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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Moore, Brian: Geschichtenerzähler mit Moral

Von Kurt Lhotzky

Vor kurzem starb in Malibu, Kalifornien, der Schriftsteller Brian Moore im 77. Lebensjahr. Auch wenn Kritik und Kollegenschaft · legendär wohl das Urteil Graham
Greenes, der ihn als seinen liebsten zeitgenössischen Autor bezeichnete · immer wieder auf die Meriten des großartigen Erzählers hinwiesen, entzog sich Moore dennoch dem Trubel und dem Presserummel
der Erfolgsautoren. Auf Kongressen und Symposien machte er sich rar, Fototermine waren ihm ein Greuel, und Interviews gab er nur selten.

Der 1921 im durch einen Bürger- und Befreiungskrieg zerrissenen Irland geborene Sohn einer Belfaster katholischen Familie (sechs Schwestern, zwei Brüder) fühlte sich in der beengenden Atmosphäre
seiner Heimat niemals wirklich wohl · und kam doch von seinen irischen Wurzeln nie los. Seinen Vornamen sprach er stets echt irisch aus, und trotz seiner zwei Wohnsitze in Kanada und den USA betonte
er:„Ich fühle mich sehr irisch." An seine Schulzeit in St. Malachy's in Belfast dachte er nur mit Abscheu zurück: „Wir wurden ständig geschlagen. Das einzige Erziehungsziel bestand darin, uns Wissen
einzubleuen und zu beweisen, daß katholische Jungen klüger sind als protestantische." Als er mit 20 das Elternhaus verließ und in den Dienst des Britischen Ministeriums für Kriegstransportwesen trat
· kein Soldat der Armee, sondern ein Zivilist in Uniform · hoffte er, nach seiner Rückkehr ein vom sektiererischen Haß befreites Irland vorzufinden.

Der junge Ire erlebte den Krieg an den unterschiedlichsten Schauplätzen · am Brückenkopf von Anzio, in Südfrankreich und Polen. Lange ließ ihn eine Erinnerung nicht los: die an das befreite Auschwitz
und die Überlebenden des Holocaust.

Aber der Krieg hatte auf der Grünen Insel nichts verändert. Wie Millionen von Iren vor ihm suchte er den Ausweg jenseits der irischen See · in Kanada.

Der Nonkonformist und Atheist („Meinen Glauben hatte ich schon in der Kindheit verloren, gesagt habe ich nie was darüber, um meine Mutter nicht zu kränken") begann, sich mehr recht als schlecht als
Journalist durchzuschlagen. Wenn Moore etwas Positives an seiner Schulzeit sah dann ist es die Erinnerung an seinen Englischlehrer, der ihm die Liebe zu präzisen Formulierungen und zum Essay mitgab.
Das Feuilleton und die gut recherchierte Hintergrundgeschichte reizte ihn stets mehr als der flüchtige Tagesjournalismus. In seinen schlimmsten Tagen hauste Moore in einem abgewrackten Wohnwagen und
schrieb beim Schein einer Petroleumlampe seine Feuilletons.

„Das kannst du besser . . ."

1955 erschien sein erster Roman: „Die einsame Passion der Judith Hearne". Geschrieben hatte er ihn, nachdem ihm ein Kollege ein Romanmanuskript zum Lesen gegeben hatte. „Das war so
furchtbar, daß ich mir gesagt habe: Das kannst Du doch selbst besser." Die Geschichte der alleinstehenden, dem Alkohol verfallenden Judith Hearne, die in einer Belfaster Pension wohnt und noch einmal
versucht, ihrem Leben ein Wendung zu geben, katapultierte Moore mit einem Schlag nach oben. Schon die ersten Rezensionen sprachen von einem der großen Romane der englischsprachigen Literatur in
diesem Jahrhundert. (In Irland übrigens wurde das Buch, ebenso wie alle anderen frühen Werke Brian Moores, von der in katholischer Hand befindlichen Zensur verboten.) Damals entwickelte er die ihm
eigene Herangehensweise an das Schreiben: „Ich war noch unschuldig. Ich habe damals noch gar nicht bewußt erkannt welches Glück ich hatte, mich in den Kopf einer 40jährigen Frau versetzen zu können
und die Geschichte durch ihre Augen sehen zu können. Aber es hat funktioniert. Und als ich das erkannt hatte, sagte ich mir: Das ist es, was ich wirklich will · eine Person darstellen, die nicht ich
bin. Schriftsteller wie ich leben durch ihre Bücher. Sie haben kein eigenes Leben. Sie führen ein Surrogat-Leben."

