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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Über Albert Vigoleis Thelen und sein Hauptwerk „Die Insel des zweiten Gesichts"

Thelen, Albert Vigoleis: Im Flittergewirr der Erinnerungen

Von Klaus-Jürgen Hermanik

„In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit." Dieses Motto stellt Albert Vigoleis Thelen seinem autobiographischen Roman „Die Insel des zweiten Gesichts" voran,
dem geneigten Leser die Entscheidung überlassend, was denn nun wahr sein möge an der mit Geschichten und Geschichtchen prall gefüllten Rückschau. Die Insel, wie das Buch von Thelen-Kennern und -
Liebhabern kurz genannt wird, ist 1953 erstmals erschienen. Die Romanhandlung erstreckt sich vom Jahr 1931 bis zum Jahr 1936. Sie spielt auf der spanischen Ferieninsel Mallorca, auf die es Thelen mit
seiner Lebensgefährtin Beatrice verschlagen hat. Der Tragelaph, ein mythisches Zwitterwesen, ein Ziegenbockhirsch, bestimmt leitmotivisch das literarische Wechselspiel zwischen dem Autor Thelen
und Vigoleis, seinem Alter Ego, dem Romanhelden. In der vom Autor selbst verfassten Leseanweisung zur Insel, die dem Buch vorangestellt ist, wird das bereits hervorgehoben: „Alle Gestalten
des Buches leben oder haben gelebt. Hier treten sie jedoch nur im Doppelbewußtsein ihrer Persönlichkeiten auf, der Verfasser einbegriffen."

Das Kräftespiel zwischen Wirklichkeit und Fiktion, das sich bei den meisten Schriftstellern und deren Künstlerexistenz auf die Literatur beschränkt, ist im Falle Thelens durch die Annahme des zweiten
Vornamens Vigoleis noch weiter in den Alltag vorgedrungen, als es eine bloße Autobiographie in rein literarischer Form zu leisten vermag: Vigoleis ist kein Taufname Thelens, sondern er stellt eine
Abwandlung des Namens Wîgalois dar, der Hauptfigur eines gleichnamigen Epos des Wirnt von Gravenbergh aus dem 13. Jahrhundert. Thelen hat diesen mittelalterlichen literarischen Helden während eines
Sprachseminars an der Universität Köln kennen gelernt und sich daraufhin seinen zweiten Vornamen Vigoleis zurechtgelegt; das Rad übrigens, das der tugendhafte Ritter Wîgalois als Helmzier trägt,
deutete Thelen, der pikareske Schriftsteller, der trotz aller Tragik seines Daseins niemals auf den Humor vergaß, für sich als „Rädchen im Kopf". Wie sehr im späteren Leben Thelens dieser
zweite Vorname Vigoleis an Bedeutung gewann, mag man daraus ersehen, dass A. V. Thelen nur noch mit „+Vigoleis" unterschrieben hat · immer mit einem Kreuzchen davor.

„Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis"·Will man sich diesen Untertitel der Insel ein wenig im Munde zurechtlegen, ist man auch schon mittendrin im wunderbaren Flittergewirr der
Erinnerungen des Vigoleis, die folgendermaßen angewandt werden: „Als Schriftsteller und noch mehr als Übersetzer", schreibt A. V. Thelen, „arbeite ich ohne Zettelkasten, ja ohne das kleinste
Merkzettelchen, weil ich im Notfall ja doch nicht wüßte, unter welches Stichwort ich dies oder jenes eingereiht habe." Dieses scheinbar freie Reminiszieren und gleichsam Fabulieren lässt die Texte
Thelens so prall anschwellen. Der Leser blickt durch ein farbenfrohes Kaleidoskop, das einen illustren Querschnitt der Bevölkerung Mallorcas zu Beginn der dreißiger Jahre wiedergibt: Es schließt
Bettler und Huren, Philosophen und Dichter, Anarchisten und Hochstapler ebenso mit ein wie den Autor A. V. Thelen in seiner Doppelgestalt Vigoleis.

Diese Insel-Geschichten sind obendrein mit autobiographischen Erinnerungen des Autors gespickt, die durch den schelmenhaften Grundton Thelens, der nicht an humoresker Selbstkritik spart, eine Fülle
an brillanten Histörchen ergeben, freilich auch gestützt durch Thelens erzählerische Hingabe und seinen wahrlich erstaunenswerten Wortschatz, der durchschnittliche literarische Produktionen bei
weitem übertrifft.

