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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Misstrauen und Restfragen

Von Christina Zoppel

Aufzählung Schweigen und Abschied sind zentrale Themen in dem Werk der Schriftstellerin Ilse Aichinger, die am 1. November 85 Jahre alt wird.

Als Ilse Aichingers erster und einziger Roman, "Die größere Hoffnung", 1948 erschien, wurde er als ähnlich verstörend empfunden wie Paul Celans Gedichte aus "Der Sand aus den Urnen". Heute gehört die irritierend poetische Schilderung von Kriegsgrauen und Verfolgung aus der Sicht des halbjüdischen Mädchens Ellen zum Kanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Ellen erfährt, was es bedeutet, einen gelben Stern tragen zu müssen. Doch die größere Hoffnung, die sie als Opfer den Tätern voraus hat, sichert ihr nicht das Überleben.

Ilse Aichinger hat den Krieg überlebt, in einem Zimmer unweit des Wiener Gestapo-Hauptquartiers. Als "Mischling 1. Grades" hat sie ihre jüdische Mutter, eine aus dem Stadtdienst entlassene Ärztin, vor der Deportation bewahrt. Ihrer Zwillingsschwester Helga gelang die Flucht nach England, die Großmutter und andere Verwandte starben in Konzentrationslagern. "Dieses Gefühl, dass die anderen weg mussten und man zurückgeblieben ist", ist Ilse Aichinger nie losgeworden.

"Spiegelgeschichte"

Bereits ein Jahr nach Kriegsende druckte Otto Basil in seiner Zeitschrift "Plan", in der auch Celan und Christine Busta veröffentlichten, einen erstaunlichen Text. "Uns selbst müssen wir misstrauen. Der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen!" , schrieb Ilse Aichinger in ihrem "Aufruf zum Misstrauen".

Sich selbst misstrauen, um wieder vertrauen zu können, den Menschen, dem Dasein und immer wieder den Wörtern. Es ist die Ambivalenz, die Ilse Aichingers Geschichten und Sprache durchzieht – und auch ihr Verhältnis zum Leben. "Schweigen" und "Abschied" werden zu zentralen Begriffen in ihrem Werk, die Skepsis gegenüber (ein-)gängigen Welterklärungen zu ihrem Grundthema.

1952 erhielt Aichinger – nach Heinrich Böll und Günter Eich, ihrem späteren Mann – für die Erzählung "Spiegelgeschichte" den Preis der Gruppe 47. In ihr wird das Leben einer jungen Frau rückerzählt, von ihrem Tod bis zu ihrer Geburt, spiegelverkehrt, ein Spiel mit der Wirklichkeit. Aichingers Texte fielen auf in der von Realismus geprägten deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, die auf der Suche nach Erklärungen und Antworten war.

Ilse Aichinger suchte keine Antworten, sie stellte Fragen, eine um die andere. " Restfragen ", wie sie sie später genannt hat: " Wer ist das, der das sagt?" oder "Wie heißt die letzte Frage?" Ihre Prosa, Dialoge und Hörspiele lösten sich immer stärker ab von einem herkömmlichen Realitätsbegriff. Traum und Tod sind allgegenwärtig, auf Handlungsbögen und Eindeutigkeit wird zunehmend verzichtet, die Dimensionen von Raum und Zeit sind vielfach aufgehoben.

Die Hörspiele im Band "Auckland" (1969), die Kurzprosa in "Eliza, Eliza" (1965) oder in "Nachricht vom Tag" (1970) machen es dem Leser nicht leicht. Er darf nicht vorwegdenken, vor allem keine Zusammenhänge herstellen, er soll nur lesen. Über Eliza etwa, die mit ihrer Familie einen Fächer bewohnt. Über Rotterdam, wo der Tag zu Hause ist. Über den "Weg nach Westen", der einen durch "Maine, Jawlonski, Kildaron, Strohhütten, Baumlöcher" führt.

Aichingers Sprache – von Ilma Rakusa einmal als " Poetik der genauen Ahnung, der stillen Subversion" bezeichnet – ist direkt und knapp, zugleich evoziert sie bildmächtig und auf kleinstem Raum Atmosphären und Situationen. Sie verleitet uns dazu, im Märchen- und Parabelhaften zu schwelgen, wo wir besser hinsehen sollten: auf uns und auf unsere Zeit, auf die Absurdität und Brutalität staatlicher und gesellschaftlicher Normen, auf die Widersprüche dieser Welt, die Aichinger in ihren Miniaturen aufzeigt. "Ich wollte keine Phantasie", betonte Ilse Aichinger. "Ich wollte die Wirklichkeit genau, so genau es geht."

Das Ringen mit der Unzulänglichkeit der Sprache ergibt sich daraus fast zwangsläufig. Aichingers Schreibstil veränderte sich, wurde präziser und schärfer, Sprachbezüge rückten in den Mittelpunkt. Ihre nur noch spärlich erscheinenden Texte der siebziger Jahre sind durchzogen davon. "schlechte Wörter" (1976) heißt der Band, in dem Erzählungen, Kurzprosa und das Hörspiel "Gare maritime" zusammengefasst sind.

