bevölkerung unterschied. Denn vom Gartenzaun aus konnten es die Murnauer sehen: die Horváths waren "bessere Leute" und hatten Geld. Mehrere Bedienstete mit Spitzenhäubchen servierten auf der Terrasse des "Herrn Baron" das Essen.

Viele Stücke und Prosaskizzen Horváths wurzeln in Beobachtungen, Erlebnissen und Notizen während seiner Murnauer Jahre. In Murnau entstanden mehr oder weniger im Verborgenen seine berühmten Volksstücke "Geschichten aus dem Wiener Wald" (1931), "Kasimir und Karoline" (1932), "Glaube Liebe Hoffnung" (1933) und sein Roman "Der ewige Spießer". Manchmal sind die Bezüge zu Murnauer Lokalitäten, Vorkommnissen und markanten Persönlichkeiten gar nicht zu übersehen, wie etwa in der Komödie "Zur schönen Aussicht" (1927), in dem Volksstück "Italienische Nacht" (1930) und in dem Roman "Jugend ohne Gott" (1936).

Ein Ungar als Bayer?

Ödön von Horváth war überall zu Hause. Er hatte kein Problem damit, an verschiedenen Orten zu leben und verschiedene Sprachen zu sprechen. Doch mit der Zeit reifte in ihm der Wunsch, irgendwo ein Zuhause zu haben. Da es ihm in Murnau sehr gut gefiel, stellte er am 7. April 1927 bei der Marktgemeinde Murnau einen Antrag auf Einbürgerung. Er wollte bayerischer Staatsangehöriger werden und damit auch Deutscher. Für diesen Schritt war er bereit, auf seine ungarische Staatsbürgerschaft zu verzichten.

In sein Notizbuch notierte er: "Meine Kindheit verbrachte ich in Belgrad, Budapest, Wien, München und Pressburg - mein Vater war an der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft tätig, daher dieser Wandertrieb. Daher kommt es auch, dass ich keine Heimat habe - nur eine Wahlheimat: Bayern."

Viermal hatte er während seiner Schulzeit die Unterrichtssprache gewechselt und fast jede Klasse in einer anderen Stadt verbracht. Jetzt fand er einen Platz, wo er nicht nur gerne bleiben, sondern auch dazugehören wollte. Die Fragen, die im "Gesuch um Einbürgerung" zu beantworten waren und die zusätzlichen Auskünfte, die von verschiedenen staatlichen Stellen angefordert wurden, zeigen eine penible und vorsichtige Taktik der Behörde. Der Antrag wurde von den Murnauer Gemeinderäten mit einer knappen Mehrheit von 7 zu 6 Stimmen abgelehnt mit der Begründung, "dass nicht nachgewiesen ist, ob sich der Gesuchsteller dauernd zu ernähren imstande ist". Der Wohlstand der Eltern Ödöns konnte nicht die Unsicherheit seiner Einkünfte, der gute Ruf der Familie nicht die ausländische Herkunft kompensieren. Doch Ödön von Horváth gab nicht auf. Er stellte den Antrag erneut bei der Regierung von Oberbayern und erhielt am 18. Mai 1928 den ablehnenden Bescheid, dass ihm "die Einbürgerung in Bayern nicht in Aussicht gestellt werden kann". Dieses Mal ohne Begründung. Horváth war enttäuscht und betonte in der Folge seine Ungebundenheit und seine weltoffene Lebensweise.

So distanzierte er sich ein Jahr später in der Zeitschrift "Der Querschnitt" von Nationalismus und Vaterlandsliebe und strich seine Heimatlosigkeit besonders heraus: Er fühle sich dem "deutschen Kulturkreis" und dem "deutschen Volke" zugehörig; die deutsche Sprache sei seine Muttersprache, sie sei seine eigentliche geistige Heimat. In der Prosaskizze "Ein sonderbares Schützenfest" von 1929 erklärte er einem "nationalistisch gefälschten" Vaterlandsbegriff eine klare Absage, würdigte jedoch gleichzeitig die herausragenden Leistungen der deutschen Kulturnation und kommt zu dem Schluss: "- mir, als sogenannten Auslandsdeutschen, als von den garantiert echten Vaterländischen unter der Rubrik "Internationalist" Geführtem, mir wurde es übel, Zeuge dieser entarteten Heimatliebe zu sein."

