Wiener Zeitung Neu in der Linkmap:
 
  Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Das Unternehmen Benutzer-Hilfe
 Politik  Europa  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon Interview  Glossen  Bücher  Musik  Debatten 
Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Die irische Lyrikerin Paula Meehan im Gespräch

Meehan: "90 Prozent der Iren sind Dichter"

Von Dörte Eliass

Laut einer Umfrage der "Irish Times" vom Dezember 2000 ist Paula Meehan neben Eavan Boland die populärste zeitgenössische Lyrikerin Irlands, was in einem Land, in dem Lyrik einen hohen Stellenwert besitzt, einiges heißt.

Paula Meehan wurde 1955 in Dublin geboren. Sie hat am Trinity College, Dublin und an der Eastern Washington University studiert und fünf Gedichtbände veröffentlicht sowie mehrere Theaterstücke geschrieben. Im Herbst 2001 wird im Christel Göttert Verlag, Rüsselsheim, voraussichtlich eine deutsche Auswahl ihrer Gedichte erscheinen.

Wiener Zeitung: Die Stadt Dublin ist Thema oder bildet den Hintergrund vieler deiner Gedichte, du selbst bist in Finglas (Stadtteil von Dublin) aufgewachsen. Welche Rolle spielt Dublin für dich persönlich und für deine Arbeit?

Paula Meehan: Meine Kindheit verbrachte ich im Nordteil der inneren Stadtgrenzen Dublins - ein Gebiet, das grob von den Kais der Liffey und dem Royal Canal begrenzt wird. Der Bezirk war literarisch bereits abgesteckt. Als junges Mädchen wanderte ich die Eccles Street hinunter, wo Joyce Leopold Bloom seinen einzigartigen Tag in der Geschichte beginnen ließ, ich spielte auf einem Spielplatz der Dublin Corporation in Mountjoy Square, einem georgianischen Platz umrundet von Mietshäusern, der der Schauplatz Sean O'Caseys großer Dubliner Bühnenstücke ist, mein Vater machte mich auf Behan aufmerksam. Das Gebiet war reich an Geschichten, besonders an ungeschriebenen Geschichten. Meine Urgroßmutter war eine der einflussreichsten Bordellbesitzerinnen in Monto, zur Jahrhundertwende das größte Rotlichtviertel in Europa, das sowohl den Hafen wie auch die hier stationierten britischen Soldaten bediente. Ich liebte die Stadt, und ich liebte die alten Menschen um mich, besonders meine Großeltern. Mein Großvater brachte mir Lesen und Schreiben bei, bevor ich zur Schule ging, so dass ich nicht auf das staatliche Schulsystem angewiesen war, das Mädchen meiner Herkunft zu Dienstmädchen oder Sklavinnen in Nähfabriken erzog. Genauer gesagt, sie bereiteten uns in der Schule auf Jobs vor, die es gar nicht mehr geben würde, wenn wir die Grundschule beendet haben würden.

Als ich ein Teenager war, zogen wir in eine Mietshausgegend in den Norden Dublins. Die höhere Schule war zum ersten Mal für alle zugänglich, und wir waren die ersten Kinder aus Arbeiterfamilien, die das Recht auf Bildung besaßen und nicht nur aus Wohltätigkeit oder mit Stipendien die Schule besuchen konnten. Das war eine explosive Mischung. Ich wurde von den Nonnen aus der Schule geworfen. Und im Großen und Ganzen war ich den ganzen Rest meiner Jugend ziemlich wild - heute erinnere ich mich daran kaum noch, was ganz angenehm ist.

W. Z.: Dublin hat sich in den letzten Jahren sehr verändert - mittels EU-Programmen zur Stadtsanierung und Steuererleichterungen für Investitionen hat sich das Aussehen der Stadt innerhalb weniger Jahre grundlegend gewandelt: An den Nordufern der Liffey befindet sich jetzt ein riesiges Finanzzentrum, die Vorstädte scheinen beständig zu wachsen, Einkaufszentren sprießen überall aus dem Boden. Die Stadt wirkt insgesamt internationaler und offener für internationale Einflüsse - was hältst du von dieser neuen "Offenheit", oder ist das überhaupt eine "Offenheit"?

