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Stadionfüller und Verseschmiede

Es gibt die seit alten Zeiten überlieferte Überzeugung, dass die Araber ihre Sprache besonders lieben und eine spezielle Begabung für die Dichtung haben . . .  Foto: Kurt-Michael Westermann

Es gibt die seit alten Zeiten überlieferte Überzeugung, dass die Araber ihre Sprache besonders lieben und eine spezielle Begabung für die Dichtung haben . . . Foto: Kurt-Michael Westermann

Der heute 76-jährige syrische Lyriker Adonis ist ein Meister des Vortrags.  Foto: Weidner

Der heute 76-jährige syrische Lyriker Adonis ist ein Meister des Vortrags. Foto: Weidner

Von Stefan Weidner

Aufz„hlung Auf der Suche nach der Einheit von Welt und Wort, Gefühl und Sprache. Ãœber Mythos und Wirklichkeit arabischer Dichterlesungen.

Es ist eine vor allem unter frustrierten abendländischen Dichtern und Kulturkritikern verbreitete Ansicht, dass arabische Dichter in der Lage seien, ganze Fußballstadien zu füllen. Nicht Kulturpaläste, Theater und Konzertsäle, nein, Fußballstadien. Stimmt das nun oder nicht? Sagen wir: Es ist schon vorgekommen. Der Palästinenser Mahmud Darwish (geb. 1942), der Syrer Nizar Qabbani (1923 – 1998) und der Iraker Muzaffar an-Nawwab (geb. 1934) werden immer wieder als solche "Fußballstadionfüller" genannt. Dass sie dies tatsächlich vermochten, lag nicht nur daran, dass die Fußballstadien in der arabischen Welt früher eher klein waren (bestenfalls für 20.000 Zuschauer), sondern hatte konkrete politische und rezeptionsästhetische Gründe.

Mahmud Darwish etwa war schon mit seinem zweiten, 1964 erschienenen Gedichtband "Ölbaumblätter" zu dem Dichter des sozialistisch inspirierten palästinensischen Widerstandes gegen Israel geworden. Anders als heute waren seine Gedichte damals von liedhafter Einfachheit und hatten eine klare, engagierte Botschaft. Auch Ungebildete verstanden sie, sie wurden von berühmten Sängern gesungen und populär gemacht. Als Darwish, mittlerweile zum engeren Kreis um Arafat zählend, 1971 in den Libanon ging, wo Hunderttausende Palästinenser in Flüchtlingslagern lebten, waren seine Lesungen – man könnte sagen – politische Popveranstaltungen.

Dichter fürs Volk

Die beiden anderen arabischen Stadionfüller hatten ihre große Zeit ebenfalls in den siebziger Jahren. Beide waren Dichter fürs Volk, sicher keine Poeten für Intellektuelle. Wenn man einen groben Vergleich wagen will, könnte man die beiden mit Erich Fried und Charles Bukowski vergleichen. Qabbani ist als Liebesdichter berühmt geworden. Seine schwärmerischen Gedichte sind durchtränkt von überbordender Kerzenscheinliebesromantik und wirken in der deutschen Übersetzung meist kitschig. Sein Arabisch ist im Gegensatz zu dem früherer Dichtergenerationen ein leicht verständliches Alltagsarabisch, obwohl es Reim, Metrum und das klassische Repertoire an Metaphorik aufweist. Muzaffer an-Nawwabs Eigenart besteht darin, dass die meisten seiner Gedichte im (irakischen) Dialekt verfasst sind. Zwar verstehen alle anderen Araber den irakischen Dialekt nicht besser als etwa der Durchschnittsdeutsche die kölschen Texte von BAP, dennoch wirkt der Dialekt auf ungebildete Zuhörer natürlicher und kraftvoller als die Hochsprache. Dank seiner vor allem von ehemaligen Sozialisten und von Irakern als heroisch empfundenen Lebensgeschichte (gerüchtehalber war er mehrmals zu Tode verurteilt und wurde immer erst im letzten Moment von mächtigen Literaturliebhabern gerettet) ist er im Laufe der Zeit zu einem Mythos geworden. Summa summarum: Das Füllen von Fußballstadien hängt mehr mit externen Faktoren zusammen als mit exzeptioneller dichterischer Leistung oder einer besonderen Vortragskunst, auch wenn die beiden Faktoren sicherlich eine Grundvoraussetzung sind.

Wie tragen die Araber ihre Texte vor, worin besteht ihre Vortragskunst? Es besteht ja auch das Gerücht, die seit alters her überlieferte Überzeugung, dass die arabische Sprache eine ausgesprochen schöne, der Dichtung gemäße Sprache sei, und dass die Araber ihre Sprache besonders lieben und folglich eine spezielle Disposition und Begabung zur Dichtkunst hätten. Eine solche Auffassung hat sich schon in vorislamischer Zeit, also vor mehr als 1500 Jahren herausgebildet.