Im Focus des Textes bleibt in jedem Fall der vielfach gewundene Lebensweg des Autors: Albert Thelen wurde 1903 in Süchteln, einem kleinen Ort am Niederrhein, als Sohn einer kleinbürgerlichen
katholischen Familie geboren. Bereits am Gymnasium in Viersen begann sich der Beginn eines nicht alltäglichen Lebenslaufes abzuzeichnen: A. Thelen stand auf, als es hieß: „Alle Dummköpfe
aufstehen!" Der Schulleiter hielt zum Leidwesen des Knaben an dieser Torheit fest und als die gesamte Klasse Thelens im Weltkriegsjahr 1918 zum Brennesselsammeln ausrücken musste, hatte er in der
Klasse zu verbleiben, um stundenlang zu schreiben: „Ich bin ein nationaler Dummkopf." Nach seinem Schulabbruch absolvierte Thelen ab 1919 drei Jahre die Lehre als Schlosser in der Süchtelner
Samt- und Seidenweberei. Anschließend arbeitete er für ein Jahr als Zeichner in einer Zentrifugenfabrik, doch die Belastung wurde für ihn langsam zu groß, weil er des Nachts, oft bis in die
Morgenstunden, über Büchern zu hocken pflegte.

Im Anschluss an eine längere Krankheit durfte A. Thelen im Jahr 1924 wegen großer Begabung mit einem kleinen Matrikel an der Universität in Köln ein Studium beginnen, wo er Philosophie, Germanistik,
Kunstgeschichte und Zeitungswissenschaften belegte. In der Stadt am Rhein lernte er bei einer Presseausstellung 1928 auch seine spätere Frau Beatrice, die neben Vigoleis auch als Heldin seiner Bücher
auftritt, kennen. Sie war schweizerischer Herkunft · eine Burckhardt mit ck und dt, wie Thelen betonte ·, mütterlicherseits stammte sie von den Inka ab.

In Mallorca und anderswo

Thelen, der sich nunmehr A. V. nannte, und seine Lebensgefährtin Beatrice übersiedelten 1931 nach Mallorca. Dort haben sie während eines Ausfluges aufs Festland nach Barcelona geheiratet.
1936 mussten sie aufgrund des Bürgerkrieges fliehen, da der Antifaschist Thelen schon mehrere Jahre unter dem Pseudonym Leopold Fabrizius in Zeitschriften gegen Hitlerdeutschland polemisiert hatte.
Sie gelangten auf einem englischen Zerstörer nach Marseille und fuhren weiter in die Schweiz. In Basel entkamen sie nur knapp den grenzübergreifenden Fangarmen der Gestapo und sie ließen sich
daraufhin in einer Almhütte in Alessio im Tessin nieder. 1939 verließ das Ehepaar endgültig die Schweiz und eine abenteuerliche Flucht über Frankreich und Spanien führte sie nach Portugal auf das
Weingut des Mystikers Teixeira da Pascoaes. Die Thelens mussten diese neue Heimat 1947 zwangsweise verlassen, da das portugiesische Regime annahm, Thelen wäre Kommunist gewesen, da er sich gegen
Nazideutschland gewandt hatte. Über die Schweiz ging es diesmal nach Holland, da Thelen dort bereits vor und auch während der deutschen Besatzung viele Freunde gehabt hatte.

