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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Gedanken zum 110. Geburtstag von Kasimir Edschmid

Der ewig Zweitbeste

Von Hermann Schlösser

Das wenigste, was der Erzähler, Reiseschriftsteller und Feuilletonist Kasimir Edschmid im Laufe eines langen Arbeitslebens geschrieben hat, wird heute noch gelesen. Einzig als Expressionist ist der Autor ein Begriff geblieben. Sein Vortrag "Expressionismus in der Dichtung", in dem er 1917 das Programm der damals neuen Kunst formulierte, wird in Handbüchern und Lexika nach wie vor als exemplarischer Ausdruck einer kurzlebigen Epoche angeführt. Auch ist nicht vergessen, dass Edschmid 1918 als Mitglied des "Rates geistiger Arbeiter" und als Mitbegründer der "Darmstädter Sezession" eine Rolle bei der Entstehung des sozialdemokratisch regierten "Volksstaats Hessen" spielte. Und jede gängige Anthologie mit expressionistischer Prosa enthält auch die

eine oder andere Erzählung aus Edschmids Novellenbänden "Die sechs Mündungen", "Das rasende Leben" oder "Timur", die in den Jahren 1915 bzw. 1916 erschienen sind und den frühen Ruhm dieses Autors begründeten.

Drei bis vier bewegte Jugendjahre also waren es, die sich dem Gedächtnis der Nachwelt eingeprägt haben. Der Rest des überaus produktiven Lebens, das am 5. Oktober 1890 in Darmstadt begann und am 31. August 1966 in Vulpera im Engadin endete, liegt im Halbschatten des fast Vergessenen. Kurz

und bündig resümierte Manfred Braunecks "Autorenlexikon" schon im Jahr 1984: "E.s Werk ist so umfangreich wie unkommentiert, lediglich sein Frühwerk hat literarische Bedeutung."

Ganz und gar unbegründet ist dieses Vergessen nicht. Edschmid gehörte nämlich zu jenen Autoren, die man als "ewige Zweitbeste" bezeichnen könnte. So spannend viele seiner Romane und Erzählungen nämlich sind, so wenig erreichen sie die subtile Kunstfertigkeit Thomas Manns, die formale Originalität Döblins oder die unbedingte Eigenständigkeit Kafkas. Das Tempo und die zupackende Lebendigkeit, die Egon Erwin Kischs Reportagen durchgängig ausstrahlen, fehlen auch in Edschmids Reiseberichten nicht, doch werden sie oft durch ausufernde historische und geographische Exkurse beschwert, mit denen Edschmid die Zeilen zu füllen pflegte. Und obwohl er lebenslang imstande war, Feuilletons und Rezensionen zu verfassen, die weit über der Durchschnittsqualität einer normalen Tageszeitung lagen, blieb er doch hinter der analytischen Präzision Siegfried Kracauers, der poetischen Dichte Joseph Roths, der denkerischen Gründlichkeit Walter Benjamins oder Robert Musils zurück.

Von Autoren wie Erich Maria Remarque, Vicky Baum oder Norbert Jacques, die in der so genannten "gehobenen Unterhaltungsliteratur" reüssierten, unterschied sich Edschmid schließlich dadurch, dass ihm niemals ein Bestseller gelang, dessen Popularität mit "Im Westen nichts Neues", "Menschen im Hotel" oder "Dr. Mabuse der Spieler" zu vergleichen gewesen wäre.

Wer also glaubt, er habe als Leser ausschließlich Anspruch auf das anerkannt Beste, muss sich mit Kasimir Edschmid vielleicht wirklich nicht befassen. Wer aber eine Ahnung davon hat, welcher Kräfte und Energien es bedarf, 50 Jahre lang Texte von einiger Qualität zu produzieren und zu veröffentlichen, wird die Lebensarbeit dieses Autors mit Respekt und Interesse zur Kenntnis nehmen können: In einem Schreibprozess, der 1911 mit dem Gedichtband "Verse, Hymnen und Gesänge" begann und 1965 mit einer Laudatio auf Günter Grass, den umstrittenen jungen Büchner-Preisträger, endete, brachte Edschmid 92 Buchpublikationen hervor, darunter einige von beträchtlichem Umfang. Hinzu kamen Rezensionen, Essays, Gebrauchsprosa aller Art, so dass eine 1970 erschienene Bibliographie 677 Titel nachweisen konnte.

Allerdings ist Edschmids Schaffen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ beeindruckend: Als Reporter und als Reiseschriftsteller zeigte er sich in Texten wie "Basken, Stiere, Araber", "Zauber und Größe des Mittelmeers", "Glanz und Elend Südamerikas" u. a. immer wieder als scharfer Beobachter fremder Länder und Menschen. Als Romancier beherrschte Edschmid ein breites Repertoire erzähltechnischer Möglichkeiten und damit zugleich eine Fülle unterschiedlicher Themen. Insbesondere seine historischen Romane "Lord Byron", "Georg Büchner" und "Der Marschall und die Gnade" - ein Bolivar-Roman -, sind allen Liebhabern so genannter "Romanbiographien" nach wie vor zu empfehlen.