Die Kunst der Rezitation

Diese Ansicht hat dazu geführt, dass viele begabte Köpfe ihren Ehrgeiz im Bereich der Dichtung ausleben und dass tatsächlich auf Arabisch überdurchschnittlich viele anspruchsvolle Gedichte geschrieben wurden. Da die Überlieferung der Lyrik lange Zeit mündlich erfolgte und die Gedichte stets einem strengen Reimschema und alten, festgelegten Metren folgten, gehörte die Kunst der angemessenen Rezitation (die man nach unserem Verständnis als eine pathetisch-getragene bezeichnen könnte) seit jeher zu den selbstverständlichen Begabungen, die ein Dichter mitbringen musste. Lyrik zu verfassen war immer gleichbedeutend damit, Lyrik vorzutragen. Hinzu kommt, dass Dichtung, jedenfalls wenn sie volles Ansehen genießen wollte, in der Hochsprache abgefasst sein musste, die sich von den gesprochenen, muttersprachlichen, regional verschiedenen Dialekten so stark unterscheidet wie Hochdeutsch von einem zünftigen Schwyzerdütsch. Arabische Dichtung ist also eigentlich in einer Kunstsprache abgefasst, deren aktive und korrekte Beherrschung einen hohen Bildungsstand voraussetzt und keineswegs selbstverständlich ist.

Simple Reime und Metren

Eine negative Folge davon ist, dass sich in der arabischen Welt viele als Dichter bezeichnen, die es in unserem Sinne nie wären; sie beherrschen die Hochsprache und den konventionellen Formenkanon und schmieden damit zu verschiedenen Anlässen Verse, die sie vortragen oder manchmal – meist auf eigene Kosten – auch drucken lassen. Ist ihre Vortragsweise gut, kann das Publikum hingerissen sein, auch wenn die Texte inhaltlich wenig bedeutend sind – der Ton und die Aura der Hochsprache, die althergebrachten Konventionen von Reim und Metrum machen in diesem Fall die Musik. Einem gängigen Witz zufolge bricht das arabische Publikum schon dann in Begeisterungsstürme aus, wenn es bloß den Rhythmus eines Versmaßes und den Klang von Reimen hört.

Der Gebrauch der Hochsprache und eine pathetische Ausdrucksweise ziehen also einander an und bilden das Konglomerat "Dichtung", unabhängig von Gehalt und stilistischen Mitteln. Wie problematisch das ist, haben die Begabteren unter den arabischen Dichtern im Laufe des 20. Jahrhunderts erkannt. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die klassische Verslehre aufgebrochen und modernisiert worden, viele jüngere Dichter schreiben mittlerweile reine Prosagedichte. Zwei Grundelemente haben sich jedoch bis heute als unverwüstlich erwiesen: Die Wertschätzung für die Dichtung an sich und der Klang und die Aura des Hocharabischen. Immer noch gilt: Wer etwas auf sich hält, will sich "Dichter" nennen dürfen, selbst dann, wenn er neumodische Prosagedichte schreibt.

Das ist kein geringes Problem, denn mit dem Wegfall des klassischen Formenkanons fällt auch eine der großen Hürden zum Beruf des Dichters: die Kenntnis der Tradition. Verstärkt durch die Bildungsmisere in der arabischen Welt verhält es sich derzeit so, dass viele der jungen Prosagedichtschreiber die lyrische Tradition nur mangelhaft kennen und dementsprechend beliebig schreiben: jeder halbwegs originelle Gedankengang, jede beliebige surreale Tagträumerei wird schon zum Gedicht, zu einem Poem, das in jeder beliebigen anderen Sprache genauso hätte geschrieben werden können. Die einzige Verbindung zur klassischen arabischen Lyrik ist die hocharabische Sprache und – wenn das Gedicht zum Vortrag kommt – eben die pathetische Vortragsweise. Daher klingt ein durchschnittliches arabisches Prosagedicht für ungeschulte Ohren erst einmal ziemlich großartig, ganz gleich, was sich tatsächlich dahinter verbirgt. Um die guten von den mittelmäßigen Dichtern zu unterscheiden, wird man eher auf den Gehalt der Lyrik blicken. Es gibt nämlich mittlerweile auch viele gute Dichter, die schlecht vortragen.

Adonis und Darwish

Am interessantesten für das westliche Publikum sind sicherlich die Lyriker, die in Bezug auf den Gehalt ihrer Texte mitten in der Moderne stehen, gleichwohl aber Anklänge an die große alte Tradition nicht scheuen und diese Anklänge im Vortrag auch zu zelebrieren wissen – zum Beispiel der 1930 geborene Adonis oder auch Mahmud Darwish. Beide sind Meister des Vortrags und schlagen die Zuhörer in ihren Bann, beide faszinieren aber auch, wenn man ihre Gedichte bloß liest. Die Spannung, die sich daraus ergibt – 1500 Jahre alte Tradition in der Form der Präsentation, Moderne im übermittelten Gehalt – dürfte heute in der Weltliteratur nicht eben häufig zu finden sein.