Wechselnde Schauplätze

In Folge erschienen alle zwei, drei Jahre Bücher Moores: „The Feast of Lupercal" 1957 („Die Wölfe von Belfast"), „The Luck of Ginger Coffee" 1960 („Ginger Coffee sucht das Glück"),
„An Answer from Limbo" 1962 („Die Antwort der Hölle"). Was die Vermarktung der Bücher nicht erleichterte: Moore wechselte in jedem Roman die Schauplätze, die Themen, die Perspektive. Er folgte
damit seinem Credo: „Die meisten Bücher heutzutage sind in Wirklichkeit nicht mehr als die Geschichten der Autoren, die über sich selbst sprechen · das ist fein, wenn Du den Autor magst. Ich denke,
Du solltest die Bücher mögen, ohne den Autor zu kennen."

Der erzählerische Ruf Moores bewog Alfred Hitchcock dazu, den Wahlkanadier nach Hollywood zu rufen. Dort arbeitete er am Drehbuch für „The Torn Curtain" und war ein für allemal vom Filmgeschäft
geheilt. „Du bist einer von fünf, sechs Burschen, die an einem Manuskript herumdoktern, nicht mehr und nicht weniger. Du kannst Geld damit machen · aber das kann ich auf anständigere Weise, indem ich
Böden aufwasche." Dennoch zog den kosmopolitischen Geist das kalifornische Klima an. Er ließ sich im Surfer-Paradies Malibu nieder, weit weg von der Literatur- und Künstlerszene. „Das ist einer der
Gründe, warum ich Kalifornien liebe: Es gibt so wenige Schriftsteller dort."

Ein hartes Examen

Mit dem ihm eigenen trockenen Humor charakterisierte Moore einmal die schreibende Zunft: „Es gibt Leute, die wollen Schriftsteller sein, und andere, die wollen schreiben." In die erste Kategorie
reihte er jene seiner Kolleginnen und Kollegen, deren höchstes Glück Einladungen zu den im englischen Sprachraum weitverbreiteten Kongressen und Colloqien, zu Talkshows und offiziellen Empfängen
sind.

Er selbst zählte sich zur zweiten Gruppe; seine scheinbar mühelos hingeschriebenen Romane waren immer das Produkt harter Arbeit. „Als Kind habe ich Prüfungen gehaßt · wenn man schreibt, stellt man
sich alle zwei, drei Jahre einem noch härteren Examen." Inspirationen und Anregungen bezog er nicht nur aus Tageszeitungen · für „Hetzjagd" etwa verfolgte er täglich „Le Monde" und
„Liberation" · als Wahlkalifornier und ehemaliger Lehrender an der dortigen renommierten Universität verbrachte er auch viel Zeit in der Bibliothek der UCLA.