Meehan: Der so genannte "Celtic Tiger" ist, wie zu erwarten war, selektiv: Vielen Menschen geht es damit nicht sehr gut. Die älteren Gemeinden der Stadt haben wahrscheinlich am meisten gelitten. Es ist wirklich nicht sehr ermutigend, wenn man auf das Begräbnis einer 15-jährigen Heroinabhängigen geht und gleichzeitig in den Medien dieses ganze triumphale Gerede darüber hört, was für ein großartig kultivierter Ort wir doch seien. Die Insel mit Autobahnen aus Zement zu übersäen, die uns schneller von einer verstopften Stadt zur nächsten kommen lassen, soll gut für uns sein. Tatsächlich? Wir sind jetzt sehr verletzbar, und vielleicht wachen wir ungefähr in zehn Jahren auf, um herauszufinden, dass die wirklich wertvollen Dinge verloren gegangen sind.

Der letzte Bericht der Environmental Protection Agency war beängstigend.

W. Z.: Wie sieht es jetzt mit den Publikationsmöglichkeiten in Irland aus? Stimmt es immer noch, dass viele irische Autoren oder Autorinnen nach England gehen, um veröffentlicht zu werden und wenn ja, warum?

Meehan: Aus finanziellen Gründen. Weil es in Irland nicht genug Verlage gibt, um der Menge hervorragenden Schreibens hier gerecht zu werden. Weil wir eine Insel sind, und du dich mit den Verlagen hier zerstreiten kannst.

W. Z.: Wann immer ich nach Dublin komme, bin ich überrascht, wie respektiert und wichtig Lyriker und Lyrikerinnen im öffentlichen Leben sind, sogar, wenn der Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin nicht unbedingt gebildet ist oder sich gar nicht für Literatur interessiert. Irland ist auch das einzige Land Europas, in dem Künstler und Künstlerinnen keine Steuern bezahlen müssen. Woran liegt das?

Meehan: Ungefähr 90 Prozent der Bevölkerung verfassen selbst Gedichte, nur 2 Prozent lesen sie auch! Ich glaube, dass hier wieder der Inselfaktor eine Rolle spielt, genauso wie unsere koloniale Geschichte. Ein Volk, dem alles genommen ist, hat sicherlich eine besondere Beziehung zu Sprache. Es gibt hier auf der Insel ja auch zwei Sprachen, die zeitweilig sogar im Streit miteinander liegen. Und wir verfügen über eine große und einflussreiche Liedtradition, die das Schreiben von Lyrik nährt und auch darüber hinaus geht. Vielleicht ist die Lyrik auch zu einem sich selbst erfüllenden Mythos geworden. Wir gehören zu den Ländern Europas, die pro Kopf am wenigsten Geld für die Kunst ausgeben. Nur sehr wenige Künstler oder Künstlerinnen verdienen genug Geld, um in den Genuss der Steuerbefreiung zu kommen, und die meisten künstlerisch Tätigen im Staat leben am Existenzminimum. Die wenige Unterstützung, die wir bekommen, müssen wir immer noch verteidigen. So gibt es zwar aus vielen Gründen einen bestimmten Respekt für die Idee der Kunst, doch genauso viel wird davon nur geredet und wenig tatsächlich getan.

W. Z.: Einige deiner Gedichte spielen auf besondere Ereignisse in der politischen Geschichte des Landes an, die die Situation von Frauen betreffen, wie z. B. "The Wounded Child", der Fall eines jungen Mädchens, das 1992 nicht nach England fahren durfte, um ein Kind abtreiben zu lassen, das es durch Vergewaltigung empfangen hatte. Viele andere beschreiben sehr ausdrucksstark weibliche Erfahrungen von heute oder machen auf die Rolle aufmerksam, die Frauen zum Beispiel in der Kunst spielten ("Not Your Muse"): Hast du den Eindruck, dass sich die Situation von Frauen in Irland in den letzten Jahren geändert hat?

Meehan: Die Gesetze haben sich verändert. Die Gesellschaft hat sich verändert. Innerhalb weniger Generationen haben wir uns von einem Land, in dem es die größten Familien Europas gab, zu einem Land entwickelt, in dem die Familien am kleinsten sind. Der Einfluss der Kirche befindet sich in den letzten Zügen. Und genau die Frauen haben diese Veränderung hauptsächlich vorangetrieben. Aber glaub mir, es wurde ihnen nichts geschenkt. Um jede einzelne Errungenschaft musste gekämpft werden. Veränderungen in der tiefen Psyche eines Volkes aber dauern lange. Sicher würden unsere Ururgroßmütter nur noch schwer ihren Weg durch die Stadt finden, aber genauso sicher würden sie ihre Ururenkelinnen doch noch wiedererkennen. Derselbe Geist. Ich glaube, dass die größte Herausforderung im Leben unserer Insel gegenwärtig darin besteht, einen Raum für unsere neuen Einwanderer und Einwanderinnen zu schaffen. Das ist eine wirklich aufregende Gelegenheit, das "Irischsein" zu erweitern und neu zu definieren. Es wird nigerianische, russische, rumänische Iren und Irinnen geben, um nur ein paar der neuen Zugewanderten zu nennen, dazu all die herzigen Kinder, die sie uns schenken werden. Das alles liegt an uns, wenn wir die Möglichkeit nicht verspielen und zu der rassistischen Ausrede für eine Republik werden.

