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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Erinnerung an den argentinischen Romancier

Adolfo Bioy Casares (1914 bis 1999)

Bioy Casares, Adolfo: Die Mehrdeutigkeit der Beobachtung

Von Bernhard Widder

Als ich mich im Frühling 1996 einige Wochen lang in einer bre-

tonischen Hafenstadt am Nordrand der Mündung der Loire aufhielt, machte ich eines Nachts um genau 12h eine seltsame Entdeckung. Das Ereignis ließ mich, ohne daß ich mich darum bemühen hätte müssen,
sofort an den argentinischen Romancier und Erzähler Adolfo Bioy Casares denken, an dessen ersten Roman „Morels Erfindung". Aus verschiedenen Gründen, die ich hier ausführen will. Ich verbrachte
diesen Monat nicht in einem alten Hotel aus dem späten 19. Jahrhundert mit schmaler Fassade und enger Treppe (wie sie glücklicherweise in Frankreich noch immer existieren), sondern im einzigen
Hochhaus der nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebauten Stadt. Das Gebäude umfaßt einen mehrteiligen Komplex mit zehn Geschoßen und wurde zu Anfang der sechziger Jahre, möglicherweise von
Amerikanern, errichtet. Vielleicht hat es deswegen den Namen „le Building", der auch vis-à-vis an der kleinen gedeckten Haltestelle des städtischen Autobusses zu lesen ist. „Le Building" liegt direkt
an der Hafeneinfahrt in das Becken von Pen-Hoet. Das Stadtzentrum befindet sich nördlich des Gebäudes, etwa einen halben Kilometer entfernt.

An diesem bestimmten Abend saß ich im geräumigen Wohnraum im 10. Stock an einem runden Tisch vor großen Fensterflächen und schrieb. Die Balkontür war offen. Der Blick vom Balkon war spektakulär, denn
er bot das Panorama über den gesamten Hafen mit den ausgedehnten Werftanlagen im Osten, dahinter die moderne Straßenbrücke, die Loiremündung auf einer Länge von drei Kilometern überspannend. Im Süden
ist das gegenüberliegende Ufer zu sehen, das genau dort zur Küstenlinie wird, sich zum Atlantik öffnet. Dort drüben liegt eine Reihe von kleineren Ferienorten, wie Mindin und St.Brevin, die durch
eine Straße entlang der Küste, weiter südlich bis zum Kap von St.Gildas, verbunden sind. In der Dämmerung wird diese Straße beleuchtet. Später, auch in klaren Nächten, wird diese Landschaft
unsichtbar; sie reduziert sich auf einige deutlich erkennbare niedrige Häuser in Mindin, etwa drei Kilometer entfernt, und auf die Lichterkette der Küstenstraße bis zum Leuchtturm von St.Gildas, der
an seinem regelmäßig aufblitzenden Licht erkennbar ist. Nur der sich die ganze Nacht lang wiederholende kurze Lichtstrahl macht deutlich, daß sich dort, in dreißig Kilometern Entfernung, ein
Leuchtturm befindet oder befinden könnte.

Die imaginäre Küste

Das Besondere an diesem bestimmten Abend war einfach: Punkt zwölf Uhr verschwanden die Lichter der Küstenstraße mit einem Schlag. Auf einmal war alles finster, was vorher in dieser klaren Nacht im
Süden sichtbar gewesen war. Ein paar Häuser in Mindin blieben weiterhin beleuchtet und waren deutlich erkennbar. Auch das Blitzen des Leuchtturms blieb so exakt wie ein Uhrwerk. „Um Mitternacht wird
die Küste abgeschaltet: sie verschwindet."

