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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

"Ich will nicht der letzte sein"

Burg, Josef

Von Michael Martens





"Wiener Zeitung": Herr Burg, als 1912 in der Bukowina geborener Jude sind Sie Zeuge des schrecklichsten Jahrhunderts geworden, das Ihr Volk erleben mußte. Wie gehen Sie mit dieser
tragischen Grunderfahrung Ihres Lebens um? Ist das überhaupt in Worte faßbar?

Josef Burg: Das 20. Jahrhundert, das ich fast gänzlich miterlebt habe, war das schrecklichste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit. Das schrecklichste, weil es ein modernisiertes Morden
mit sich brachte, das die Völker im allgemeinen und die Juden im besonderen getroffen hat. Das 20. Jahrhundert war Hitler, es war Stalin, es war Kommunismus und Nationalsozialismus. Es bekam seinen
Stempel aufgedrückt von fürchterlichen Systemen, die sich kaum voneinander unterschieden und Millionen Menschen verschlangen. Ich bin Jude, jüdischer Schriftsteller. Mein Jahrhundert hat mich als
Menschen und Schriftsteller tragisch getroffen. Alle meine Verwandten sind umgekommen, ich bin der einzige Überlebende meiner großen Familie, wir waren über 50. Nach dem Ende des Faschismus gingen
die Verfolgungen in der Sowjetunion auf andere Weise weiter.

"WZ": Sie sind im bukowinischen Wischnitz aufgewachsen.

Burg: Wischnitz ist berühmt in der jüdischen Welt durch die Wischnitzer Zaddikim. Als ich 1912 geboren wurde, hatte Wischnitz 6.800 Einwohner, über 6.300 davon waren Juden. Alle sprachen
Jiddisch. Selbst die wenigen Christen von Wischnitz beherrschten Jiddisch. Auch in den Dörfern um Wischnitz lebten überwiegend Juden. Mit vier Jahren habe ich begonnen, den Cheder zu besuchen.
Die Lehrer dort haben keine pädagogische Bildung gehabt, sie hatten überhaupt keine Bildung eigentlich. Aber es waren unter ihnen solche, von denen manch ein Pädagoge mit Hochschulbildung vieles
lernen könnte. Mein Rebbe, das war ein Dichter. Er hat die biblischen Ereignisse mit einer solchen Begeisterung wiedererzählt, in einer so großartigen, naiven Sprache, mit derart reichen,
fantastischen Bildern · das war Literatur. Wir haben an den Winterabenden bei Kerzenlicht gelernt, draußen war es schon dunkel. Das alles hat einen romantischen Hintergrund gehabt. Dazu die
fantastischen Erzählungen des Rebben aus der Bibel. So ist meine Kindheit untrennbar verbunden mit dem Cheder. In diesem Geist eines chassidischen Judentums bin ich aufgezogen worden. Wenn ich
jiddischer Schriftsteller geworden bin, dann habe ich das in erster Linie meinem Rebben zu verdanken, der mir durch seine Erzählungen eine Welt voller Wunder vermittelt hat. Auch mein Vater konnte
schön erzählen. Mein Vater war Flößer, ein seltener Beruf bei Juden. Wir waren eine arme Familie. Als Flößer auf dem Tscheremosch, einem Fluß, der von den Karpaten kommt und durch Wischnitz fließt,
verbrachten er und seine Kollegen lange Abende und Nächte beim Lagerfeuer am Ufer und erzählten sich Geschichten. Alle haben erzählt, die Umgebung hat erzählt. Die Natur, die Karpaten, die Bukowina
haben zum Erzählen angeregt. Heute lebt kein einziger Jude mehr in Wischnitz. Auch in den Dörfern um Wischnitz gibt es keine Juden mehr. Das einzige, was noch daran erinnert, daß in Wischnitz einmal
Juden gelebt haben, ist der jüdische Friedhof.

"WZ": Was bedeutet die Bukowina für Sie?

Burg: Ich habe sie sehr gerne. Ich bedaure nur, daß so wenig geblieben ist von ihrem früheren Gesicht. Die Bukowina ist ein Landstrich zwischen dem Osten und Westen Europas. Die jüdische Ostkultur
trifft hier auf die westliche Kultur, von Österreich, vom Deutschen. Und es gehen die Winde, der östliche und der westliche, darüber hinweg, poetisch gesprochen. In den Karpaten gibt es eine Stelle,
da treffen zwei Flüsse zusammen, ein grüner und ein grauer, aber ihre Wasser mischen sich nicht, es ist eine Trennungslinie zwischen den beiden, scharf wie eine Klinge. Sie fließen nebeneinander her,
ruhig und friedlich, aber jeder behält seine Farbe. So war der Jude der Bukowina.

