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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor zehn Jahren starb der ostdeutsche Dramatiker und Intellektuelle

Heiner Müller: "Mein Ekel ist ein Privileg"

Von Stefan Broniowski

Heiner Müller wurde am 29. Januar 1929 im sächsischen Eppendorf geboren. Seine Mutter war Näherin, sein Vater Verwaltungsbeamter. Als Kind erlebte Müller den Untergang der Weimarer Republik und die "Machtergreifung" der Nazis. Sein Vater, SPD-Mitglied, wurde 1933 von der SA "verhaftet" und ins KZ verschleppt, zwar wieder entlassen, später aber denunziert und erneut eingesperrt – traumatische Kindheitserinnerungen für seinen Sohn. Der besuchte im "Dritten Reich" die Schule und musste 1944 zum Arbeitsdienst, doch immerhin blieb ihm die Wehrmacht erspart: "Mein Krieg war ohne Schlacht" , sagte er später.

1948 machte Heiner sein Abitur, wurde Hilfsbibliothekar und betätigte sich als Journalist. Schon 1953 erwarb er die Mitgliedschaft beim Deutschen Schriftstellerverband. Er arbeitete als Redakteur einer Kulturzeitschrift und schrieb erste Theaterstücke: "Der Lohndrücker", "Die Korrektur". 1958 wurde er Dramaturg am Maxim-Gorki-Theater und erhielt 1959 den Heinrich-Mann-Preis. Sein Stück "Die Umsiedlerin" rief 1961 einen Skandal hervor: Die Staats- und Parteifunktionäre fühlten sich durch die Darstellung von Konflikten bei der Kollektivierung der Landwirtschaft brüskiert; Müller musste Selbstkritik üben, man schloss ihn aus dem Schriftstellerverband aus, das Theaterstück wurde verboten.

Die Kunst des Spagats

Seither war Heiner Müller, ohne sich je zum Dissidenten machen zu lassen, ein Problemfall. Seine Stücke wurden in der DDR zwar veröffentlicht und zum Teil auch gespielt, aber das Regime traute ihm nicht so recht und beruhigte sich allenfalls mit dem Gedanken: "Der stört uns nicht, was der schreibt, versteht kein Mensch." Aber Müller blieb stets loyal, mehr noch: Er unterhielt sogar Gesprächskontakte mit der Staatssicherheit, denunzierte jedoch niemanden, sondern versuchte eher, bei Konflikten anderer Autoren mit dem System zu vermitteln. "Ich hätte auch mit Stalin geredet, wenn's um jemanden gegangen wäre, oder mit Hitler."

Seine unhaltbare, aber stabile Position zwischen Loyalität und Abweichung, Zustimmung und Kritik, Ost und West umschrieb Heiner Müller so: "Ich stehe gern mit je einem Bein auf beiden Seiten der Mauer." Und Michael Töteberg meinte: "Die Kunst des Spagats beherrschte er perfekt: ein Grenzgänger und Transitreisender, der den Ideologen in beiden deutschen Staaten suspekt war und auch deshalb faszinierte".

"Wenn ich nicht rausgekonnt hätte, hätte ich auch nicht hierbleiben können. Ich hätte das meiste von dem, was ich geschrieben habe, nicht schreiben können, ohne zu reisen. Ich schrieb, was ich wollte, und wurde in der DDR zuerst noch verboten, dafür durfte ich im Westen gespielt werden. Wenn ich von dem hätte leben müssen, was ich in der DDR eingenommen habe, wäre ich längst verhungert gewesen. Mein Ekel ist ein Privileg, beschirmt mit Mauer, Stacheldraht und Gefängnis. "

Im Osten zwar nicht verfolgt, aber überwacht, feierte Müller im Westen seit den 70er Jahren mit seinen Texten große Erfolge und wurde nach und nach zum international meistgespielten deutschen Bühnenautor. Auszeichnungen und Preise stellten sich ein, so unter anderem der Lessingpreis der DDR (1975), der Mülheimer Theaterpreis (1979), der Büchnerpreis (1985), der Nationalpreis 1. Klasse (1986) und der Kleistpreis (1990).