Dann fiel mir der Roman „Morels Erfindung" ein, den ich vor langer Zeit gelesen hatte. In diesem Buch ist nahezu alles ein Rätsel, wobei die Rätselhaftigkeit, die ständige Mehrdeutigkeit jeder
Beobachtung, die ein isolierter Ich-Erzähler in seinem fiktiven Tagebuch notiert, zur Verwirrung des Lesers beiträgt. Innerhalb einer möglicherweise einfachen Geschichte enthüllen sich einige
Parabeln über die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz, die durch die ständig beschränkte Wahrnehmungsfähigkeit des Individuums nicht imstande ist, die Wirklichkeit der Erzählung zu erkennen.
Was hat die verschwundene Küste südlich der Loire-Mündung mit der Ideenwelt von Adolfo Bioy Casares zu tun? Sie hatte damit zu tun, daß mit dem Abschalten der Lichter auf einer Länge von dreißig
Kilometern plötzlich fast nichts mehr erkennbar war von dem, was ich vorher zu erkennen geglaubt hatte. Konnte ich mich darauf verlassen, daß südlich der Loire wirklich eine Küstenstraße verlief?
Könnte ich den genauen Verlauf dieser Küstenlinie bis zum Kap von St. Gildas zeichnen? Oder ist jede visuelle Erfahrung, die sich bei Tageslicht von der Form einer Landschaft machen läßt, nur eine
voreilige Definition, die nie einer genaueren Analyse unterzogen wird? Oder warum war mir dieses Abschalten der Lichter, das wie durch einem einzigen Schalter vonstatten ging, nicht schon vorher
aufgefallen? Ich weiß die Antworten nicht.

Ein Erlebnis wie die abgeschaltete Küste ist noch keine literarische Parabel, dafür ein Beispiel für ungenaue Wahrnehmung, und für die Illusion, die sogenannte moderne Technologie, in diesem Fall als
die weiträumig organisierte Beleuchtung einer Küstenstraße auf einer Länge von dreißig Kilometern, bieten kann.

Morels Erfindung

Eine besondere Technologie spielt auch in dem Roman „Morels Erfindung" eventuell die Hauptrolle. Es handelt sich um eine raffinierte Verwendung von holografischen Szenen, die der Ich-
Erzähler wahrnimmt. Dieser Erzähler ist aus ungeklärten Gründen an einer Insel gestrandet. Er ist nicht freiwillig dort und kann die Insel auch nicht verlassen. Schon diese Disposition ist eine
Paraphrase auf einen der ersten Romane der Weltliteratur, auf „Robinson Crusoe" von Daniel Defoe. Aber dem Erzähler, der sein Tagebuch mit Notizen füllt, begegnet kein menschlicher Partner wie
Freitag, sondern etwas völlig anderes. Nach einiger Zeit entdeckt er eine Gruppe von Leuten, die er zuerst von weitem wahrnimmt. Nach tagelanger Beobachtung fällt ihm auf, daß sich diese Gruppe im
Verlauf ihres Erscheinens immer ähnlich verhält, verglichen mit dem Auftreten an den vorangegangenen Tagen.

Ein Mädchen namens Faustine erweckt sein Interesse, er verliebt sich vage in sie und versucht, näheren Kontakt aufzunehmen. Das gelingt nicht, da sie keine deutlichen Antworten gibt und der Erzähler
zu schüchtern ist, um sie lauthals anzusprechen oder zu berühren. Die schreckliche Entdeckung folgt später: im Keller des einzigen Gebäudes auf der Insel, in einem leeren Hotel, entdeckt der Erzähler
komplizierte Maschinen, die sich nach einem regelmäßigen Programm einschalten und diese Gesellschaft, auch Faustine, als holografische Bilder erzeugen. Diese Bilder sind aber nicht nur räumliche
Wiedergaben von verschwundenen oder gestorbenen Personen, sondern geben sie vollkommen real wieder, mit ihrer Körperlichkeit, ihren Gesprächen, die sich täglich während einiger Stunden als Abbild
eines längst vergangenen Nachmittags wiederholen.

Soweit eine grobe Beschreibung des Inhalts des Romans „Morels Erfindung", in dem es um viel mehr geht als um die perfide Inszenierung von längst verschwundenem Leben. Ein Thema ist die ständige
Selbsttäuschung des Bewußtseins. Wenn ich bedenke, daß Bioy Casares diesen Roman mit 26 Jahren im Jahr 1940 veröffentlichte, dann erstaunt mich der pessimistische und visionäre Blick auf eine
perfektionierte „Virtual Reality", die im Roman bereits soweit entwickelt ist, daß Menschen von ihrer gefilmten Kopie nicht mehr zu unterscheiden sind.

Einfluß auf Filme

„La invención de Morel" ist vermutlich das bekannteste Buch von Adolfo Bioy Casares geblieben. 1953, als es in französischer Ausgabe erschien, schrieben Alain Robbe-Grillet und Maurice Blanchot
längere Besprechungen. Der Einfluß auf einen bedeutenden Film von Alain Resnais, „Letztes Jahr in Marienbad"(1961), zu dem Alain Robbe-Grillet das Drehbuch geschrieben hatte, blieb
unbestritten. Ich denke an einen weiteren rätselhaften Film: „Blow Up" von Michelangelo Antonioni (1966). So, wie im Vorspann zu lesen ist, daß die Idee zu diesem Film aus einer Erzählung des
argentinischen Dichters Julio Cortázar stammt, könnte Adolfo Bioy Casares diese Idee geliefert haben.