"WZ": Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, in die Sie mit Ihren Eltern übersiedelten, als Sie zwölf Jahre alt waren, muß dem kleinen Jungen, der Sie damals waren, dem Sohn eines Flößers aus
der Provinz der Provinz, wie das Zentrum der Welt erschienen sein.

Burg: Als ich nach Czernowitz kam, war das, als sei ich auf einen anderen Planeten gekommen. Von Wischnitz nach Czernowitz gibt es einen Zug, der geht noch heute. Meine Mutter war vorher in ihrem
Leben nur ein Mal nach Czernowitz gefahren, und das war ein großes Ereignis gewesen. Darauf hat sie sich eine ganze Woche vorbereitet. Gebacken, gekocht, geputzt, gepackt. Sie fährt nach Czernowitz!
Heute fährt man so nicht einmal nach Amerika. Nach Czernowitz! Eine Weltreise. Wir kamen abends in der Stadt an. Am nächsten Morgen stand ich früh auf und schaute aus dem Fenster. Da sah ich eine
Straßenbahn. Das war unvorstellbar. Sie fährt von alleine! Und Menschen setzen sich da auch noch hinein. Was ist das? Ohne Pferde? Die ersten Tage waren für mich unbegreiflich, ich war in eine Welt
voller Wunder geraten. Aber Kinder gewöhnen sich rasch an neue Umgebungen. Ich besuchte die Schule, las viele Bücher, beendete ein Lehrerseminar, fuhr 1935 nach Wien und studierte Germanistik. Am
5. Juni 1934 veröffentlichte ich meine erste Erzählung in den "Czernowitzer Bletern", einer der bekanntesten jiddischen Zeitschriften, die ich inzwischen selbst herausgebe.

"WZ": Von Czernowitz fuhren Sie als junger Mann nach Bukarest "der Stadt meiner hungrigen Tage und unbehausten Nächte", wie Sie es in einer Erzählung nennen.

Burg: Bukarest war ja, nach dem Ende des Habsburgerreiches, unsere Hauptstadt geworden. Die Bukowina gehörte zu Rumänien. In Bukarest gab es eine ganze Reihe berühmter jüdischer Schriftsteller,
auch erschien dort "Die Woch", eine literarische Zeitschrift in jiddischer Sprache. Ich habe dort 1939 mein erstes Buch veröffentlicht, von dem nur noch ein Exemplar existiert. Das zweite Buch,
das 1940 in Czernowitz erschien, habe ich in ein hiesiges Museum gegeben, aber es wurde gestohlen.

"WZ": Von Bukarest reisten Sie dann nach Wien, um Ihr Studium zu beginnen. Wie wirkte diese Stadt auf Sie?

Burg: Bukarest war damals ein geistiges Zentrum des jüdischen Lebens. Was mich in Wien sehr überraschte, war die Gemütlichkeit, die Ruhe dieser Stadt. In Bukarest brauste das Leben · und in Wien
war es gemütlich, schön, still, romantisch. Das jüdische Leben im 2. Bezirk, das Café Central, die jüdischen Schriftsteller, die dort waren, wurden schnell zum Mittelpunkt meines Lebens. Ich habe
dann auch das Ende in Wien miterlebt, den "Anschluß".

"WZ": In Wien haben Sie auch Franz Werfel kennengelernt.

Burg: Ja, ich bin in ein Café gekommen, ich weiß nicht mehr in welches, und da habe ich ihn halt eines Tages einmal getroffen und wir kamen ins Gespräch. Wir haben uns dann noch einige Male
gesehen. Aber das war keine Bekanntschaft oder gar Freundschaft, es waren Begegnungen, flüchtige Begegnungen, derer es viele gab. Auch Rose Ausländer bin ich begegnet, noch in Czernowitz. Es ist
nicht so, daß ich eine besondere Beziehung zu ihr gehabt hätte, ich stieß einfach zu einem literarischen Kreis, in dem sie auch verkehrte, es fällt mir heute sogar schwer zu sagen, wo das war.

"WZ": Die deutsche Sprache, die Sie fließend beherrschen, in der Heine und Hitler gesprochen haben · was bedeutet sie für Sie?