Eine andere interessante Tendenz in der arabischen Lyrik verdanken wir den Dichterinnen und Dichtern, die zwar ihre Tradition kennen und schätzen, sich ihr aber dennoch nicht gänzlich verschreiben möchten, zum Beispiel die junge ägyptische Dichterin Iman Mirsal (geb. 1966), die in einem nonchalanten, gleichwohl korrekten Hocharabisch mit ironischer Brechung über den Alltag junger Frauen in Kairo schreibt. Passend dazu und in bewusster Abgrenzung zur Tradition trug sie, als sie im Sommer 2000 im Kölner Literaturhaus beim Festival "Atlas der neuen Poesie" erstmals in Deutschland öffentlich las, ihre Gedichte in einem unprätentiösen, rasch dahingesprochenen, stark vom ägyptischen Dialekt eingefärbten Arabisch vor, das – anders als ihre Gedichte – beim bloßen Zuhören wenig Eindruck machte – und auch gar nicht machen wollte. Diese Nonchalance im Gedichtvortrag ist als bewusste Emanzipation von einem übermächtigen literarischen Erbe zu verstehen. Nicht immer bringt diese Emanzipation, wie bei Mirsal, die besten Gedichte hervor, aber selbst bei mittelmäßigen Texten leistet sie ihren Beitrag zur Befreiung und Selbstbestimmung der Lyriker. Wer heute auf Arabisch schreibt, hat die Wahl, wie er es mit dem Pathos halten will. Und das ist gut so, denn es lenkt den Blick auf andere Qualitäten des Textes (. . .) Gleichwohl fasziniert uns Nicht-Araber die traditionelle Vortragsweise am meisten, selbst wenn wir ihr bei Prosagedichten begegnen, die sich eigentlich dagegen sträuben. Als Abbas Beydoun im Herbst 2004 im Salzburger Literaturhaus seine Gedichte aus dem Band "Eine Saison in Berlin vortrug" – reine Prosatexte, aber hochverdichtet, nachdenklich und ironisch –, geriet er, in völligem Kontrast zur Faktur der Gedichte, in ein melancholisch-melodiöses Intonieren, das sich ausgesprochen schön anhörte, dem man als Leser von deutschen Texten jedoch nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hat.

Fortsetzung der Tradition

So sehr sich nun auch die jungen deutschen Dichter wieder um die Kunst des Gedichtvortrags bemühen und auf eine gestylte "Performance" Wert legen, so sehr ist ihr Vortrag doch individuell und nach je eigenem Gutdünken konzipiert, zudem gibt es hierzulande, im Gegensatz zu den Arabern, keine überlieferte Vortragskunst – wenn man nicht das schmucklose, allenfalls ein wenig getragene Vorlesen dazu zählen will, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg bei uns eingebürgert hat.

So schön und so nötig die neue Vielfalt in der arabischen Lyrik ist, so sehr ist doch zu hoffen, dass diese Tradition des Gedichtvortrags auch in Zukunft würdige Fortsetzer findet. Wer einmal die Gelegenheit hatte, Adonis und Mahmoud Darwish bei ihrer Rezitation zu erleben, ahnt, was auf dem Spiel steht. Diese althergebrachte Kunst birgt eine geradezu utopische Verheißung: Dass Welt und Wort, Ding und Dichtung, Gefühl und Sprache wie im Goldenen Zeitalter noch einmal eine Einheit bilden könnten. Mag diese Einheit nie vorhanden gewesen sein, mag man nicht an sie glauben oder nicht – ohne die inspirierte Auseinandersetzung mit ihr ist bis heute Lyrik nicht zu denken, ganz gleich, wie sie vorgetragen wird – und in welcher Sprache.

Stefan Weidner

geboren 1967, lebt als Islamwissenschafter, Publizist und Übersetzer aus dem Arabischen in Köln.

"Weltempfang. Panorama internationaler Autorenlesungen" heißt der von Thomas Böhm herausgegebene Band (Tropen Verlag, 2006), aus dem sowohl nebenstehender Text von Stefan Weidner als auch jener von Stewart O‘Nan (Seite 3) stammen. Das Buch zeigt die Hintergründe, vor denen Literatur in anderen Ländern und Kulturkreisen entsteht und vermittelt wird. Weitere Autoren sind u. a. Georg Klein, T. C. Boyle, Kenzaburo Oe und Marlene Streeruwitz.

Printausgabe vom Samstag, 09. Dezember 2006
Online seit: Donnerstag, 07. Dezember 2006 19:11:32

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