W. Z.: Über den Prozess des "Dichtens": Wie entsteht ein Gedicht? Ist das ein längerer und kontinuierlicher Vorgang oder eher ein spontaner Ausdruck - und wer beeinflusste dich am meisten im Lauf deiner Entwicklung als Lyrikerin?

Meehan: Ich bin ein wenig abergläubisch, wenn ich darüber reden soll, wie meine Gedichte entstehen. Beim letzten Mal, als ich mich darüber ausließ, kam monatelang kein Gedicht zustande. Ich habe eine reizbare, eifersüchtige Muse, die es nicht mag, wenn ich über unser Privatleben spreche! Gary Snyder, amerikanischer Poet, Ökologe, Zen-Buddhist beeinflusste meine Arbeit auf einzigartige Weise, am tiefsten - und ich schreibe überhaupt nicht so wie er! Und sonst die üblichen verstorbenen irischen Kandidaten. Und die, die mich in Lyrik unterrichteten, einschließlich Brendan Kennelly und Eilean Ni Chuilleanean, als ich am Trinity College studierte; Jim McAuley war ein hervorragender Lehrer an der Eastern Washington University und ist ein allzu vergessener Poet aus Dublin. Die Generation von Frauen, die gerade vor mir publiziert wurden, prägte mich so tief, dass ich immer Sorge tragen muss, ihre Gedichte nicht einfach nachzuschreiben: Eavan Boland, Nuala Ni Dhomhnaill, Medbh McGuckian, Eithne Strong, Anne Hartigan. Sie kämpften um den Raum, den wir nach ihnen einfach einnehmen konnten. Meine zeitgenössischen Kollegen und Kolleginnen regen mich weiterhin an und erschrecken mich. Wie der vor kurzem verstorbene Poet Michael Hartnett meinte: "Es gibt keinen Poeten und keine Poetin, die ich nicht liebe." Ich lebe mit dem Herausgeber, Fernsehpräsentator und sehr talentierten Lyriker Theo Dorgan zusammen - in seiner Arbeit gibt es all diese wundervoll üppigen Munster-Zeilen. Eine völlig andere Tradition. Und einige, die Gedichte schreiben, sind mit mir befreundet oder unter denen, die mir nahe stehen, sind auch Leute, die Gedichte schreiben. Sicherlich ist ihr täglicher Einfluss so allgegenwärtig, dass er mir gar nicht mehr auffällt. Ich weiß, dass ich versuche, dem zu widerstehen, und ich lese viel amerikanische Lyrik und Lyrik in Übersetzungen. Das ist diese Insel-Sache - man könnte klaustrophobisch werden, wenn es keinen Weg gäbe, sich nach draußen zu öffnen und über die literarische Kultur des eigenen kleinen Fleckchens hinauszuschauen.

W. Z.: Du hast auch einige sehr erfolgreiche Bühnenstücke geschrieben: "Mrs. Sweeney", "Cell" usw. Wie unterscheidet sich das Schreiben eines Stückes vom Schreiben eines Gedichts? Hast du die gesamte Geschichte schon im Kopf, bevor du anfängst, oder entwickelt sich das während des Schreibens?

Meehan: An ein Stück kann ich mich jeden Tag setzen und daran arbeiten. Ich habe meistens eine Menge recherchiert, nicht unbedingt Aufzeichnungen oder Fakten, sondern einfach Verschiedenes, schon ein paar Jahre vorher. Im Kopf ist dann der grobe Plan der Geschichte, und manchmal sind da auch ganz konkrete Ideen für die Charaktere. Meistens aber jagen mich die Charaktere zum Teufel und übernehmen selbst das Ruder.

Wenn sie Blödsinn fabrizieren, übernehme ich für eine Weile wieder selbst das Steuer. Das Endprodukt ist eine Abmachung zwischen mir und den Charakteren. Ich merkte, dass da Geschichten waren, die ich nicht in Gedichte zwingen konnte, Geschichten, die nicht anders erzählt werden konnten, fast so, als benutzten mich die Charaktere selbst, um zu sprechen. Ich kann mich nicht jeden Tag hinsetzen und Gedichte produzieren, so viel Lyrik habe ich nicht in mir.

Freitag, 16. März 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:01:00

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum · AGB