Trotzdem glich sich der Kosmopolit Ödön von Horváth sogar von seiner Kleidung und seiner Sprache her an die Murnauer an. Das fiel besonders in Berlin auf, wohin es ihn immer wieder wochenweise zog. Horváths Freund Rudolph Joseph, Regisseur und Drehbuchautor, erinnerte sich, dass man ihn in Berlin "für einen echten Bayern hielt, in Oberbayern aufgewachsen" und dass "seine ziemlich hohe Stimme (. . .) in deutlich wahrnehmbarer bayerischer Sprache erklang". Auch seiner Lektorin im Ullstein-Verlag erzählte Horváth: "Ich bin Bayer, (. . .) die Eltern haben ein Gütchen in Murnau. Der Bayer, das is a Kreuzung zwischen an Aff und an Tiroler." Sein Schriftstellerfreund Carl Zuckmayer bestätigte später, dass Horváth gern "in Lederhosen und Bayernleinen herumlief" und wunderte sich: "Höchst merkwürdig war es, dass er, in dessen Stammbaum die ganze k. u. k. Monarchie, besonders deren östliche Völker lebten, sich völlig aufs Bayerische stilisiert hatte, auch in seiner Sprache und Ausdrucksweise."

Flucht vor dem Lärm

Die Metropole Berlin gewann für Horváth immer mehr an Bedeutung. Eine Zeitlang spielte er sogar mit dem Gedanken, ganz nach Berlin umzuziehen, denn Berlin war in den zwanziger Jahren der kulturelle Mittelpunkt des Deutschen Reiches. Auch boten sich einem angehenden Schriftsteller dort diverse Verdienstmöglichkeiten. Regelmäßig schrieb Horváth für Berliner Zeitungen Kurzkolumnen, seine Theaterstücke und Bücher wurden dort im Ullstein-Verlag verlegt, seine Volksstücke waren im "Theater am Bülowplatz", am "Deutschen Theater Berlin", im "Komödienhaus" und im "Theater am Schiffbauerdamm" zu sehen. Durch das Theater gewann Ödön von Horváth in Berlin viele Freunde: Carl Zuckmayer, Walter Mehring, Geza von Cziffra, Francesco von Mendelssohn, Eleonore von Mendelssohn, Luise Ullrich. In Berlin wurde ihm im Herbst 1931, zusammen mit Erik Reger, der renommierte Kleist-Preis zuerkannt. Ödön von Horváth blieb aber nur so lange in Berlin, wie es seine Arbeit unbedingt erforderte und übernachtete häufig in kleinen, billigen Pensionen, meist in der Gegend um den Nollendorf-Platz.

Dann kehrte er auf der Flucht vor Lärm, Hektik und Großstadtrummel nach Murnau zurück. Sein Schriftstellerfreund Carl Zuckmayer erinnerte sich: "Ödön neigte in seinen jungen Jahren zu einer gewissen Dicklichkeit, was nichts ausmachte, da er hochgewachsen war. Er war keineswegs ein großer Esser, er soff auch nicht, aber er trank gerne Bier in den kleinen Kneipen von Berlin, München und Wien, und der einzige Sport, mit dem er sich beschäftigte, waren die großen Fußballkämpfe an Sonntagnachmittagen, aber nur als Zuschauer. Er empfand sich selbst als einen Bayer aus Murnau, dort lebte seit einiger Zeit seine Familie, dort lebten seine Modelle - auch die Dialektanklänge in seinen Stücken sind durchweg mehr bayerisch als österreichisch gefärbt."

In Berlin und Murnau, den gegensätzlichsten Biotopen der Zwischenkriegszeit, studierte Horváth die Menschen.

"Zur Schönen Aussicht"

Eine "windige Pension in Murnau" (Lajos von Horváth) regte Ödön von Horváth zur Komödie "Zur schönen Aussicht" an, die 1926 entstand. Den Stoff dazu fand er in der heruntergekommenen Hotelpension "Zur Schönen Aussicht" schräg gegenüber der Villa der Horváths in der Bahnhofstraße.

In dem ursprünglich erstklassigen Hotel, das zwischendurch "Hotel Fröhler" hieß, verbrachte die Familie Horváth 1920 und 1921 den Sommer. Das Hotel wurde Ausgangspunkt zahlreicher Ausflüge und Bergtouren auf die Zugspitze (2.964 m), Deutschlands höchstem Berg. 1924 wurde dort Murnaus erste Radiostation errichtet. Die Murnauer fanden sich dort regelmäßig ein, um das äußerst schmale Programm zu hören. Dann kam das Hotel langsam herunter. 1927 wurde der hoch aufragende Fachwerkbau verkauft und in ein Miethaus umgebaut. Anfang der 80er Jahre wurde es abgerissen.

