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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Über den animalischen Spürsinn und die arithmetische Lyrik des deutschen Dichters Durs Grünbein

Grünbein, Durs: "Mit großem Tierblick"

Von Walter Sontag

Der Zoologe Georg Büchner zergliederte Körper und Hirn anatomisch in die Summe ihrer Gewebe und Organe; seine Dichtung hinterließ ein entwurzeltes Individuum, eine tierhaft nackte Existenz mit einem einzigen Halt, dem Abgrund in sich selbst. Der Käferkundler Ernst Jünger promovierte in Neapel über ein marinbiologisches Kapitel und wurde in seinem überlangen Leben zweimal Zeuge der Passage des Halleyschen Kometen. Dem autonomen Wirken der Gestirne und Planeten, den Gesetzen und der Pracht der lebenden Organismen begegnete er mit ästhetischen Kategorien und in metaphysischer Näherung. Auch der Romancier und Literaturwissenschaftler Vladimir Nabokov, Schöpfer der verrucht-berühmten "Lolita", war als Zoologe tätig.

Der leidenschaftliche Schmetterlingsjäger brachte am Institut für Vergleichende Zoologie in Harvard jahrelang bis zu 14 Stunden am Tag vor dem Mikroskop zu und verfasste vor allem in der elitären Wissenschaftszeitschrift "Psyche" Aufsätze über die Welt der Falter und Motten, namentlich über die endlose Formenvielfalt der Bläulinge. Doch belletristisches Œuvre und entomologischer Impetus stellen in seinem Schaffen jeweils eigene Sphären dar, die ungestört nebeneinander bestehen. Eine Reihe von Autoren der literarischen Erfindungskunst gab gelegentlich Tierkundliches von sich, wie etwa Albert Drachs sarkastisch-naturalistische Beschreibung vom Aufstieg und Fall einer erretteten Kernbeißerkreatur in Menschenhand zeigt ("Lullo und Lulla" in dem Buch "Ironie vom Glück"). Ebenso erwies sich Hermann Lenz bei seinen Wanderungen als aufmerksamer Beobachter der Vogelwelt.

Manier eines Zoobesuchers

Durs Grünbein hat zwar nie Zoologie, Physik oder Medizin studiert, aber er - quasi Naturtalent - beobachtet wie ein Tierforscher, teilt alles Geschehen um sich herum ein nach der Manier eines wissbegierigen Zoobesuchers, dem auf engstem Raum Walross und Erdferkel, Springbeutler und Ginsterkatze, das gewöhnlichste und absonderlichste Getier präsentiert werden. Sein Fühlen und Denken loten die Schwindel erregenden Weiten zwischen Hirndach und dichterischem Ausdruck aus, pendeln gleichsam zwischen Nervatur und Baudelaire, zwischen Fleisch und geistiger Regung, zwischen Physis und seelischer Differenziertheit. Den schlaksig-asthenischen Dresdner nimmt bereits das Generalthema des unvermittelten, schroffen Gegensatzes gefangen: blanke Körperlichkeit hier, verfeinertes Erleben dort. Eingeengt auf die Stufe der Menschenexistenz, stehen die groben Merkmale der Gattung gegen die singulären, unnachahmlichen Eigenschaften der Individuen. Beim zivilisationsbeglückten Homo sapiens reicht die Spanne vom physiologischen Stumpfsinn über Sprache als bloßes, womöglich formelhaftes Mittel der Verständigung bis zu Hexameter und Ode - bis hin zur Poesie als Selbstzweck, Selbstberauschung und, am sozialsten noch, als Darbietung der persönlichsten Entdeckungen und Erfahrungen. Es ist das Rätsel der schier unüberwindlichen Räume zwischen Bullenstall und Geniewerkstatt, wovon sich der Lyriker und Essayist magisch angezogen sieht. Wo beginnen Geist und Psyche, Individualität und Kreativität, das Neue und das nicht Berechenbare?

Freilich eignet Grünbein nicht allein die Thematik. Das Sujet ent-spricht auch seiner Wahrnehmung, seiner inneren Natur. So dringt Grünbein mit animalischem Spürsinn in die düstere Unterwelt der Tiefseefische vor, wo er doch den Geruch unserer Städte wittert und das Fluidum unseres Tageslaufs bezeichnet, das muffige Produkt unserer eintönigen Bau-, Ordnungs- und Gesellschaftshygiene, wo er die fühllosen Schluchten und Weiten dumpfer Träume betritt oder in den verstaubten Vitrinen und Präparatorkammern einer verrottenden Museumswelt stochert. "Mit großem Tierblick", wie er selbst einmal rekapituliert, umkreist er Alltag, Gegenwart und Vergangenheit, sucht in sich selbst und in seinem Empfinden nach Worten und Korrelaten für das Erlebte und schwer Verdauliche.