Als dann sein Staat, die DDR, unterging – "Ich habe auf den Untergang gewartet, habe ihn aber nicht befördert. Man kann mir und anderen vorwerfen, dass wir mit ‚kritischer Solidarität‘ in unsern Lesern die Illusion genährt haben, dass eine Reform des Systems möglich ist" – , ließ Müller sich zum Präsidenten der Akademie der Künste Berlin (Ost) wählen, um der umstrittenen "Abwicklung" etwas entgegen zu setzen. 1992 wurde er eines von fünf Direktoriumsmitgliedern des "Berliner Ensembles", 1995 dessen alleiniger künstlerischer Leiter. 1994 diagnostizierte man bei ihm Krebs. Heiner Müller starb am 30. Dezember 1995 und wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt, wo neben Fichte, Hegel, Heinrich Mann, Johannes R. Becher, Paul Dessau, Anna Seghers und vielen anderen Berühmtheiten auch Bert Brecht, Müllers lebenslanges Vor- und Gegenbild, seine letzte Ruhestätte hat.

Politik in der Form

Heiner Müllers Stücke tragen manchmal schlichte Titel wie "Der Bau", "Zement", "Traktor", "Die Schlacht", "Mauser" oder "Quartett", oft auch komplexe wie "Hamletmaschine", "Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei", "Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten", "Anatomie Titus Fall of Rome", "Germania Tod in Berlin" oder "Germania 3 Gespenster am Toten Mann". Hier wird schon im Titel verraten, dass Müller als Autor weniger ein Erfinder als ein Vorfinder, ein Sammler, ein Verwerter ist. Er bedient sich bei den Stoffen und auch den fertigen Texten anderer, er übernimmt, überarbeitet, ergänzt, lässt weg, häuft Zitat auf Zitat, stellt Neues und Altes, Fremdes und Eigenes zusammen, oft auch unverbunden und unvermittelt, er montiert alles mit allem und verwandelt sich alles an.

Aber Müllers Theater wird deshalb keineswegs bloß von Subjektivität zusammengehalten, weder einer larmoyanten noch einer grandiosen. Hier geht es um Geschichte und Gesellschaft, um Pathos und Mythos, denn dieses Theater will extrem politisch sein. Das Politische in der Kunst aber kommt nicht aus den Stoffen oder Meinungen – da irrten unter anderem auch die sozialistischen Realisten –, es ist eine Frage der Gestaltung.

"Die Politik steckt in der Form, wozu sonst die Anstrengung der Kunst. Das Wesentliche an der Kunst ist das Unkontrollierbare, das Durchbrechen der Kontrolle, die Verunmöglichung von Kontrolle. Gute Texte leben von ihrem Rhythmus und strahlen ihre Information über diesen Rhythmus ab, und nicht über die Mitteilung. Auch das ist ein Negativprodukt von Aufklärung, dass die Leute ständig meinen, sie müssten etwas verstehen im Theater."

Lust an der Katastrophe

Was Müllers Texte antreibt, ist der Zustand der Welt, und mit dem steht es bekanntlich nicht zum Besten. "Wer könnte ungestört leben, die täglichen Katastrophen im Blick, außer ein Idiot oder ein Heiliger. " Müller ist weder das eine noch das andere, darum schreibt er. "Der eigentliche Spaß am Schreiben ist die Lust an der Katastrophe. Mein Hauptimpuls bei der Arbeit ist die Zerstörung. Also anderen Leuten das Spielzeug kaputt machen. Ich habe einen großen Spaß daran, Illusionen zu zerstören. Vielleicht, weil sie bei mir früh zerstört worden sind. Und nun will ich diesen Effekt bei anderen auch erleben. Das versuche ich, in meiner Arbeit zu tun: das Bewußtsein für Konflikte zu stärken, für Konfrontationen und Widersprüche. Einen anderen Weg gibt es nicht. Antworten und Lösungen interessieren mich nicht. Ich kann keine anbieten. "

Müller will den Menschen mit seinen Stücken etwas zumuten, auch wenn es nicht "die" Wahrheit ist. "Ich schreibe nur, was ich schreiben will, und es ist egal, ob Theater damit etwas anfangen können oder nicht. Das Theater kann sein Gedächtnis für die Wirklichkeit nur wiederfinden, wenn es sein Publikum vergisst. Der Beitrag des Schauspielers zur Emanzipation des Zuschauers ist seine Emanzipation vom Zuschauer. Ich habe, wenn ich schreibe, immer das Bedürfnis, den Leuten so viel aufzupacken, dass sie nicht wissen, was sie zuerst tragen sollen. Die Wirkung kann nur darin liegen, dass man das Publikum spaltet. Wenn das Publikum harmonisch zusammenklingt, dann hat man Erfolg, aber damit ist die Wirkung vorbei. "