Als ein weiteres Vorbild diente das "Strandhotel" in Murnau. "Das Hotel war lustig, aber völlig verkommen", so erinnerte sich Horváths Bruder Lajos in einem Interview mit dem Biographen Traugott Krischke.

Das Theaterstück "Zur schönen Aussicht", das erst 1969 uraufgeführt wurde, zeigt vor der Kulisse eines idyllischen Alpenpanoramas den trostlosen Alltag einer dem Untergang geweihten Gesellschaft. In dieser gallbitteren Komödie richten sich in dem heruntergewirtschafteten, dem Bankrott preisgegebenen Hotel gleichen Namens verkrachte Existenzen gegenseitig zugrunde. In ihrem Gefühlsleben sind sie verroht und ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Tabus kennen sie nicht; für Geld ist alles zu haben.

"Nach der Saison" sollte das Stück ursprünglich heißen, in dessen erstem Entwurf Horváth viele Murnauer bei ihrem richtigen Namen nennt.

In dem Volksstück "Revolte auf

Côte 3018", das nach verschiedenen dramatischen Entwürfen am 4. November 1927 in Hamburg als Horváths erstes Bühnenwerk uraufgeführt wurde, geht es um die schlechten Arbeitsbedingungen unter extrem harten Witterungsverhältnissen beim Bau einer Bergbahn. Gemeint ist der Bau der Tiroler Zugspitzbahn in Ehrwald von 1924 bis 1926. Ödön von Horváth hatte sich in Berlin als Arbeiter ausgegeben, der selbst beim Zugspitzbahnbau gearbeitet hatte und nun das Selbsterlebte zu einem Bühnenstück geformt hatte. Carl Zuckmayer erinnert sich: ". . . Plötzlich sagte Ödön: ,Sie haben mich durchschaut.' Ich wusste natürlich, was er meinte. Für die Leute von der Volksbühne war es ein Fressen, das Stück eines ,echten Proletariers' aufzuführen, der selbst an der Zugspitzbahn gearbeitet hatte, und er hatte ihnen den Gefallen getan, eine Zeitlang diese Rolle zu spielen. Dabei brauchte man nur seine Hände anzusehen . . ."

Das Volksstück fand so wenig Zuspruch durch die Kritik, dass der Autor in einer weiteren Umarbeitung wichtige Aussagen mäßigte. Die Neufassung wurde unter dem neuen Titel "Die Bergbahn" 1929 in Berlin mit mehr Erfolg aufgeführt.

"Italienische Nacht"

Im Volksstück "Italienische Nacht" vertreiben sich die Parteimitglieder des fortschrittlichen "Republikanischen Schutzverbandes" die Zeit beim Kartenspielen und organisieren eine harmlos-sentimentale "Italienische Nacht" mit Tanz und Theater, während die Ortsgruppe der Faschisten mit Geländeübungen, militärischen Aufmärschen und einem "Deutschen Tag" zum Umsturz der Demokratie rüstet.

Dafür bot Murnau als "Hochburg des Nationalsozialismus" reiches Anschauungsmaterial. Diesen Namen hatten sich die ortsansässigen Nationalsozialisten 1933 selber gegeben, fühlten sie sich doch in besonderer Weise der nationalsozialistischen Bewegung verbunden. Adolf Hitler hatte in der Murnauer Turnhalle bereits im Mai 1923 eine viel bejubelte Rede vor 2.000 Zuhörern gehalten. Sieben Blutordensträger, die am Hitler-Putsch im November 1923 teilgenommen hatten, wies der kleine Ort auf. Überdurchschnittlich viele Murnauer wählten zwischen 1928 und 1933 die NSDAP. In Murnau lebende Kriegsveteranen und Offiziere gründeten nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Vereinigungen national-chauvinistischer Ausrichtung, etwa den "Verein für das Deutschtum im Auslande". Der Verbandsvorsitzende Major Pöppl trug als ehemaliger Kämpfer in der deutschen Kolonie Südwest-Afrika (heute Namibia) auch im Alltag seine Südwest-Kolonialuniform. Möglicherweise schnappte Horváth an einem der Stammtische den Satz auf: "Halten Sie Ihr Maul! Und ziehen Sie sich mal das Zeug da aus, der Krieg ist doch endlich vorbei, Sie Hanswurscht! Verzichtens lieber auf Ihre Pension zugunsten der Kriegskrüppel und arbeitens was Anständiges."

