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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Pat Barker und ihre Romantrilogie über den Ersten Weltkrieg

Barker, Pat: Schwarzes Gelächter im Schützengraben

Von Wera Reusch

Ihr Blick ist vorsichtig, fast schüchtern, so, als könne sie sich das Interesse an ihrer Person nicht so recht erklären. Ein sympathisches Understatement, denn tatsächlich gehört Pat Barker zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren Großbritanniens, und seit sie 1995 den renommierten Booker-Preis erhielt, wurden auch internationale Verlage auf sie aufmerksam. Die deutschsprachigen Leser mussten sich allerdings etwas gedulden, wollten sie den preisgekrönten Roman "Die Straße der Geister" lesen. Denn bei dem jetzt erst auf deutsch erschienenen Buch handelt es sich um den Abschluss einer Romantrilogie über den 1. Weltkrieg, weshalb zunächst die beiden ersten Bände "Niemandsland" (dt. 1997) und "Das Auge in der Tür" (dt. 1998) übersetzt wurden.

"Regeneration-trilogy" nennt Pat Barker selbst ihr Hauptwerk. Ein Begriff, der die außergewöhnliche Perspektive benennt, die die Autorin für ihre literarische Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg gewählt hat: "Die Trilogie versucht, etwas über die Aspekte des Krieges zu erzählen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht auftauchen", sagt Pat Barker. "Soldaten passiert üblicherweise zweierlei: entweder sie kommen um, oder sie kommen zurück und sind mehr oder weniger in Ordnung. Ich konzentriere mich auf diejenigen, die zwar zurück kommen, aber körperlich verletzt oder psychisch traumatisiert sind. Und ich beschäftige mich mit Menschen, die versuchen, Soldaten zu helfen, die Granatschocks erlitten haben."

Gespräche mit Traumatisierten

In "Die Straße der Geister" treffen wir die Protagonisten der beiden ersten Bände wieder. Da ist zunächst der Psychiater William Rivers, dessen Arbeit bereits in "Niemandsland" im Mittelpunkt stand. Seine Patienten leiden erbärmlich. Sie stottern oder sind verstummt, leiden unter Lähmungen oder ständigem Erbrechen, halluzinieren und sind hysterisch. Anstatt sie wie sonst üblich mit Elektroschocks zu behandeln, setzt der Militärpsychiater Rivers auf Gespräche. Nur eine schrittweise Erinnerung des Grauens kann seiner Überzeugung nach zur Genesung führen. "Rivers ist eine der Personen, die es wirklich gab", erzählt Pat Barker, die für ihre Trilogie jahrelang in Bibliotheken recherchierte. "Er war Psychiater und ging 1915, sobald es ging, zur Armee. Vor dem Krieg war er Ethnologe, aber während des Krieges arbeitete er als Mediziner für die Armee. Er war sehr menschlich, sehr einfühlsam und aufgewühlt von dem Leiden, das er sah. Er stand dem Krieg sehr skeptisch gegenüber, aber gleichzeitig fühlte er sich nicht in der Lage, zu sagen: Nein, Stopp."

Rivers, eine "männliche Mutter", wie ihn einer seiner Patienten in "Niemandsland" nennt, schafft es mit seiner respektvollen Anteilnahme tatsächlich, dass sich die Soldaten langsam regenerieren. Einfühlsam und humorvoll schildert Barker die intellektuellen Debatten, die psychologischen Entwicklungen und die sexuellen Untertöne dieser rein männlichen Welt eines schottischen Militärkrankenhauses 1917. Rivers verkörpert jedoch nicht nur eine moderne psychologische Perspektive sondern auch ein zeitloses moralisches Dilemma, denn als Armeearzt heilt er seine Männer, um sie anschließend wieder in den Wahnsinn zu schicken. Ein Konflikt, der sich im dritten Band "Die Straße der Geister" so sehr zuspitzt, dass der Psychiater selbst kurz vor dem Zusammenbruch steht. In fiebrigen Träumen erinnert er sich an seine ethnologischen Forschungen unter Kopfjägern in Melanesien und sehnt sich nach Ritualen, um die unheilvollen Geister des Krieges zu vertreiben.