Der American Way of Life war Moores Sache nicht. In dem köstlichen Roman „Die Große Viktorianische Sammlung" lernt ein junger kanadischer Geschichtsprofessor die Schattenseiten amerikanischer
Geschäftstüchtigkeit, aber auch Naivität kennen. Anthony Maloney vollbringt nämlich ein wahres Wunder: Der von der viktorianischen Ära besessene Forscher erträumt sich buchstäblich die größte und
vollständigste Sammlung einschlägiger Artefakte, die sich jedoch dummerweise ausgerechnet auf einem Motelparkplatz in Carmel, Kalifornien, materialisiert. Statt die herrlichen Stücke aber in Ruhe
genießen zu können, sieht sich Maloney plötzlich völlig fremden Interessen ausgesetzt: Da ist der junge und ehrgeizige Lokalreporter, der gleichzeitig als Korrespondent für die „New York Times"
arbeitet und die Story seines Lebens wittert; mehr oder minder seriöse Experten fühlen sich bemüßigt, die Sammlung zu begutachten, denn schließlich wollen die US-Bundesbehörden wissen, ob und wie die
Große Viktorianische Sammlung zu besteuern ist. Daß der Motelbesitzer am plötzlichen Rummel um seinen Parkplatz mitschneiden will, muß nicht gesondert erwähnt werden. Da kann es nur noch wenig
verwundern, daß Parapsychologen auch noch mitnaschen wollen.

Das Ensemble unterschiedlichster Charaktere wird nicht zuletzt durch die Freundin des Reporters ergänzt, die aus nicht ganz unerklärlichen Gründen eine besondere Beziehung zu den teilweise höchst
perversen Sammlungsstücken erotischer Natur entwickelt.

Der Thriller-Autor

Seit Anfang der achtziger Jahre schrieb Moore mehr und mehr Bücher, die sich am ehesten in die Kategorie „Thriller" einordnen lassen. „Dillon" (1990) ist einer der bemerkenswertesten Romane
über die bewaffneten Auseinandersetzungen in Nordirland; „Hetzjagd" (1995) ist die literarische Aufarbeitung der Affären Touvier und Papon, also des Lebens jener Nazi-Kollaborateure aus der
Vichy-Ära in Frankreich, die durch den Schutz der Kirche und des Staatsapparates jahrzehntelang ungeschoren davonkamen.

„Hetzjagd" wurde international nicht nur als herausragender Politthriller gelobt · hauptsächlich religiös ausgerichtete Zeitungen warfen Moore auch seine scharfe Abrechnung mit der Rolle des
katholischen Klerus in der Nachkriegszeit vor. Da er in „Schwarzrock" die Geschichte der Jesuiten in der Frühzeit der Kolonisierung Kanadas nachzeichnet und in „Die Farbe des Blutes" die
Auseinandersetzung zwischen Kirche und stalinistischem Regime in einem osteuropäischen Land in den Mittelpunkt stellt, wurden gar Interpretationsversuche präsentiert, die Moore zum „Suchenden" nach
einer neuen Form der Spiritualität machen sollten.

Auch der 1993 erschienene Roman „No Other Life" („Es gibt kein anderes Leben") hat als Zentralfigur einen Priester: den messianischen schwarzen Geistlichen Jeannot, der sich auf der fiktiven
Insel Ganae (unschwer als Haiti zu dechiffrieren) der herrschenden Diktatur widersetzt und zum Präsidenten aufsteigt. „Ich bin wirklich ungläubig · das heißt aber noch lange nicht, daß ich so tun
könnte, als gebe es die Kirche nicht", antwortete Moore in einem Interview auf einschlägige Fragen.

„Die Frau des Zauberers" (1997), Moores letzter Roman, ist einerseits eine faszinierende Studie über die Methoden des französischen Kolonialismus in Nordafrika zur Mitte des vergangenen
Jahrhunderts, anderseits aber auch ein grandioser Emanzipationsroman der Protagonistin Emmeline Lambert · und eine Verneigung vor dem Roman, der wohl wie kein anderer diese Gattung nachhaltig geprägt
hat: Flauberts „Madame Bovary".