In diesen Amsterdamer Jahren verfasste A. V. Thelen die Insel, in nur neun Monaten in den Jahren 1952 und 1953, auf einem umgedrehten Abfalleimer als Sitzgelegenheit. Der holländische Verleger
C. A. van Oorchot hatte die Veröffentlichung dieses Erinnerungswerkes angeregt und es ging in holländischer Sprache · A. V. Thelen hatte einen holländischen und einen deutschen Text verfasst ·
bereits in Druck, als van Oorchot noch Lizenzträger für eine deutschsprachige Ausgabe suchte, ehe sich nach zähen Verhandlungen der Diederichs-Verlag dazu durchrang, als Erstauflage 2.000 Stück in
deutscher Sprache herauszubringen. Die Insel ist somit kurioserweise in den Niederlanden und in Deutschland fast zur gleichen Zeit erschienen. Ab dem Jahr 1954 lebte das Ehepaar wiederum in der
Schweiz, zuerst in Ascona (bis 1960) und dann in Blonay s/Vevey, als Hausmeister auf unterschiedlichen Landsitzen einer mexikanischen Millionärin; Thelen bezeichnete sich ironischerweise als
„Diebsverbeller", denn Geld sahen die Thelens für ihre Tätigkeit niemals, nur die Miete war in all den Jahren umsonst. Der Schriftsteller lebte aus den spärlichen Einkünften seiner Literatur
und seiner Übersetzungen, Beatrice Thelen hat daneben immer wieder mit Klavier- oder Sprachunterricht das Haushaltsbudget auffetten müssen. Im Jahr 1973 zogen die Thelens in eine kleine Wohnung am
Genfer See in der Nähe von Lausanne, die sie erst im hohen Alter aus gesundheitlichen Gründen · A. V. Thelen war schon beinahe erblindet · verlassen mussten. 1986 nahm das Paar das Angebot der Stadt
Viersen an, in ein Altenheim zu ziehen und kehrte somit nach 55-jährigem Exil endgültig nach Deutschland zurück. Mag sein, dass die späten Ehrungen Thelens (1984 Professorentitel, 1985
Bundesverdienstkreuz) eine annähernde Versöhnung zwischen dem Antifaschisten und seiner deutschen Heimat, die ihn während der Nazizeit mit Todesdrohungen verfolgt hatte, bewirkt hatte. A. V. Thelens
Distanz zu Deutschland blieb auch nach seiner Rückkunft nach Viersen aufrecht, da er beteuerte: „Meine Heimat bin ich selbst". Im Jahr 1989 ist er verstorben, bald darauf folgte ihm auch Gattin
und Weggefährtin Beatrice.

„Ein trauriger Don Quichote"

Viele Leser, Kritiker und Literaturwissenschafter sahen in Vigoleis, der Hauptfigur des Romans, einen legitimen Nachfolger von Don Quichote. Die lose miteinander verbundenen Irrfahrten des
Heldenpaares Beatrice und Vigoleis und ihre tragisch-komischen Erlebnisse, eingebettet in die iberische Kultur Mallorcas, legen einen solchen Vergleich durchaus nahe, zusätzlich wird er durch Thelens
eigene Anspielungen im Text der Insel bestärkt: „Wollte Vigoleis Don Quichote und Sancho Pansa zugleich sein auf seiner Spiegelinsel Barataria?" oder „Wir schreiben A. D. 1931, mit dem Sturz
der Monarchie ein denkwürdiges Jahr in der Geschichte Spaniens, und mit dem Sturz in die Welt des Don Quichote ein denkwürdiges Jahr in der Geschichte des Vigoleis." Was die beiden Romanhelden Don
Quichote und Vigoleis freilich eint, ist die Zähigkeit und Unkorrumpierbarkeit, mit der sie ihrer schelmischen Natur gemäß die Dummheit ihrer Umwelt geißeln, auch wenn sie dafür selbst einen Narren
gescholten werden. Das Charakterprofil des Vigoleis zeichnet der tragische Weltschmerz, dem der pikarische Held nur mit Humor entgegenwirken kann; dieses Gegensatzpaar, das so viele Schelmengestalten
in der literarischen Welt kennzeichnet, hält auch das Schicksal des Vigoleis an beiden Händen fest, der sich selbst trotz all seiner lebendigen Streiche sogar als „Erzweltschmerzler" und
„Oberunglücksvogel" betitelt.

Spiegelt man auf den Autor A. V. Thelen zurück, erkennt man eindeutige Parallelen: Er hat sich vor allem in seinem portugiesischen Exil einer traurigen Melancholie hingegeben, die auf Portugiesisch
Saudade heißt und auch in der Musik des Fado ihren Ausdruck findet. Diese Schwermut, die in einer gewissen Lebensverneinung gipfelt, hat A. V. Thelen eigentlich immer begleitet: So hing
beispielsweise in seinem Arbeitszimmer in der Schweiz die Unuhr an der Wand, ein von ihm gebasteltes Zeugnis für die Unsinnigkeit der Zeit, deren einziger Zeiger aus einem dreikralligen Bein eines
Krähenvogels bestand, das A. V. Thelen im Garten gefunden hatte; oder der bleiche Rindsschädel über dem Schreibtisch, der Symbol war für „Vigoleis, das Rindvieh der Verleger".

