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Lachen über die Torheit der Welt

Das Narrenschiff in einer Abbildung aus der Erstausgabe.

Das Narrenschiff in einer Abbildung aus der Erstausgabe.

Von Oliver vom Hove

Aufz„hlung Vor 550 Jahren wurde Sebastian Brant geboren, der im Jahr 1494 den ersten europäischen Bestseller veröffentlichte: das satirische Epos "Das Narrenschiff".

Wann er geboren wurde, weiß man nicht so genau. Es ist ja auch schon 550 Jahre her. Soviel allerdings glaubt man zu wissen: Irgendwann im Jahr 1457 (so die ältere, verbreitete Version) oder 1458 (neuere Annahmen) wurde Sebastian Brant, Sohn des Gastwirts "Zum goldenen Löwen" Diebolt Brant, in seiner Heimatstadt Straßburg zur Welt gebracht. Höchste Zeit also, kurz nach dem Jahreswechsel auf den Geburtstag des berühmtesten, erfolgreichsten Dichters des ausgehenden Mittelalters, Verfasser der so vergnüglichen wie wirkungsmächtigen Zeitenwende-Satire "Das Narrenschiff", anzustoßen. Ohnehin ist jetzt die beste Zeit dafür: Denn ein in vielem närrisches Jahr ist abgetreten und hat dem Fasching, dem alteingeführten Haus- und Hoffest der Narren, Platz gemacht.

Fasnachtstraditionen

Auch der Alemanne Sebastian Brant, der sich seit seinem Studium in Basel, der Hochburg der oberrheinischen Volksfastnacht, niedergelassen hatte, wusste sich für den Entwurf seines dichterischen Hauptwerks bei dem heimischen Karnevalsbrauchtum zu bedienen: Seine in ganz Europa begeistert aufgenommene Narren-fregatte scheint mit ihrer tolldreisten Fracht an Modetoren und Zeitgeistlaffen, Geisteszwergen und Vernunftabtrünnigen direkt aus dem oberrheinischen Fastnachtshafen rheinabwärts zu steuern, dem ersten deutschsprachigen Bestsellererfolg entgegen.

Denn die auf alte, ursprünglich dem Dämonenabwehrkult entwachsene Bräuche zurückgehende alemannische Fastnachtstradition mit ihren eigentümlichen Spott- und Rügegerichtsszenen sieht vor, dass die in Gilden und Zünften korporierten Narren als theatralische Schausteller auf schaukelnden Karren oder Maskenwägen Bürgerstreiche oder lokale politische Missstände an den Pranger öffentlichen Hohns stellen: Fastnacht als kabarettistische Ständesatire, als Aufstand des Mimus gegen den übermächtigen Druck sozialer Ordnung, als mit Mummenschanz verbrämter politischer Protestzug.

Sebastian Brant hat, als er 1494 alle ihm bekannten Laster und Torheiten auf einem mit 111 Narren besetzten allegorischen Schiff in Buchform versammelte und einzeln vorführte, dieses populäre Fastnachtstreiben in Basel samt seinem reinigenden Besserungsaufruf gleichsam zum globalen Vorbild genommen: "Die ganz welt lebt in finstrer Nacht / Und duot in sünden blint verharren / All strassen / gassen / sindt voll narren." Wie zur Bestätigung der Brauchtumsherkunft lässt er auf dem prächtigen Holzschnitt des Titelblatts die schellenbemützte Narrenfracht auf einem Pferdekarren zum Abfahrtshafen anreisen, und später trägt eines der Beischiffe unverkennbar das Basler Wappen im Segel. In einem Zusatzkapitel zur zweiten Buchausgabe, "Von Faßnachtnarren", kehrt der Autor schließlich das Motiv der "vast nacht" (was doppeldeutig auch "ganz finstre Nacht" heißt) gegen diese "Narren-Kirchweih" um: Maskerade als unfreiwillige Selbstentlarvung, Narrenrevue als Schaustellung des wahren Menschenwesens.

Indes, Sebastian Brant war poeta doctus : ein Gelehrter, Rechtsprofessor in Basel, bewandert in der gesamten Literatur der klassischen Bildung. Der Straßburger hatte 1475 an der Universität Basel zu studieren begonnen, die erst 15 Jahre vorher gegründet worden war und für die geistige Entwicklung der deutschsprachigen Kultur durch die Jahrhunderte eine herausragende Rolle einnahm. Brant schrieb sich in der Artistenfakultät ein, deren Lehrfächer die "freien Künste" des Triviums (Grammatik, Arithmetik, Geometrie) und das Quadrivium (Musik, Astronomie, Dialektik und Rhetorik) umfassten. Grundlage des Studiums bildete die aristotelische Philosophie in der Lesart der Scholastiker, wie sie vor allem Brants Hauptlehrer Johannes Heylin vom Stein vertrat, ein gebürtiger Schwabe, der in Basel einen erlauchten Kreis von Anhängern des Humanismus um sich geschart hatte.