Saalschlacht in Murnau 1931

Am 1. Februar 1931 hatte Ödön von Horváth Freunde zur Bahn gebracht und kehrte dann in der "Gaststätte Kirchmeir" (später umbenannt in Gasthof Traube) ein, wo die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD), Ortsgruppe Murnau, eine öffentliche Parteiversammlung zum Thema "Demokratie oder Diktatur" abhielt. Hauptredner war Erhard Auer, der Vizepräsident des Bayerischen Landtages.

Horváth wurde Augenzeuge einer Schlägerei zwischen sozialdemokratischen Reichsbannerleuten und Nationalsozialisten. Viele Nationalsozialisten waren mit Bussen und mit der Bahn aus der ganzen Umgebung angereist mit dem Auftrag, diese Versammlung zu sprengen. 26 Personen wurden zum Teil erheblich verletzt. Der angerichtete Sachschaden belief sich auf 2.800 Reichsmark. Das "Murnauer Tagblatt-Staffelsee-Bote" vom 2. Februar 1931 fängt die Stimmung ein, die kurz nach der Saalschlacht herrschte: "Die Sympathie ist hier in Murnau unbedingt auf Seite der Nationalsozialisten." Am 20. Juli 1931 fand vor dem Amtsgericht Weilheim ein Prozess gegen 33 Versammlungsteilnehmer wegen Landfriedensbruchs statt. Unter den Angeklagten: 26 Nationalsozialisten, unter ihnen mehrere alteingesessene Murnauer, die Horváth vom Stammtisch her kannte. Von Anfang an Mitglieder der NSDAP, schwammen sie mit der Partei nach oben. Die Nationalsozialisten wurden von hochkarätigen Anwälten vertreten, unter ihnen Dr. Hans Frank, Hitlers Rechtsberater und späterer "Generalgouverneur" von Polen. Unter den 50 Zeugen: Ödön von Horváth.

Ödön von Horváth belastete mit seiner beeidigten Aussage am

20. Juli 1931 die NSDAP-Mitglieder schwer und bezog damit eindeutig Stellung gegen die nationalsozialistische Bewegung. Der Prozess endete am 1. August 1931 mit dem Freispruch fast aller Nationalsozialisten. Die wenigen Verurteilten gingen in Berufung. Vor dem Landgericht München II bekräftigte Horváth Ende Oktober 1931, er habe den "bestimmten Eindruck gehabt, dass die Schlägerei von den Nationalsozialisten planmäßig vorbereitet war". Das Revisionsverfahren endete mit dem Freispruch aller Nationalsozialisten. Horváths Ansehen in Murnau war damit endgültig verspielt. Nur noch wenige Freunde hielten zu ihm.

Horváths Gegnerschaft zur Murnauer NSDAP gipfelte in einem Streit zwischen ihm und SA-Männern in seinem Stammlokal "Hotel Post". Während der Revolution 1918/19 hatte der rote Soldatenrat in diesem Hotel mitten in der Marktstraße sein Geschäftszimmer. Jetzt trafen sich dort die Größen der örtlichen NSDAP.

Am Abend des 10. Februar 1933 übertrug der Bayerische Rundfunk die erste Rede des frisch ernannten Reichskanzlers aus dem Berliner Sportpalast, die von sämtlichen deutschen Sendern übertragen wurde. Horváth fühlte sich von der bellenden Stimme Adolf Hitlers belästigt und forderte die Bedienung auf, das Radiogerät abzuschalten. Das provozierte anwesende Nationalsozialisten. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Zwei SA-Leute schafften Horváth aus dem Lokal und brachten ihn nach Hause. Er verließ am nächsten Morgen Murnau und fuhr zunächst nach München, dann nach Österreich. In der Villa seiner Eltern fand eine Hausdurchsuchung statt, möglicherweise um die Familie einzuschüchtern und durch Repressalien zu vertreiben.

Ödön von Horváth musste von Österreich aus schmerzlich erkennen, dass es Murnau als Zuhause in Zukunft nicht mehr gab. Auch seinen Eltern war der Boden in Murnau zu gefährlich geworden, und sie verkauften die Villa im Dezember 1933. Horváth erzählte seinen Freunden, die bereits in der Emigration waren, von diesen Übergriffen. Damit stellte er sich zunächst eindeutig auf die Seite der Verfolgten des Nazi-Regimes. Franz Theodor Csokor, Schriftsteller und Horváths bester Freund, kommentierte die Flucht aus Murnau in einem Brief vom 30. November 1933: "Liebster Ödön, bist Du nun über die Grenze wieder heim zu uns? Gott sei Dank! Was Du mir nämlich über Deine Erlebnisse in Murnau mitteilst, wundert mich nicht im Geringsten. Wir sind ja alle schon mitten in der Emigration, ob wir nun in Bayern wohnen oder bereits in Wien."