Aber um welche Wirkung geht es überhaupt? Wozu schreibt Heiner Müller? Es geht ihm darum, "die Wirklichkeit, so wie sie ist, unmöglich zu machen. Texte müssen zu einer Realität werden, die nicht einfach abbildet, sondern die Sehnsucht oder Ahnung eines möglichen anderen nahebringt. Nur wenn man aus der Zeit aussteigt, kann man auf sie Einfluss nehmen. In der Kunstproduktion, beim Malen oder Schreiben jagt man immer nur den Träumen nach, im Umgang mit Realitätspartikeln dieselbe Freiheit zu erreichen wie im Traum. Dass der Traum genauso zu unserem Leben gehört wie der Alltag, das muss behauptet werden, muß durchgesetzt werden. Realität kann aufhören zu existieren, kann durch eine neue Realität ausgelöscht werden. Aber Träume kann man nicht auslöschen, sie existieren in einer anderen Zeit."

Die Toten bleiben jung

Deshalb schreibt Müller Literatur, die "mit mythologischer Präzision " Geschichte in Szene setzt. "Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft. Die Toten bleiben jung. Eine Funktion von Drama ist Totenbeschwörung - der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben worden ist."

Nach einem Jahrhundert voller gescheiterter Hoffnungen und verdrängter Verzweiflungen plädiert Müller für eine utopische Unerschütterlichkeit: "Wenn man keine Hoffnung mehr braucht und keine Verzweiflung einen mehr angeht, das ist ja eigentlich, was zu erreichen ist. Wer wirklich lebt, braucht weder Hoffnung noch Verzweiflung." Doch diesseits der Utopie wird noch gelitten und darum auch mit Leidenschaft geschrieben. Was bleibt: "Einsame Texte, die auf Geschichte warten."

Nun gibt es Heiner Müllers literarische Texte und auch seine Interviews. "Ich bin nur ein ernsthafter Schriftsteller, wenn ich schreibe. Wenn ich rede, bin ich oft nicht sehr ernsthaft. " Er hat viel geredet, oft zu viel. Die Fülle der veröffentlichten Gespräche und Monologe steht im Missverhältnis zu ihrem Gehalt. Oder wie Richard Herzinger meinte: "Müller verstand es, extreme politische, historische und philosophische Thesen provokativ zu präsentieren, sie aber so geschickt in Ironie und Selbstironie zu tauchen, dass niemand sicher sein konnte, wie ernst er es damit wirklich meinte."

Passenderweise tragen drei Sammelbände mit Interviews den Titel "Gesammelte Irrtümer". Es stört Heiner Müller nicht, wenn er sich selbst widerspricht, wenn an einem Tag das Gegenteil von dem verkündet, was er am Vortag behauptet hat. "Das einzige, was ich nicht offen sage, ist meine Meinung." Auch als Interviewpartner ist Müller eben Autor, Dramaturg, Regisseur und Schauspieler. In einem Gespräch fällt nebenbei der schöne Satz: "Ich weiß, dass das alles nicht stimmt, aber es trifft den Punkt." Das ist Müller pur. "Wer mit sich identisch ist, kann sich einsargen lassen, ist nicht mehr in Bewegung. Identisch ist ein Denkmal. Was man braucht, ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks."

Schon zu Lebzeiten oft wie ein Denkmal behandelt, ist Heiner Müllers Zukunft mit der seiner Stücke verbunden. Solange man die spielt, scheint man noch Verzweiflung zu haben – und noch Hoffnung zu brauchen.

Informationen zu Person, Werk und Wirkung Heiner Müllers im Internet unter: http://www.heinermueller.de.

Stefan Broniowski , geboren 1966, studierte Philosophie und Theologie und lebt als freier Publizist in der Nähe von Wien.

Freitag, 30. Dezember 2005 14:28:11
Update: Freitag, 30. Dezember 2005 15:36:00

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