Burg: Meine Muttersprache ist Jiddisch. Aber neben meiner Muttersprache habe ich zwei Sprachen, die mir sehr naheliegen · Deutsch und Russisch. Es kreuzen sich die Sprachen immer bei mir, sie
umkreisen sich. Deutsch hat mich durch mein ganzes Leben begleitet. Die deutsche Kultur ist mir sehr nahe · ich bin ja mit ihr aufgewachsen. Manchmal scheint es mir, daß ich auf Deutsch denke.
Russisch habe ich zu lernen begonnen, als ich schon fast 30 Jahre alt war. Manchmal fehlt mir etwas, und ich suche es im Russischen. Die Sprache ist reich und schön, sie gehört einem großen,
wunderbaren Volk, das der Welt viel Großartiges gegeben hat aber auch viel Schlechtes, fürchterlich Schlechtes. Auf der einen Seite Puschkin und Tschaikowski, auf der anderen Seite die Pogrome, die
Unterdrückung der Völker im Kaukasus und in Mittelasien, die noch heute ihr Echo findet.

"WZ": Nach dem "Anschluß" mußten Sie Wien verlassen und gelangten zunächst nach Prag und dann wieder nach Czernowitz.

Burg: Ja, gegen meinen Willen. Ich wollte nach England, durch die Schweiz. Dort lebten Schriftsteller, die ich kannte, außerdem erschien in London eine jiddische Zeitung. An einem meiner letzten
Tage in Wien lernte ich abends im Café Central den Sekretär der tschechischen Botschaft kennen. Er riet mir, nach Prag zu fahren · da man mich in die Schweiz wahrscheinlich nicht hineinlassen würde.
Von Prag dagegen könne man nach Frankreich fahren und dann weiter nach England. In Prag bekam ich ohne Schwierigkeiten ein drei Monate gültiges französisches Transitvisum und auch ein englisches
Visum für ein Jahr. Nun fehlte nur noch das deutsche Transitvisum. Ich ging zur deutschen Botschaft. "Ach", sagte man dort, "aus Österreich kommen Sie? Geflohen, was? Sie sind Jude?" Ich sagte, ich
sei Rumäne. Ich hatte ja einen rumänischen Paß, in dem nichts stand von meiner Konfession. "Nein, ein rumänischer Jude sind Sie!", sagte der Beamte. Ich habe das Visum nicht bekommen. Da mein Geld zu
Ende ging, fuhr ich also nach Czernowitz. Ich plante, durch Bulgarien und Jugoslawien und von dort mit dem Schiff nach England weiterzufahren. In Czernowitz stellte sich aber heraus, daß man mir die
Staatsbürgerschaft entzogen hatte · wie vielen Juden. Staatenlos. Dann kamen die Russen · und damit war mein Dasein als Schriftsteller für Jahrzehnte unterbrochen.

"WZ": Den Einmarsch der Roten Armee haben die meisten Czernowitzer Juden begrüßt.

Burg: Fast alle. Ich auch. Was war denn die Alternative? Auch viele Ukrainer haben den Einmarsch begrüßt, mit Ausnahme natürlich der reichen Ukrainer und der national gestimmten ukrainischen
Intelligenz, die sind geflohen, ebenso wie die reichen Juden. Ich war auch vorher schon prokommunistisch gestimmt. Das lag in unserer Familie. Mein Bruder hat im Spanischen Bürgerkrieg als Volontär
in einer kommunistischen Brigade gekämpft. Er fiel bei Madrid. Dann kam diese große Enttäuschung. Wir wollten ein Paradies auf Erden. Wir wollten dieselben sein. Wir wollten einen Staat, in dem nicht
mehr auf der Straße geschrien wird: "Nieder mit den Juden". Bald haben wir dann gespürt, daß die Sowjetunion nicht dieser Staat war. Besonders nach dem Krieg wurde das deutlich. Ich hätte 1945
auswandern können. Viele taten das damals. Ich wollte nicht. Damals glaubte ich noch an die Sowjetunion.

Es hat mich dann über viele Umwege nach Zentralasien, nach Usbekistan verschlagen. Viel Freude hat mir die Zeit in Usbekistan nicht gebracht. In Samarkand habe ich vieler meiner ebenfalls dorthin
evakuierten Freunde zurücklassen müssen, für ewig. Später kam ich in das Pädagogische Institut nach Iwanowo bei Moskau, wo ich Weltliteratur unterrichtete. Dort lernte ich meine Frau kennen. So habe
ich 20 Jahre in Rußland gelebt. Schöne Jahre und fürchterlich schlechte Jahre. Ich will mich an diese Zeit nicht erinnern. Es waren die schwersten Jahre meines Lebens.