Die Geschichte vom Zauberer Henri Lambert, der von Napoleon III. 1856 nach Algerien geschickt wird, um durch seine Illusionskünste den heimischen Marabuts das Wasser abzugraben und zu
demonstrieren, daß der „christliche Zauberer" den heiligen Männern der Kabylen überlegen ist, wäre für sich alleine schon eine großartige Geschichte. Die Entwicklung seiner Frau Emmeline, die fast
den betörenden · und, wie sich herausstellt, höchst berechnenden · Avancen des Leiters des „Bureau arabe" der französischen Kolonialmacht erliegt und die als einzige begreift, was die
„zivilisationsbringende" Mission für die betroffenen Menschen bedeutet, hebt das Buch weit über das Niveau herkömmlicher „Geschichtsthriller" hinaus.

Für die „Frau des Zauberers" stand übrigens ein literarischer Zufall Pate. Im Briefwechsel zwischen Gustave Flaubert und Georges Sand stieß Moore auf die Erwähnung des damals weltgrößten
Zauberers, Jean-Eugene Robert-Houdin (der später einen jungen Mann dazu inspirierte, sich den Künstlernamen „Houdini" zuzulegen), der tatsächlich im Auftrag der französischen Regierung nach Algerien
geschickt wurde, um eine ähnliche Mission zu vollbringen.

Moore war von der Idee fasziniert, daß Christen einen Zauberkünstler mit „gefälschten Wundern" auf Menschen ansetzten, die an „wirkliche Wunder" glaubten. Zugleich faszinierte ihn der immer wieder
strapazierte zivilisatorische Charakter des französischen Kolonialismus. Der politisch denkende Autor Moore wollte mit diesem Buch seinen ganz persönlichen Beitrag zum Verständnis der heutigen Krise
in Algerien leisten. „Die Situation erinnert mich an Nordirland · jede Seite glaubt, daß die andere der Teufel ist. In Wirklichkeit ist es aber keiner von beiden."

Der Anfang und das Ende

Bei einem seiner seltenen Auftritte auf einem Schriftstellerkongreß in Dublin (wo er mit einem Zwölffingerdarmgeschwür zusammenbrach und fast bei einer verpfuschten Operation ums Leben kam, was
ihm zum trockenen Kommentar bewegte: „Ich weiß ja, warum ich Tagungen hasse") beschrieb Moore seine Technik und seine Ängste beim Schreiben. Er fürchte eigentlich bei jedem Manuskript nur zwei Dinge:
Den Anfang und das Ende. „Auf den ersten 15, 20 Seiten entscheidet sich, ob man ein Buch weiterlesen möchte. Da ist jeder Leser der schärfste Kritiker. Und am Ende weiß ich nie, zu welchem Schluß ich
die Geschichte bringen werde, die ich erzähle."

Die liebsten Leser waren ihm diejenigen, die seine Bücher fast in einem Zug durchlasen. „Meine Geschichten haben alle eine Moral. Das kann natürlich gefährlich sein, weil die Leser mitunter während
der Lektüre ins Grübeln kommen und sich fragen: ,Ist das auch meine Moral?`. Aber wenn jemand meine Bücher auf ein-, zweimal liest und sich dabei unterhält, ist das ein großes Kompliment für mich."

Zahlreiche Literaturpreise, drei Nominierungen für den Booker Award haben die Wertschätzung des Werks Brian Moores in der englischsprachigen Welt ausgedrückt. Im deutschsprachigen Raum haben die
vorzüglichen Übersetzungen der im Diogenes-Verlag erschienenen Werke und die Verfilmungen etlicher seiner Romane (derzeit ist die Verfilmung von „No other Life" durch Costa-Gavras mit Gerard
Dépardieu in Vorbereitung) dem Autor eine treue Lesergemeinde gebracht.

Der Tod des genauen Beobachters, brillanten Stilisten und prachtvollen Erzählers reißt eine schmerzhafte Lücke, die uns wohl erst voll bewußt werden wird, wenn wir in zwei, drei Jahren vergebens in
unseren Stammbuchhandlungen, fast selbstverständlich und gewissermaßen automatisch, nach dem „neuen Moore" fragen werden.

Freitag, 29. Jänner 1999 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:51:00

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