„Ableger ins Wilde hinein"

Der eingeschworene Kartoffelgegner A. V. Thelen liebte es, ausufernd zu erzählen und den Leser in bunte Handlungsfäden einzuspinnen. Er selbst bezeichnete seine Abschweifungen mit „Kaktusstil"
, da seine Geschichten oft dort neue Triebe ansetzen würden, wo man sie am allerwenigsten erwarte, wie bei bestimmten Opuntienarten aus der Familie der Kakteen. Das passte den Sprachentrümplern
der Nachkriegsliteratur nicht ins literarische Konzept. Mit „Emigrantendeutsch, das noch gründlich überarbeitet werden müsse", hatte Hans Werner Richter den Schreibstil Thelens bei einer Lesung
der Gruppe 47 in Bebenhausen 1953 abqualifiziert. Die Qualität des Schreibens alleine genügte eben nicht. A. V. Thelen stand mit seinem „Groß-Roman" abseits aller damaligen literarischen Trends, die
noch von der Trümmerliteratur der unmittelbaren Nachkriegszeit beeinflusst waren und sich unter anderem auch gegen die Kalligraphen wandten, zu denen jene Schriftsteller gezählt wurden, die nicht mit
Sprachexperimenten arbeiteten.

Nur fünf Jahre nach dem Erscheinen der Insel im Jahr 1958 schien die Zeit wieder reif für Romane gewesen zu sein, betrachtet man den euphorischen Jubel, den die „Blechtrommel" von Günter
Grass, die ebenso wie die Insel in einer pikaresken Tradition steht, bei Autorenkollegen und Literaturkritikern ausgelöst hatte. Im Gegensatz zur harschen Kritik Richters bei der Lesung der
Gruppe 47 konnten sich bereits beim Erscheinen des Thelen'schen Romanerstlings im Jahre 1953 viele Leser und sogar einige Schriftstellerkollegen für das lebendige Erzählen Thelens begeistern. Er
erhielt noch im selben Jahr den Fontane-Preis, obwohl sein Stil mit Fontane wenig gemein hat, eher noch mit Cervantes, Sterne oder Jean Paul verglichen werden kann. Damit schien für A. V. Thelen
trotz mancher Widrigkeiten der Grundstein zur schriftstellerischen Berühmtheit doch noch gelegt worden zu sein, wären da nicht die Verleger gewesen. Sie brachten es zuwege, dass der Autor zwar noch
im Jahre 1956 einen Nachfolgeroman mit dem Titel „Der schwarze Herr Bahßetup" herausbrachte, danach aber wegen ewiger Querelen mit verschiedenen Verlegern, für die er arbeitete, aus freien
Stücken keine Silbe mehr aus neuen Manuskripten zu publizieren gedachte. A. V. Thelen sorgte sich aber sehr wohl darum, dass seine Übersetzungen des portugiesischen Mystikers Teixeira da Pascoaes im
deutschen Sprachraum Verbreitung fanden. Das geschah nur in geringem Maße, doch ohne Thelen wäre uns dieser eigenwillige lusitanische Kauz, der sich den Geschichten innerhalb der Geschichte über die
Religion und die Philosophie genähert hat, verborgen geblieben. Im Rahmen der Nachkriegsliteratur bleibt der Widerspruch bestehen, dass „Die Insel des zweiten Gesichts" von den bedeutendsten
Autoren und Kritikern im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte unter die wichtigsten Bücher unseres Jahrhunderts gereiht wird, dass aber im Gegenzug dem Verfasser A. V. Thelen zu Lebzeiten der große
Durchbruch zum Ruhm versagt geblieben ist. Sein Werk freilich steht in sich sicher und bleibt bestehen.

„Die Insel des zweiten Gesichts" ist 1999 im dtv Verlag München als Taschenbuch erschienen.

Freitag, 14. Jänner 2000 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:01:00

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