Einziger "Kommunist"

Die Murnauer Gendarmeriestation bestätigte in einer Anfrage vom

18. Jänner 1935 "Betreff: K.P.D" dem Bezirksamt Weilheim, dass Ödön von Horváth "einige Tage nach dem 30. Juni 1933 Murnau verlassen und sich seitdem hier nicht mehr sehen lassen (hat)." In dem der Anfrage beigefügten "Verzeichnis aller Kommunisten, die anlässlich der nationalen Erhebung flüchtig gegangen sind", wird Ödön von Horváth als einziger aufgeführt.

In Emigrantenkreisen wollte man an eine "Flucht" aus Murnau nicht so recht glauben. Das liegt zum einen an Horváths widersprüchlichen Angaben zu seiner Abreise, zum anderen an der einlenkenden Haltung gegenüber dem frisch etablierten NS-Regime, mit dem er sich zunehmend arrangierte. Ende Mai 1933 zog er die telefonisch zugesagte Unterschrift für ein Protesttelegramm an den PEN-Kongress in Ragusa mit der Begründung zurück, er könne "doch nicht im Namen der österreichischen und geflüchteten Schriftsteller sprechen, da ich weder Österreicher noch geflüchtet bin". Ödön von Horváth wollte unbedingt weiter fürs Theater arbeiten. Deshalb schloss er am 19. April 1934 in Berlin mit dem "Neuen Bühnenverlag im Verlag für Kulturpolitik" einen Vertrag über sein Stück "Himmelwärts" ab.

Knapp zwei Monate später wurde Horváth informiert, dass man seine Stücke in Nazi-Deutschland nicht spielen werde. Am 18. Juni 1934 übermittelte "Der neue Bühnenverlag im Verlag für Kulturpolitik" Berlin ein Schreiben von Ödön von Horváth, in dem er darum ersuchte, "am Wiederaufbau Deutschlands mitzuarbeiten, soweit mir dies meine Kräfte erlauben." Horváth schreibt: "Also, wie Sie wissen, bin ich Ausländer, aber meine Muttersprache ist deutsch und daher fühle ich mich als Mitglied des mächtigen deutschen Kulturkreises. Ich habe beim Ausbruch der deutschen nationalen Revolution und während der folgenden Zeit bis Mitte April 1934 im Ausland gelebt und gearbeitet. Ich habe während dieser ganzen Zeit es kategorisch abgelehnt, irgend etwas in Wort und Schrift oder Tat gegen Deutschland und seine Regierung zu unternehmen. (. . .) Ich habe mich also aus freien Stücken in eindeutigster Weise für Deutschland erklärt, und zwar bereits zu einer Zeit im Ausland, wo eine derartige Erklärung für einen Künstler nicht gerade ohne jede Gefahr verbunden war. Und nun, fast fünfviertel Jahre später, ereignet sich der Fall, dass ein deutsches Theater ein Stück von mir spielen will, und da muss ich hören, dass man kein Stück von mir in Deutschland spielen kann, also in dem Land, für das ich im Ausland immer eingetreten bin. Ich erwarte es niemals, dass man mich irgendwo mit offenen Armen empfängt, aber es wäre für mich mehr als ein sehr schmerzliches Erlebnis, wenn man es mir untersagen würde, am Wiederaufbau Deutschlands mitzuarbeiten, soweit dies mir meine Kräfte erlauben."

Mitglied im "Reichsverband"

Wenige Wochen später, genauer gesagt am 11. Juli 1934, trat er in den nationalsozialistischen "Reichsverband Deutscher Schriftsteller" ein und hielt sich in der Folgezeit mit dem Schreiben von Drehbüchern für Filme über Wasser.

Im Brief vom 7. August 1935 gesteht er seinem Bruder Lajos, wie es ihm geht: "Ich habe kein Geld und es fällt mir nichts ein. Beides ist für einen Menschen, der davon lebt, dass er Novellen verfasst, sehr ungünstig, denn unter solchen Umständen hat er keine Gelegenheit, sich welche auszuklügeln. Wenn der Magen knurrt, wird die Geduld, die Mutter der Phantasie, ungeduldig. Alles andere ist Schwindel."