Doch der Krieg geht weiter. Es ist inzwischen Sommer 1918, und Rivers Patienten werden noch in den letzten Tagen des Krieges an der Front sterben. In einem dramatischen Finale führt Pat Barker die verschiedenen Stränge des Buches zusammen: Die sinnlosen Opfer an der Front und den aussichtslosen Kampf der Mediziner in einem Londoner Krankenhaus. "Sisnichwer" flüstert einer von Rivers Patienten noch bevor er stirbt: "Es ist's nicht wert."

Warum hat sich Pat Barker, die an der renommierten London School of Economics studierte und als Dozentin für Geschichte und Politik arbeitete, für den Ersten Weltkrieg entschieden? "Weil er stellvertretend für andere Kriege stehen kann", erklärt sie. "Kennzeichnend war diese sehr idealistische Reaktion der jungen Menschen im August 1914, sowohl in Deutschland als auch in England. Sie dachten wirklich, dieser Krieg wäre der Beginn einer besseren Welt. Und dann die Desillusionierung, der Horror und der Schmerz. Ich glaube, dass er deshalb stellvertretend für den Schmerz aller Kriege steht." Der Erste Weltkrieg als Mutter aller Schlachten? Pat Barker lacht, "ja, ja, jedenfalls in sehr viel stärkerem Maße, als dies beim Golfkrieg der Fall war".

Pat Barker weist darauf hin, dass bis heute Kriege geführt werden wie seinerzeit der Erste Weltkrieg, und sie erinnert an den Krieg zwischen Iran und Irak: "Da gab es auch ein Schützengrabensystem und zwei Regierungen, denen es völlig egal war, wieviele Menschen sie in die Schützengräben warfen, einfach immer mehr und mehr und mehr."

Schocks nach Verzögerung

Ob sie glaube, dass es in den so genannten modernen Kriegen ähnliche Traumatisierungen gäbe? "In einem weit größeren Ausmaß als viele glauben", sagt Pat Barker. "Auch der Golfkrieg zog zum Beispiel viele psychische Störungen nach sich, sie treten jedoch erst mit zeitlicher Verzögerung zu Tage." Ein Phänomen, das sich bei allen Kriegen beobachten lasse: "Was den Ersten Weltkrieg betrifft, war die höchste Rate von Zusammenbrüchen in England 1929, also etwa zehn Jahre später. Und es scheint ein Muster zu sein, dass die Menschen, wenn ein Krieg vorbei ist, lange Zeit nicht darüber nachdenken oder sprechen wollen. Das Schweigen wird erst allmählich gebrochen, man beginnt darüber zu reden, und dabei wird erst die ganze Dimension deutlich."

fEs ist die Frage, wie Menschen nach Traumatisierungen weiterleben können, die Pat Barker interessiert. Und mit ihrem psychologisch-anthropologischen Ansatz hat sie nicht nur den literarischen Umgang mit dem Thema Krieg neu bestimmt, ihr ist es auch gelungen, einen überraschend modernen Zugang zu einem historischen Stoff zu schaffen. "Ein historischer Roman zwingt einen dazu, sich die ganze Zeit zu fragen, was ist das Unveränderliche in der menschlichen Natur? Darüber muss man schreiben, sonst interessiert sich sowieso niemand dafür", stellt Pat Barker fest. "Und ich glaube, was nach wie vor relevant ist, ist die Haltung der Menschen zum Krieg und zu dem Leiden, das ein Krieg verursacht."

Die heute 57-jährige Schriftstellerin begann erst relativ spät zu schreiben. Angela Carter ermutigte sie und empfahl ihr, Stoffe zu wählen aus Milieus, in denen sie sich auskenne. Und was Pat Barker aus eigener Anschauung am besten kannte, war die Welt der nordenglischen Frauen aus der Arbeiterklasse, alleinerziehende Mütter, die versuchen, sich und ihre Kinder mit Fabrikjobs durchzubringen, Frauen, die Imbissbuden betreiben, putzen gehen oder als Prostituierte arbeiten. Dreizehn Jahre lang versuchte sie vergeblich, ihre Manuskripte zu verkaufen. 1982 erschien dann endlich ihr erster Roman "Union Street" im feministischen Verlag Virago. Ein Roman, der 1989 unter dem Titel "Stanley and Iris" mit Robert de Niro und Jane Fonda verfilmt wurde.