Warum erwähne ich nun Julio Cortázar? Beide, Bioy Casares und Cortázar, sind sich in ihren Themen ähnlich, aber nicht in ihrem Stil. Cortázar schreibt immer persönlicher, intimer, vor allem in seinem
schwierigen Roman „Rayuela / Himmel und Hölle" experimenteller. Bioy Casares' Stil ist durch Zurückhaltung charakterisiert, durch eine besondere Fähigkeit, unterschiedlichen Charakteren aus
verschiedenen Milieus völlig glaubwürdige Stimmen zu verleihen. Der Unterschied zwischen diesen beiden argentinischen Schriftstellern ist auch darin zu sehen, daß Cortázar als junger Mann nach Europa
übersiedelte und Bioy sein Leben in Argentinien verbrachte und Europa mehrfach bereiste.

Warum ist Jorge Luis Borges bisher nicht erwähnt worden? Eine Frage mit und ohne Berechtigung. Manche Leser der Werke von Borges und Bioy Casares wissen ja über die jahrzehntelange Freundschaft
zwischen den beiden, über die gemeinsam verfaßten satirischen Erzählungen, die unter den Pseudonymen „H.Bustos Domecq" und „B.Suárez Lynch" zwischen 1942 und 1946 veröffentlich wurden, vor mehr als
einem halben Jahrhundert.

Im Nachdenken über Adolfo Bioy Casares, der in der vergangenen Woche mit 84 Jahren verstorben ist, gleich alt wie Octavio Paz, den mexikanischen Dichter um ein Jahr überlebend, komme ich wieder auf
eigene Leseerfahrung zurück: im Herbst 1976 erschien als „suhrkamp taschenbuch 341" der Band „Materialien zur lateinamerikanischen Literatur"(in spanischer Sprache, ohne Brasilien), herausgegeben von
Mechtild Strausfeld. In diesem Buch werden auf knapp 400 Seiten zwölf Autoren in Einzeldarstellungen und Werkanalysen portraitiert. Das Buch war für mich ein konzentrierter Einstieg in
hispanoamerikanische Prosa dieses Jahrhunderts, es behielt seinen Stellenwert bis heute.

Der in Santiago de Chile geborene Engländer David Gallagher schrieb in diesem Band über das Werk von Adolfo Bioy Casares im Hinblick auf die Freundschaft zwischen Borges und Bioy Casares: „Die
Behauptung, Bioy Casares sei „besser" als Borges, weil er in gewisser Weise „vollständiger" sei und deutlicher in einer gegebenen geschichtlichen Realität verwurzelt, wäre absurd. Wie Borges sagt:
„In der Literatur gibt es keinen Wettkampf." Es ist ohnehin kleinlich, zwei große Freunde zu trennen, indem man ihren Wert vergleicht. Jedoch scheint es tatsächlich deutliche Anzeichen dafür zu
geben, daß Bioy jetzt langsam unabhängig von Borges anerkannt wird..." Zur Erinnerung: diese Aussage stammt aus der Mitte der siebziger Jahre. Seit damals sind einige bedeutende Romane · etwa
„Fluchtplan", „Der Traum der Helden", „Tagebuch des Schweinekriegs" · und in Teilen seine Erzählungen im Suhrkamp Verlag erschienen.

Manchmal ergeben sich Koinzidenzen völlig unerwartet. Auch dort, im Building in der bretonischen Hafenstadt war eine Reihe argentinischer Dichter zu Gast, die ich nicht kennengelernt habe. Aber
es gab auch die Symposien in dem Dorf St.Marc-sur-Mer, wenige Kilometer westlich der Hafenstadt, die im „Hotel de la Plage" stattfanden, wo Jacques Tatí eines seiner Meisterwerke in den fünfziger
Jahren gedreht hat, „Die Ferien des Monsieur Hulot". Dort, zwischen dem französischen und dem besonderen argentinischen Argot, ließe sich die Parabel über unsere brüchige Wahrnehmung der Welt
mit jüngeren argentinischen Schriftstellern weiterführen, in langen Diskussionen über Borges, Bioy Casares, und Cortázar.

Freitag, 19. März 1999 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:51:00

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