Ödön von Horváth zahlte nur bis 1935 Mitgliedsbeiträge für den "Reichsverband Deutscher Schriftsteller" und wurde 1937 ausgeschlossen.

Vor allem 1933/34 hielt er sich öfter über einen längeren Zeitraum in Murnau auf. Allerdings nicht in der Villa seiner Eltern, das wäre zu gefährlich gewesen, sondern im Dachgeschoss des Nachbarhauses. Wieder ließ er sich von Details eines ihm vertrauten Milieus anregen und sammelte Materialien, die er 1937 in seinem bekanntesten Werk, dem Roman "Jugend ohne Gott", verarbeitet hat. Die Vorarbeiten - erzählerische Skizzen und das Fragment "Der Lenz ist da!" - lassen sich bis 1933/1934 zurückverfolgen, als in Murnau die Vorbereitungen zum ersten "Hochland-Lager" der Hitlerjugend voll im Gange war. Das Zeltlager wurde vom 4. bis 28. August 1934 in der Gegend um Aidling bei Murnau errichtet.

In "Jugend ohne Gott" werden die Schüler zu Menschenverachtung und Hass erzogen. In der Schule lernen sie Zucht, Gehorsam und Rassenhass; bei Geländeübungen und Lagerfeuer-Romantik lernen sie das Kriegshandwerk. Die eisige Kälte der Gesellschaft lässt sie verrohen und macht sie zu willfährigen Mitläufern des faschistischen Staates. Der humanistisch gesinnte Lehrer bemerkt die wachsende Skrupellosigkeit seiner Schüler, doch er tut zunächst nichts dagegen, sondern folgt blind den Anordnungen der vorgesetzten Dienstbehörde. Da wird ein Schüler ermordet. Nun folgt der Lehrer der Stimme Gottes und findet den Weg zur Wahrheit. Für einige Schüler wird sein Vorbild wegweisend. Gemeinsam verbünden sie sich gegen Lüge und Dummheit und klären das Verbrechen auf.

Seit Juli 1937 lebte Ödön von Horváth in Henndorf bei Salzburg und schrieb im "Gasthof Bräu" kurz nacheinander die beiden Romane "Jugend ohne Gott" und "Ein Kind unserer Zeit". "Jugend ohne Gott" erschien 1937 im Exil-Verlag Albert de Lange in Amsterdam. Der Roman begründete den internationalen Erfolg Horváths und wurde binnen eines Jahres in acht Sprachen übersetzt. Die Nationalsozialisten verboten "Jugend ohne Gott" relativ rasch.

Sich mit Ödön von Horváths Leben und Werk zu beschäftigen, bedeutet für die Murnauer gleichzeitig eine Konfrontation mit der braunen Vergangenheit des Ortes. Seine Volksstücke sind ein Stück literarisches Gedächtnis des Marktes und halten ein paar Jahre Murnauer Geschichte in Erinnerung. Doch je mehr die Vergangenheit verblasst, umso mehr lernen es die Murnauer zu schätzen, dass dort, wo sie leben, ein Stück Weltliteratur entstanden ist. Denn welcher kleine Ort hat schon die Gelegenheit, das, was früher dort passiert ist, auf den großen Theaterbühnen Europas immer wieder präsentiert zu bekommen? Dass die Murnauer das alles dem "heimatlosen Ausländer" verdanken, den ihre Vorfahren nicht einbürgern wollten, trübt den Genuss ein wenig. "Wissens", schreibt Ödön von Horváth in der 1933 entstandenen Posse "Hin und her", "es schaut nämlich einfacher aus, als wie es ist, wenn man so weg muss aus einem Land, in dem man sich so eingelebt hat, auch wenn es vom Zuständigkeitsstandpunkte nicht die direkte Heimat war - aber es hängen doch so viele Sachen an einem, an denen man hängt."

Dr. Elisabeth Tworek ist Kuratorin der Ausstellung "Ödön von Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur", einer Kooperation von Literaturhaus München und Literaturhaus Wien, Monacensia München und Stadtmuseum München. 7. Dezember 2001 bis 3. Februar 2002, Literaturhaus München, Salvator-

platz 1, 80333 München. Vor kurzem erschienen: Elisabeth Tworek/Brigitte Salmen: "Ödön von Horváth. Ein Kulturführer des Schlossmuseums Murnau." Dort ist eine Dauerausstellung zu "Ödön von Horváth und Murnau" eingerichtet, ebenfalls konzipiert von Elisabeth Tworek.

Freitag, 07. Dezember 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 14:57:00

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