Auch Brants Freund, der nachmals berühmte Humanist und Philologe Johannes Reuchlin, hatte dort 1475 den Grad eines Baccalaureus Artium erworben; Brant tat es ihm zwei Jahre später gleich. Seine Interessen griffen sodann auch auf die Jurisprudenz über: 1484 erwarb er die Würde eines Lizentiaten des kanonischen Rechts und damit die Befugnis zu lehren sowie als Advokat zu wirken. Fünf Jahre später promovierte er zum Doktor beider Rechte, des kanonischen und des römischen, und war fortan – bis 1499 – als Professor der Universität wiederholt auch Dekan der juristischen Fakultät. Und: 1494 erschien zu Basel sein "Narrenschiff".

Ist demnach diese Navigation in satirischen Gewässern, die dem Liebhaber der einschlägigen römischen Autoren Juvenal, Plautus, Terenz, Persius oder Boethius (noch mehr schätzte er Ovid und Vergil) durch Lektüre nur allzu vertraut waren, bloß eine Gelehrtentollerei? Das Ganze nur ein Kompendium von hochtrabenden Vorurteilen und Rundumschlägen im Talar, ausnahmsweise nicht vom Katheder herabgeschleudert, sondern mit Hilfe der gerade erst ein halbes Jahrhundert alten Buchdruckkunst als dickleibiges Pamphlet zwischen Deckeln auf Papier gepresst? Vor dem Verdacht schützt den Autor allein schon die damals rare Wahl der deutschen Sprache. Sein Aufklärungswerk sollte möglichst viele Gesellschaftsschichten aufrütteln: "Ein schiff möcht nit all getragen / Die yetzt sindt in der narren zal." Daher bediente es sich, neben der ausdrucksstarken Bildermacht der größtenteils vom jungen Albrecht Dürer stammenden Holzschnitte, im Textteil der sonst in akademischen Humanistenzirkeln noch weitgehend gemiedenen Volkssprache und (vorerst zumindest) nicht des dem Autor ebenso geläufigen Gelehrtenlateins.

Das "Narrenschiff" blieb über Jahrhunderte die meistverbreitete deutschsprachige Publikation (neben der Luther-Bibel). Dieser einzigartige Erfolg wurde erst 1774 durch Goethes "Werther" übertroffen. Ganz Oberdeutschland war zur Zeit der Straßburger Predigtserie längst mit Originalausgaben oder Raubdrucken des Buches überschwemmt. Niederdeutsche und lateinische Übersetzungen folgten 1497: jene, "Dat Narrenschypp", verfertigt von Hans van Ghetelen in Lübeck, diese von Brants Schüler Jacob Locher und vom Meister selbst approbiert. Unter dem lateinischen Segel eroberte "Stultifera Navis" zunächst die europäischen Humanistenkreise und später, in zahlreiche Nationalsprachen übertragen, den eben erst entstandenen Buchmarkt Europas. Bis 1572 erlebte das lateinische "Narrenschiff" nicht weniger als 21 Druckausgaben. Die deutschen Neuausgaben erschienen sogar bis 1625 in ununterbrochener Folge.

Dichter der Zeitenwende

Wie ist ein so beispielloser Bucherfolg zu jenen Zeiten in Europa zu erklären? Brant stieß seinen Narrennachen mit kräftigem Stoß mitten hinein in eine durch Entdeckungen, Neuerungen, soziale Umwälzungen extrem verunsicherte Zeitenwende. Der Buchdruck revolutionierte die Kommunikation. Aus Italien drangen Renaissance und Humanismus vor und erschütterten das scheinbar festgefügte ordo-Regelwerk des Mittelalters. Kaiser und Reich befehdeten sich, vom Osten drängten die Türken heran und damit der verabscheute Islam.

Die Menschen zu Ende des Mittelalters glaubten entweder (wie Sebastian Brant und mit ihm die Mehrzahl) an ein nahes Weltende oder (wie eine Minderheit Wagemutiger) an eine neue Weltoffenheit, die von der Entdeckung neuer Kontinente – gleichsam einer "Globalisierung" der Weltsicht – ausgehen könnte. Gemeinsam war allen der Bedarf nach Orientierung, und die lieferte der kulturpessimistische Traditionalist Brant ex negativo: Er stellte Warntafeln statt (und als) Wegweiser auf.