Als Feuilletonist bewährte er sich zeitlebens als wacher und gut informierter Kritiker seiner Zeit und ihrer Kunst. Vor allem in jungen Jahren war er für seine scharfen Urteile als Literaturkritiker der berühmten "Frankfurter Zeitung" bekannt, doch verfügte er auch über ein genuines Interesse und einen genauen Blick für die Malerei seiner Generationsgenossen wie etwa Max Beckmann.

So ließen sich noch mehrere Schriften aufzählen, die der Beachtung wert wären. Allerdings: Das "Zweitbesten-Problem" kommt einem dabei immer wieder in die Quere. Denn wenn auch kaum ein Buch Edschmids ganz und gar misslungen ist, so ist auch kaum eines restlos gelungen. Stattdessen findet man überall neben scharf beobachteten, sprachlich dicht gearbeiteten Passagen auch ausnehmend schwache Sätze.

Der Profi

Diese Textfülle mit all ihren Mängeln und Qualitäten verdankt sich vor allem der Tatsache, dass Edschmid die Schriftstellerei professionell betrieb. Niemals übte er neben seiner publizistischen Arbeit einen "Brotberuf" aus. Das unterschied ihn von literarisch exklusiveren Zeitgenossen wie Franz Kafka, der seinen Lebensunterhalt als Versicherungsjurist verdiente, oder Alfred Döblin und Gottfried Benn, die beide Arztpraxen betrieben, weil sie von ihrer Dichtung alleine nicht hätten leben können. Benn charakterisierte den Lebens- und Arbeitsstil des Nebenerwerbsschriftstellers einmal mit den Worten: "Dir geht es gut - außen verdienst du dir dein Geld und innen gibst du deinem Affen Zucker, mehr kann nicht sein, das ist die Lage, erkenne sie, verlange nicht, was unmöglich ist!"

Unmögliches verlangte auch Edschmid nicht. Er begriff sehr früh, dass ein freier Schriftsteller nur existieren kann, wenn seine Produktion sich verkauft, und er stellte seine Arbeit von Anfang an auf die Erfordernisse des Marktes ein. Außerdem organisierte er die Entstehung und Verbreitung seiner Schriften zeitlebens sehr effizient, was auch eine tätige Bemühung um die "Propaganda" einschloss, wie man die Reklame in den zwanziger Jahren gerne nannte.

Die Aufteilung von literarischem "Innen" und erwerbsbürgerlichem "Außen" war Edschmids Sache also nicht. Ein Doppellleben, wie Gottfried Benn es für sich entwarf, kam für ihn niemals in Frage, da er zwischen Berufung und Beruf keinen Unterschied gelten ließ. Er wollte nicht nur für die Literatur leben, sondern auch von ihr, und zwar in angemessenem Wohlstand. Dieses Ziel hat er im Wesentlichen erreicht. Dass dies allein schon eine beträchtliche Leistung war, wird niemand bezweifeln, der mit den Fährnissen des freiberuflichen Publizierens einigermaßen vertraut ist.

Stiefkind der Germanistik

Die germanistische Sekundärliteratur zu Edschmid hat für die professionellen Qualitäten des Autors allerdings wenig Verständnis übrig. Einige Wissenschaftler gehen sogar so weit, den Autor wegen allzu großer Geschäftstüchtigkeit aus dem Kanon der ernstzunehmenden Autoren auszuschließen.

In seinem umfangreichen Forschungsbericht zum Expressionismus meinte Richard Brinkmann 1980, Edschmid sei "weit überschätzt" und von der Kritik nur beachtet worden, weil er "unermüdlich als seine eigene Werbeagentur tätig war." Und Armin Arnold stellte 1972 in seinem Buch "Prosa des Expressionismus" fest: "Edschmid war einer der gewiegtesten literarischen Businessmen dieses Jahrhunderts." Auch dies war nicht als Kompliment gemeint, sondern leitete die umfassendste Vernichtung ein, die nach dem Tod des Autors erschienen ist.

Mit dieser Abneigung gegen einen kommerziell erfolgreichen Autor mag es auch zusammenhängen, dass die neuere germanistische Forschung das Leben und Werk Edschmids auch dort nur in Fußnoten, kursorischen Verweisen und - eher kritischen - Aperçus thematisiert hat, wo sie sich nicht eigentlich auf literarische Spitzenleistungen beschränkt. Sehr viel ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Literatur während der Weimarer Republik, zur Zeit des Nationalsozialismus und der "inneren Emigration", während des Wiederaufbaus nach 1945 und der fünfziger Jahre in Deutschland geforscht worden.