Auch in den folgenden Romanen standen Frauen aus der Arbeiterklasse im Mittelpunkt, Protagonistinnen also, die in der englischen Literatur üblicherweise keine zentrale Rolle spielen. Aufgrund ihrer Themen und aufgrund der Tatsache, dass Barker selbst nicht dem britischen Establishment entstammt, wurde sie lange Zeit von der Literaturkritik kaum wahrgenommen. Die ewige Frage lautete: "Können Sie auch Männer?" Eine ignorante Bemerkung, die sie ärgerte ("wie wenn Männer eine Art Everest wären!") und die sie mit der "Regeneration-trilogy" beantwortete.

Direkt und unsentimental ist ihre Sprache, mit der sie in all ihren Romanen die Bedeutung von Geschlecht, Klasse und Sexualität benennt und in allen Facetten beschreibt. In der Trilogie sind diese Dimensionen am deutlichsten in der fiktiven Figur des Billy Prior. Prior ist ein Leutnant, dem der Krieg einen Aufstieg aus ärmlichen Verhältnissen ermöglichte und der sich nun in der Armee mit der Arroganz der Oberschicht, der Offiziersklasse konfrontiert sieht. "Prior ist eine Person, die ich erfunden habe, um Rivers Charakter besser ergründen zu können. Prior ist Arbeiterklasse, sexuell etwas ambivalent, und er kann Rivers in jeder Hinsicht provozieren", erklärt Pat Barker. "Die Dramatik zwischen diesen beiden völlig unterschiedlichen Personen ist ein Strang der Trilogie. Sie entwickeln tatsächlich Respekt und Zuneigung füreinander, aber es ist ein sehr steiniger Weg." Prior ist jedoch nicht nur ein Antipode Rivers, er ist durch seine aufreizende Art und nicht zuletzt durch seine zahlreichen Verhältnisse mit Männern und Frauen eine der schillerndsten Figuren der Triologie.

Keine Angst vor Tabus

Ist es für eine Autorin nicht schwierig, über Sexualität aus der Perspektive von Männern zu schreiben? "Es war mir ein Vergnügen über Prior zu schreiben!" sagt Pat Barker, "und seine Sexualität gehört dazu. In der damaligen englischen Oberschicht herrschte die Ansicht, dass Sex etwas sei, was man in der Unterschicht mache, da es der tierischen Seite der eigenen Natur zugerechnet wurde. Prior ist sich dessen voll bewusst, er spielt damit und reizt es aus. Gleichzeitig verachtet er dieses Verhalten zutiefst, denn er fühlt sich den Jugendlichen der Arbeiterklasse zugehörig, die für eine bestimmte Art von Männern nichts anderes sind als ein Spermien-Spucknapf!" Pat Barker lacht. Ihre Offenheit ist ungewöhnlich, sie nennt die Dinge beim Namen und scheut sich nicht vor Tabus. Ihr Vorstellungs- und Einfühlungsvermögen ist bewundernswert, sie hat jedoch der Versuchung widerstanden, einen historisierenden Stil zu wählen.

"Ich habe absichtlich eine Sprache vermieden, wie sie zumindest in unseren Schützengräben verwendet wurde, diese Art von, nun ja, Humor, aber nicht der Humor, den wir heute schätzen würden, ein absurder, fürchterlich fiebriger Humor" sagt Pat Barker. "Man kann diese Sprache einfach nicht mehr verwenden. Ich glaube man sollte historisch korrekt sein, aber sehr darauf achten, die Leser nicht mit offensichtlich archaischen Ausdrücken abzuschrecken, die ihnen den Eindruck vermitteln, die handelnde Person wäre völlig anders, denn tatsächlich ist diese Person wahrscheinlich nicht sehr viel anders als wir es heute sind." Es ist ein moderner und ein sehr britischer Humor, den Pat Barker verwendet, ein Humor, der vor allem in den zahlreichen Dialogen großartig entwickelt wird. "Es ist ein schwarzer Humor, eine Art Schützengrabenhumor. Ja, es gibt eine Art schwarzes Gelächter, das die andere Seite der Verzweiflung darstellt."