Für die Gedichtsammlung "verschenkter Rat" (1978) erhielt Ilse Aichinger den Georg-Trakl-Preis und den Petrarca-Preis. Dennoch fanden ihre Gedichte – im Vergleich zu ihren Prosaarbeiten, für die sie viele Preise erhielt, darunter den Kafka-Preis und den Großen Österreichischen Staatspreis – wenig Beachtung.

"Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen", schrieb Aichinger einmal. Dass sich die Sprache entzieht, dass sie Widerstände entgegensetzt, hält sie fast für eine Begründung ihres Metiers und leitet daraus ihre Poetologie ab. "Die Aufgabe des Schreibens ist es, Stummheit immer wieder in Schweigen zu übersetzen." Und: "Um wieder notwendig zu werden, müssen die Wörter die Lautlosigkeit zurückgewinnen, aus der sie entstanden sind."

"Kleist, Moos, Fasane"

Sie meinte es ernst. Erst 1987 erschien, nach beinahe zehnjährigem Schweigen, der Band "Kleist, Moos, Fasane", Skizzen, ältere und neue Texte, Aphorismen.

Anlässlich eines Interviews zu ihrem 75. Geburtstag antwortete Ilse Aichinger auf die Frage, warum sie nichts mehr schreibe: "Ich muss nicht schreiben. Außerdem gehe ich gern ins Kino . . . Man taucht ins Dunkel, man ist unsichtbar. Ich hatte schon als Kind den Wunsch zu verschwinden." Sie hat dieses Verschwinden zelebriert, zeitweise täglich in verschiedenen Kinos in Wien.

1988 ist Ilse Aichinger wieder in die Stadt zurückgekehrt, in der sie aufgewachsen ist – nach vielen Jahren in Frankfurt am Main und in Großgmain bei Salzburg, wo sie mit ihrem Mann Günther Eich und den beiden Kindern lebte.

Die Plätze und Straßen der eigenen Kindheit hat Ilse Aichinger bereits in vielen ihrer Texte aufgesucht. In ihrer Autobiographie "Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben" (2001) konzentrieren sich die Beziehungen zwischen eigener und Kinogeschichte, zwischen Lebenden und Toten, die sie vom Rand ins Zentrum rückt. Diese "Randexistenzen" scheinen ihr wahrhaftiger als andere: die klavierspielende Tante, die nach Minsk deportiert wurde; eine halbjüdische Mitschülerin, die sich aus unglücklicher Liebe zu einem SS-Mann umbrachte.

Ilse Aichinger weiß, dass die Erinnerung " leicht splittert, wenn man sie zu beherrschen versucht". Wohl ist für sie deshalb die seit Jahren eingeübte kleine Form und nun die Zeitungsnotiz "der Kontrapunkt, mit dem das Verschwinden erst einsetzen kann".

Aichingers Zeitungskolumne "Journal des Verschwindens", die auch Teil ihrer Autobiographie ist, folgten die Reihen "Unglaubwürdige Reisen" (Buchedition 2005) und "Schattenspiele". "Erst jetzt habe ich das Gefühl, dass das doch mein Beruf ist", sagte Ilse Aichinger über die Fülle ihres neuen, assoziativen Schreibens. Ausgehend von Film und Kino, von persönlichen Begegnungen oder auch von ihrer Lektüre – wie Virginia Woolf, Thomas Bernhard, Simenon oder E.M. Cioran – legt sie in ihren Betrachtungen viele Querverbindungen, um weit auseinander liegende Figuren und Begebenheiten zusammen zu bringen. Und sie bleibt ihren Grundthemen treu: Schweigen, Abschied, Sterben, Überleben, und immer wieder besondere Orte und ihre Atmosphäre.

Bleibende Präsenzen

"Aber wie mir schon bei den Orten Dover und Calais auffiel: An den Orten, die die entscheidenden sind, soll man nicht bleiben, keine Hütte bauen" , schrieb sie im Frühling 2004. Ilse Aichinger verließ gerade Mauterndorf im Salzkammergut, wo Richard Reichensperger beerdigt worden war. Ihr "Kümmerer" und Herausgeber ihres Gesamtwerkes war bei einem Treppensturz tödlich verunglückt. Wenige Jahre zuvor war ihr Sohn auf ähnlich tragische Weise ums Leben gekommen. Sie gehören, wie andere Tote, für sie zu den "Präsenzen, die nicht weggehen" .

Ilse Aichinger selbst lebt zurzeit in einem Sanatorium in Wien. Mit ihrem Werk, das nie "in" war und alles andere als einfach handzuhaben ist, hat sie uns einige Aufgaben überantwortet: gegen Hierarchien und Selbstzufriedenheit anzugehen, für eine Strenge im Umgang mit der Sprache einzutreten, ebenso wie für den Geist und für notwendigen Zorn. Wie sie es im Fall des heiligen Martin getan hat.

"Nachruf / Gib mir den Mantel, Martin, / aber geh erst vom Sattel / und lass dein Schwert, wo es ist, / gib mir den ganzen." Vielleicht sind Widerständigkeit und Misstrauen die adäquaten Mittel, wenn es um die Wirklichkeit geht – genau, wie sie sein sollte.

Christina Zoppel, geb. 1971 in Bregenz, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in Wien, lebt und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Berlin.

Printausgabe vom Samstag, 28. Oktober 2006
Update: Freitag, 27. Oktober 2006 16:35:00

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