In all diesen Zusammenhängen hätte auch von Kasimir Edschmid mit Gewinn die Rede sein können. Denn er hatte auf seine Weise teil an allen literarischen Strömungen, die in Deutschland während der ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts en vogue waren: Vom Fin-de-Siècle-Ästhetizismus seiner frühen Gedichte, über den rasenden Vitalismus seiner expressionistischen Novellen, hin zur energischen Eleganz seiner Sport- und Reiseromane der zwanziger Jahre bis hin zur bildungsgesättigten und -gesicherten Altersruhe seiner späten Prosa.

Das größte Problem

Freilich stand der Beschäftigung mit Edschmid nicht nur die akademische Abneigung gegen Broterwerbsschreiber im Wege. Das Desinteresse ist darüber hinaus auch eine Begleiterscheinung jenes folgenreichsten Generationenwechsels der bundesdeutschen Geschichte, der bis zum heutigen Tag mit der Jahreszahl 1968 identifiziert wird. Dass dieser markante Einschnitt in den Bereichen der Kultur seine nachhaltigsten Folgen zeitigte, ist bekannt und gilt auch für die Literaturwissenschaft. In den sechziger, siebziger und frühen achtziger Jahren wurde die Geschichte der deutschen Literatur nämlich "nach links gewendet" - um es mit dem Titel einer kleinen Broschüre zu sagen, die Gert Mattenklott 1980 veröffentlicht hat. "Nach links gewendet", das heißt, man besann sich auf all die Literaturen, die bis dahin von einer mehrheitlich konservativen Germanistik missachtet und totgeschwiegen worden waren. Im Rückgriff auf die sogenannten "deutschen Jakobiner", die Vormärz-Literaten, die Barrikadenkämpfer von 1848, die revolutionären Räte von 1918, den antifaschistischen Widerstand und die kämpferische Publizistik der Exilliteratur versicherte man sich einer Tradition, in der man jenes "bessere Deutschland" verkörpert sah, dem man sich selbst auch zurechnete.

Der sehr weite Literatur- und Kulturbegriff, der sich im Laufe dieser Studien entwickelte, hatte potenziell Raum für alles, nur für eines nicht: Für die geistesaristokratische, kulturkonservative, wertbewusste deutsche Dichtung, die das literarische Klima Deutschlands bis weit in die fünfziger Jahre hinein bestimmt hatte. Dichter wie Werner Bergengruen, Hans Carossa, Frank Thiess, Rudolf Alexander Schröder und - als prominentester von allen - Gottfried Benn sollten in der Kultur des besseren Deutschland nicht mehr vertreten sein.

Die Gründe für diesen Ausschluss waren vor allem moralisch-politischer Natur: Man nahm Anstoß an dem Widerspruch, der zwischen der demonstrativ zeitentrückten Pose der Dichter und ihrer zeithistorischen Verstrickung bestand. Keiner der genannten Autoren hatte Deutschland während des Nationalsozialismus verlassen. Und die Frage, wie sie in Zeiten des Terrors und der Buchzensur als Schriftsteller weiterhin arbeiten konnten, pflegten sie mit dem Hinweis zu beantworten, sie hätten in der "inneren Emigration" gelebt.

Auch Edschmid war im nationalsozialistischen Deutschland geblieben. Die Schwierigkeiten, mit denen er konfrontiert war, hat er 1946 in dem Roman "Das gute Recht" geschildert. Wie ihm später nachgewiesen wurde, hat er dabei einiges verschwiegen und retuschiert. Und doch vermittelt dieser Roman einen lebendigen Eindruck von jenem Klima der Verdächtigungen und der kleinlichen Schikanen, das während des zweiten Weltkriegs in Deutschland herrschte.

Der Generation, die im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen ist, hatte freilich mit Erzählungen aus dem Inneren der Hitler-Diktatur keine Geduld. Da sie einzig den Gang ins Exil als ehrenhafte Option akzeptierte, verblassten die Schwierigkeiten und Leiden der Gebliebenen in den Augen der Nachgeborenen zur Bedeutungslosigkeit.

Wie immer man diese Parteinahme beurteilen mag - sicher ist, dass auch sie den Nachruhm Kasimir Edschmids beschädigt hat. Denn im Vergleich zu seinen emigrierten Altersgenossen schnitt er, wie alle Daheimgebliebenen, schlecht ab: Zwar kein Nationalsozialist, aber auch kein Widerstandskämpfer oder Emigrant - mit dieser Biographie geriet er auch moralisch in die Position des Zweitbesten. Eine andere scheint ihm die Nachwelt einfach nicht zugestehen zu wollen.

Literaturhinweis:

Im "Kranichsteiner Literaturverlag", Pfungstadt, ist Edschmids spätexpressionistischer Roman "Die achatnen Kugeln" als Reprint wieder aufgelegt worden. Er erzählt die rasende Lebensgeschichte einer Kanadierin namens Daisy, die von ihrem Erfinder durch alle nur denkbaren Lebenssensationen gejagt wird.

Freitag, 06. Oktober 2000 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:03:00

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