Dieser Humor ist auch kennzeichnend für die Heimatfront, die vor allem im zweiten Teil der Trilogie, "Das Auge in der Tür", porträtiert ist: Junge Frauen, die in der Rüstungsindustrie arbeiten, Kriegerwitwen, die ihre Freiheit genießen, Pazifistinnen, die Deserteure verstecken oder im Gefängnis sitzen. "In vielen Büchern, die Männer über Kriege schreiben, sind die Frauen völlig stumm. Die Männer ziehen los und kämpfen, die Frauen bleiben zu Hause und heulen. Das ist das typische Muster", so Pat Barker. "Die Frauen der Trilogie haben eine tiefe Bedeutung, und was immer sie sagen, in welcher Sprache auch immer, es ist dazu gedacht, dass man ihnen sehr genau zuhört", und sie weist auf eine Schlüsselszene hin, in der sich Arbeiterinnen über die Sanktionen für Abtreibungen unterhalten, während sie Patronengürtel füllen. "Der Massenmord ist rechtens, ein Kind, das vor die Hunde geht, Unrecht", so die Moral, und die Frauen reagieren mit Gelächter auf die Tatsache, dass sie auf absurde und widersprüchliche Weise in die Kriegs-

logik involviert sind. "Die Frauen sind zwar keine Protagonistinnen, aber sie sind ganz zentral."

Sie habe nach dem Erscheinen der Trilogie sehr viel Post von Lesern bekommen, erzählt Pat Barker. Unzählige Briefe von Psychiatern und anderen, die mit dem Thema psychische Gesundheit befasst seien, und die sich mit Rivers identifiziert hätten. "Eine andere typische Reaktion kommt von Menschen, die von ihren Vätern oder Großvätern aufgezogen wurden, die im Ersten Weltkrieg gekämpft haben, und diese, inzwischen natürlich alten Menschen, sagen: ,Ich verstehe jetzt zum ersten Mal, was mein Vater damals durchgemacht hat, und warum er so war, als er mich in den 20er Jahren erzogen hat.´ Denn diese Männer kamen zurück, waren nervlich fertig, sehr gewalttätig und unberechenbar für ihre Familien, bis sie darüber hinweg kamen. Am meisten berühren mich die, die sagen: ,Ich habe ihre Bücher gelesen, und jetzt kann ich meinem Vater verzeihen.´ Das heißt schon etwas."

Zurückgezogenes Leben

Trotz des großen Erfolgs der Trilogie hat Pat Barker ihren Lebensstil nicht geändert. Sie scheut die Medien und lebt mit ihrem Mann zurückgezogen in Durham, im Norden Englands. "Another World" ist dort seither entstanden sowie ein weiterer Roman, der bald erscheinen wird. Mit ihren jüngsten Büchern ist Pat Barker zu zeitgenössischen Plots zurückgekehrt. Ist das Kapitel Erster Weltkrieg abgeschlossen? "Ich hoffe und bete, dass der Erste Weltkrieg jetzt abgeschlossen ist", lacht Pat Barker. Sie kann sich für die Zukunft aber durchaus wieder historische Romane vorstellen: "Es spricht einiges dafür, über Geschichte zu schreiben. Manchmal kann man ein zeitgenössisches Dilemma durch einen historischen Roman besser darstellen. Die Menschen sind dann offener dafür, wissen nicht automatisch, was die Figuren denken. Während, wenn man ein zeitgenössisches Thema sehr direkt anschneidet, aktiviert man manchmal nur bestehende Vorurteile. Ich glaube, dass der historische Roman eine sehr wertvolle Hintertür zur Gegenwart ist."

Pat Barker: Die Straße der Geister. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München Wien 2000. 256 Seiten.

Die beiden ersten Bände der Trilogie erschienen gebunden ebenfalls bei Hanser, inzwischen gibt es von "Niemandsland" eine dtv-Taschenbuchausgabe. "Das Auge in der Tür" wird im August als Taschenbuch erscheinen, ebenfalls bei dtv.

Zwei von Barkers früheren Romanen, "Union Street" und "Lockvögel", erschienen ursprünglich im Orlanda-Verlag und sind inzwischen als Fischer TB erhältlich.

Freitag, 18. August 2000 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:18:00

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