"WZ": Wann sind Sie nach Czernowitz zurückgekehrt?

Burg: 1959. Zunächst war ich Lehrer, dann lebte ich als Schriftsteller.

"WZ": Was war das für ein Czernowitz, in das Sie zurückkehrten? Die Stadt wird ja kaum noch jener ähnlich gewesen sein, die Sie 20 Jahre vorher verlassen hatten. Was empfanden Sie bei Ihrer
Rückkehr?

Burg: Es war wirklich eine andere Stadt als die, die ich verlassen hatte. Als ich nach Czernowitz kam, stieg ich aus dem Zug und wußte, daß ich niemandem mehr hier habe. Wohin gehen? Zu wem? Ich
kam in eine Stadt, in der ich mein ganzes junges Leben verbracht hatte, in der ich Schriftsteller geworden war und Mensch · aber ich kannte dort niemanden. Ich hatte das Gefühl, daß die Steine unter
meinen Füßen weinten. Ich kam mit meiner Frau und meiner Tochter, und ich kam, um zu bleiben. Es gab noch eine jüdische Umgebung, bis Anfang der siebziger Jahre die Emigration begann. Ich hätte
vielleicht auch auswandern sollen damals. Ich habe es nicht getan.

"WZ": Haben Sie in all den Jahren geschrieben?

Burg: In den ersten Jahren nach dem Krieg war ich in Moskau und habe sehr viel geschrieben. Dann hat das aber aufgehört. Jahrelang schrieb ich fast nichts. Ich hätte damals sowieso nicht schreiben
können, selbst, wenn ich gewollt hätte. Das war eine finstere Zeit. Für alle Schriftsteller. Einmal kam jemand aus Moskau nach Czernowitz und suchte mich. Er ging zum Leiter des Czernowitzer
Schriftstellerverbandes und fragte nach meiner Adresse. Man sagte ihm: "So einen Schriftsteller gibt es in Czernowitz nicht". Ich hätte davon nie erfahren, wenn ich nicht den Mann, der mich suchte,
zufällig in der Straßenbahn getroffen hätte. Er hatte mein Foto in "Sowjetisch Heimland" gesehen und erkannte mich. Einige Tage später ging ich zu dem Leiter des Schriftstellerverbandes und
stellte ihn zur Rede. Er sagte, er habe eine Anweisung bekommen, demzufolge es in Czernowitz keine jüdischen Schriftsteller mehr gebe. Das war zu Beginn der achtziger Jahre, auf dem Höhepunkt der
antizionistischen Agitation. Damals war ich schon der letzte jüdische Schriftsteller in Czernowitz. Die meisten waren gestorben, andere nach Israel ausgewandert. Jahre später, 1992, gab es hier in
Czernowitz große Feiern zu meinem 80. Geburtstag. Auf einem Fest trat eben jener Leiter der Schriftstellerverbandes auf, der mich einst verleugnet hatte, und in seiner Rede überschüttete er mich mit
Komplimenten und sagte, wie stolz Czernowitz auf mich sei und was ich für ein großer Schriftsteller sei. Ich lebe nun mit solchen Erlebnissen schon über 50 Jahre. Lüge und Zweideutigkeit waren meine
Begleiter auf Schritt und Tritt.

"WZ": Glauben Sie überhaupt noch jemandem?

Burg: Ja, trotz allem. Es gibt sehr viele gute, anständige Menschen. Leider kann man nicht über Nacht anders werden. Ein Mensch ist kein Koffer, den man von der einen Ecke des Zimmers in eine
andere stellt. Ich bin jetzt, neben meiner schriftstellerischen Tätigkeit, auch Vorsitzender des Jüdischen Rates der Bukowina. Ich habe dort einen Kollegen, der vor zehn Jahren geschrieben hat, daß
man jeden Juden, der auswandern wolle, mit heißem Stahl übergießen solle. Er würde das morgen wieder schreiben, wenn es opportun wäre. Alles ist möglich. So ist es leider.

"WZ": Sehen Sie sich als den letzten Repräsentanten einer vergangenen Welt, einer untergegangenen Kultur?

Burg: Nein. Ich will mich nicht so sehen. Ich will nicht der letzte sein. Ich hoffe, nicht der letzte zu sein. Es gibt ein Sprichwort im Russischen: "Eine Stunde zur Nacht ist noch nicht Nacht".

Freitag, 01. Mai 1998 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:57:00

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