Die Grundlagen für seine launigen Ermahnungen entnahm er, neben den antiken Lebenslehren, den Kirchenvätern, dem mittelalterlichen Corpus der kirchlichen Rechtsquellen, vor allem aber der Bibel: den Sprüchen Salomons, Stellen aus dem Prediger, dem Buch der Weisheit, dem Buch Jesus Sirach – und dem Neuen Testament. Außerdem bediente er sich der Tradition des mittelalterlichen Totentanzes: Sein Pandämonium menschlicher Torheiten schreitet den ganzen memento-mori-Kreis dieser Beschwörung jenseitiger Gerichtsbarkeit aus.

Durch alle Zeiten war die Narrenmetapher eine konservative Domäne: Wo etwas für ver-rückt erklärt wird, weiß zumindest einer (noch), was normal wäre. Und um daraus eine Narrenparade zu schaffen, um sie als Leser oder Zuhörer lachend verstehen zu können, müssen beide, Autor und Leser, sich über die Norm, das verletzte Rechtschaffene, einig sein: verlacht wird dann das Abnorme, der Irrwitz, die aus dem Lot geratene Welt.

So entstammt auch Brants dichterisches Mahnmal der verfehlten Lebensreise im Narrenschiff einer eschatologischen Weltsicht, geformt von einem theologischen Temperament. Tatsächlich ist die Gefährdung des postmortalen Glücksgewinns himmlischer Seligkeit in seiner moralisierenden Lehrdichtung die ständige Drohung. Allerdings: Der Dichter nimmt sich selbst nicht aus der Narrenparade heraus und entkräftet damit aufrichtig, doch nicht ohne dialektischen Witz den Vorwurf, ein außenstehender Besserwisser zu sein. Schließlich beginnt auch für ihn die sokratische Weisheit mit der Einsicht in die eigene Torheit: "Dann wer sich für einen narren acht / Der ist bald zue eym wisen gemacht."

Wie ging es mit Sebastian Brant nach seinem überwältigenden Bucherfolg weiter? So konservativ seine geistige Haltung war, so ingeniös wusste er sich der neuen Kommunikationstechniken – Buchdruck, Flugblatt, eigenes Konterfei als Markenzeichen – zu bedienen. Als Herausgeber klassischer und Verfasser kirchenrechtlicher sowie politischer Schriften war der mit Elisabeth Burg verheiratete Vater von nachmals sieben Kindern ununterbrochen lehrend und schreibend tätig und bediente sich dabei immer wieder auch der deutschen Sprache.

Hilfreich war ihm seine kongeniale Freundschaft zu dem aus dem Westfälischen stammenden Archidiakonus Johannes Bergmann von Olpe, der in Basel eine Druckerei fast ausschließlich für Bücher Brants gegründet hatte, die er in erstklassiger Ausstattung (Wahlspruch "Nüt on Ursach" ) unters Volk brachte.

Das Lob der Torheit

Brants politische Lieblingsidee, die besonders im 99. Kapitel des "Narrenschiffs", "Vom Verfall des Glaubens und des Reichs", behandelt wird, blieb die Verwirklichung des alten deutschen Kaisertums im heiligen römischen Reich. So wurde er zum entschiedenen Parteigänger und Propagator des 1486 gewählten Maximilian I. Als dieser 1499 in der Schlacht bei Dorneck eine Niederlage erlitt und sich Basel daraufhin 1501 an die Schweizerische Eidgenossenschaft anschloss, verließ Brant die Stadt am Rheinknie und kehrte nach Straßburg zurück, wo er 1503 das Amt des Stadtschreibers übernahm.

Eine Generation später wird abermals ein in Basel ansässig gewordener Gelehrter gezwungen sein, die Stadt zu verlassen: Am 13. April 1529 besteigt Erasmus von Rotterdam an der gewohnten Stelle der Rheinbrücke das Schiff, um vor der Reformation zu fliehen. In seinem ebenfalls epochalen "Lob der Torheit" (1509) wird er Sebastian Brants anprangernde Narrenmetapher umkehren: die Torheit erscheint jetzt als Brunnquell des Lebens, der Humbug als ausgelassene, lebensbejahende Schwester der Vernunft, Eigenliebe und Ruhmsucht als Triebkraft der Tätigen und die Liebe schlechthin als Glücks- und Vermehrungsversprechen der Natur.

Das meint zumindest eine Weisheit, die aus der heilsamen Torheit spricht – oder ist es umgekehrt? Erasmus führt den Leser so lange mit der dialektischen Doppelbödigkeit seiner Satire in die Irre, bis dieser endlich einsieht: Das scheinbar klare Ordnungsgefüge des Mittelalters ist zerfallen, willkommen in der Wahrheitswirrnis der Neuzeit.

Literatur:

Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Ãœbertragen von H. A. Junghans. Reclam Verlag, Stuttgart 1998.

Oliver vom Hove, in Großbritannien geboren, in der Schweiz und in Tirol aufgewachsen. Lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.

Printausgabe vom Samstag, 05. Jänner 2008
Online seit: Freitag, 04. Jänner 2008 15:22:09

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