Als "halborientalische Wirren" stellt sich etwa für ihn das an Langeweile verfaulende System der DDR-Restauration dar - und darin verbrachte er immerhin die nach herkömmlichen Maßstäben beste und schönste Zeit eines Menschenlebens. Rachegelüste und die weinerliche Attitüde der Selbstanklage fehlen, weder Wiederaufarbeiten noch Wiederaufbereiten, kein Wort der Trauer über vermeintlich zerstobene Hoffnungen. Wenn Trauer aufkommt, dann ist sie zwingend da und nicht Schaubalz nach lustvoll inszenierter Selbstkasteiung im Stadion der Öffentlichkeit: sie entspringt dem realen Schmerz, dem Verschwinden des Vertrauten, der modernen Gewissheit "bevor der Mensch mit sich allein ist".

Melancholisch schreitet der Großstadtbewohner Grünbein die paradoxe Zoorunde ab, vorbei an unvereinbaren Klimazonen, Kontinenten und Lebensräumen, sieht die Orang-Utans aus dem fernen brennenden Regenwald hinter Panzerglas in Schutzhaft gesichert, den König der Tiere auf seinem Freilichtthron, dem sogenannten Löwenfelsen, in eine Scheinwelt verbannt. Überleben in der urbanen Arche Noah eingetauscht gegen Artentod im Dschungel!

Dieser zutiefst zerebrale Autor begreift die Unausweichlichkeit des Laufs der Dinge: der Stärkere siegt. Gerade als unbestechlicher Archivar äußerer Ereignisse und innerer Befindlichkeiten vermag Grünbein in sich hineinzuhören, eben auch noch Trauer zu verspüren, noch nicht betäubt vom Triumphgeheul und Fortschrittstaumel des Homo technologicus. So ruft er den unter-legenen Geschöpfen das Lebewohl der entfesselten Menschenbestie zu. Ungeschminkt und kälter als all die professionellen Moderatoren und Analytiker des Zeitalters der Biomedizin und Menschheitshygiene hält er uns den Spiegel vor, die wir noch ahnungslos, halb widerstrebend oder frohgemut dem Zeitgeist folgen. Vielleicht weist uns der Gang durch das, was vom altehrwürdigen Berliner gruselig-grausigen Kabinett der Missbildungen geblieben ist, den Weg: ehemals biologischer Klassifikationspurismus und Schaubudenekel, abgelöst von der realsozialistischen Verdrängung des Entsetzlichen - bis zur heutigen Aussicht: "Die Büchse der Pandora ist geöffnet und ihr Deckel verlorengegangen."

Imagination und Intellekt

Der kosmopolitische Wanderer, weltläufig im geographischen Sinn wie in Epochen und Stil, deckt ein weites Spektrum ab. Mühelos spannt sich bei Durs Grünbein der Bogen vom antiken, Söhne verspeisenden Thyestes bis zu Verzehr und Genuss mit Reue im Supermarkt der Spaßgesellschaft. Das Schreiben "zwischen Hundekadaver und Diadem", wie Grünbein über Shakespeare vermerkt, wurzelt freilich in der frühen Erfahrung in und hinter grauen Mauern. In der abgeschotteten Provinz der Kindheit bot sich einzig das Refugium eines intensiven Innenlebens.

In den bemühten Dioramen des Stadtmuseums, in der Ödnis holpriger Straßenpflaster stieß er auf die inneren Fundamente, die ihm zur Heimat und zum verlässlichen Erkenntnisschatz wurden. Darauf fußend vermochten sich Imagination und Intellekt zu entfalten, gediehen hier besser als im Hagelschlag der Theorien und Inszenierungen befreiter Selbstdarsteller im wohlstandsverwöhnten Westen. Was dort mit der Pose des progressiven Anspruchs an der Oberfläche wuchern konnte ohne Einwand und ohne Widerstand, unterliegt bei diesem Autor feinnerviger Sinnenkritik, dem Urteil des strengen Sprachinstinkts, rationaler Reflexion und ironischer Distanz.

Allein aus der Reibung mit der eigenen unerbittlichen Wahrnehmung gewachsen, vom öffentlichen Interesse unbeachtet, hatte sich im kargen Käfig des "ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaats", in einem "Zoo der Angepassten" eine Künstlerexistenz geformt, die kritischer und unerbittlicher ist als jede von Publikum und Mentoren geförderte Dichterkarriere. Grünbeins wachen Tierblick treibt Neugier an.

Die Wahrnehmung spiegelt obendrein das innere Erleben, ist somit auch Bauch, doch ist die Sprache stets vom Kopf geprüft. Ganz besonders für das lyrische Œuvre gilt dies in aller Konsequenz. Baudelaires Babylonischem Herzen folgt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts das Babylonische Hirn nach - so Grünbeins Analyse und wohl auch sein Credo. Nur "folgerichtig" erscheint da, dass dieser unabhängig und unversehrt gebliebene Beobachter auf das langweilige Wiedergekäue psychoanalytischer Stereotype verzichtet, die - wahllos verwendet - lediglich Leerformeln darstellen und trotz ständiger Beschwörung nicht richtiger werden.

Statt dessen gilt für Grünbein: genaue Beobachtung an sich selbst, am Individuum, am Massenwesen, akribische Wortwahl, treffender Ausdruck, bei der Argumentation präzise Werkkenntnis und zwingende Beispiele von der mausfangenden Katze bis zum knochensammelnden Goethe - und welch brillante Sicherheit im Gebrauch des Zitatenfundus!

Beim Abtasten der Denk- und Empfindungsräume fordert der Kulturanalytiker und Ästhet von sich das Äußerste an Disziplin und Genauigkeit und ist damit bereits an das Maß als zentrale Instanz der Lyrik angelangt. Bei solch rigidem Denkanspruch verwundert kaum, dass Grünbein den geradezu rasanten Niedergang der Geisteswissenschaften beklagt, die zur gesellschaftlichen Randerscheinung verkommen. Ohne Gegenwehr überlässt die einstige Domäne des Intellekts den empirischen und simulationsfreudigen Technokraten das Feld. Die mögen zwar als brave Rechenakrobaten emsig addieren, transformieren und revolutionieren, doch zum Verstehen des eigenen Tuns, zu Entwürfen, Erinnerung und Vorausschau fehlt ihnen der Kopf. Keine Vorstellung von den Sprüngen der Fantasie, von kultureller Gestaltung - von der Vision einer Seele ganz zu schweigen.

Poem des Zeitgenossen

Grünbeins Trauer meint auch das immer stärkere Auseinanderdriften von naturwissenschaftlicher Wahrnehmung und künstlerischem Ausdruck, zumal der Sprache. Diesen Spagat unternimmt er, wenn er Galilei Dantes Hölle neu vermessen lässt und deren plastische Metaphorik mit Darwins Stammbaumkonstrukten blinzeln darf, wenn er in Haeckels "Kunstformen der Natur" über Schönheit und Gesetzmäßigkeit, Anschauung und Trugschluss nachsinnt, oder wenn er im Lesen, etwa in Canettis "Masse und Macht", das findet, was sich "selbst bei größter Abenteuerlust bis zu Gefängnis, Fahnenflucht und Dissidenz niemals erfahren ließ", von der Höhlenmentalität der Mammut-jäger bis zur Anthropologie des ruhelosen Großstadtwolfs.

Mit Wucht vollstreckt der Berichterstatter der Jahrtausendwende, an Büchner, Kafka und Canetti geschult, die Devise: "Alles wirksame Schreiben geht vom Körper aus." Ein im doppelten Sinne "zoologisches Verfahren", da die Perspektive des Subjekts gleichermaßen Geltung hat. So singen seine Zeilen das Poem des Zeitgenossen, der im Biotop der Straßen und Kinowelten umherirrt. Die Nächte verbringt er in einer Fluchtburg, wohl eingerichtet und in klinischer Geborgenheit verschanzt, zwischen Prozessor und Mattscheibe verloren. Dem monotonen Mahlen des technisch-bürokratischen Fortschreitens fügt er sich, und lakonisch willigt er ein in die neue geglättete, kahle Konsum- und Körperwelt ohne Makel und ohne Alter. Bei der Aussicht auf einen solcherart geleerten und planierten Planeten tröstet solange die Hoffnung, wie Wellen und Düfte aus Melvilles "Moby Dick", "einem wahren Kompendium über Ozean, Wolke und Wal", in die Hochglanz-Badezimmer der neuen Zeit schwappen. Auf die Vers-Arithmetik des früh geehrten Ahab-Adepten und immer noch jungen Berliner Realisten Durs Grünbein darf man gespannt bleiben.

Von Durs Grünbein bisher im Suhrkamp-Verlag erschienen:

Grauzone morgens. Gedichte, 1988.

Schädelbasislektion. Gedichte, 1991.

Den teuren Toten. 33 Epitaphe, 1994.

Falten und Gallen. Gedichte, 1994.

Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Essays, 1996.

Nach den Satiren. Gedichte, 1999.

Im Herbst 2001 erscheint "Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen."

Freitag, 13. Juli 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 14:58:00

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