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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Ein vielseitiger Erfinder von Erzählwelten

Von Olver Bentz

AufzŠhlung Alfred Döblin setzte mit seinem Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" neue Maßstäbe für die deutsche Literatur. Der politisch engagierte Arzt, Schriftsteller und Zweifach-Exilant verstarb vor 50 Jahren.

Mit "Berlin Alexanderplatz" schuf Alfred Döblin den vielleicht bedeutendsten Großstadtroman der deutschsprachigen Literatur und wurde zu einem Autor, der das geistige und gesellschaftliche Leben Berlins zur Zeit der Weimarer Republik mitbestimmte. Am 10. August 1878 als viertes Kind eines Schneidermeisters in Stettin geboren, studierte Alfred Döblin zunächst in Berlin und Freiburg Medizin. Nach dem Studium kehrte er 1906 in die deutsche Hauptstadt zurück, in der er schon seine Jugend verbracht hatte. Seine Mutter war 1888 mit den Kindern von Stettin nach Berlin gezogen, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte und mit einer wesentlich jüngeren Frau nach Amerika durchgebrannt war. Zunächst arbeitete Döblin als Assistenzarzt in der Berliner Städtischen Irrenanstalt in Buch und in einem Krankenhaus, ehe er 1911 eine Kassenarztpraxis für Nervenkrankheiten eröffnete.

Parallel zu seinem Brotberuf verfasste Döblin Erzählungen im Stil des gerade blühenden Expressionismus, mit denen er bald Aufmerksamkeit erregte. Er kam in Kontakt mit Herwarth Walden, der in seiner Galerie Bilder der Expressionisten ausstellte und expressionistische Texte sowie graphische Arbeiten in seiner 1910 gegründeten Zeitschrift "Der Sturm" publizierte. Walden war es auch, der Döblin in die Berliner Kunst- und Literatenszene einführte. Dessen erster großer literarischer Erfolg kam mit dem Roman "Die drei Sprünge des Wang-lun" (1915), der ihm mit dem Fontane-Preis 1916 eine renommierte Auszeichnung einbrachte. Damit sowie mit dem Novellenband "Die Ermordung einer Butterblume" (1912) und den Prosawerken "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine" (1918) und "Wallenstein" (1920) hatte sich Döblin binnen weniger Jahre als einer der führenden Vertreter der expressionistischen Literatur etabliert.

Unter dem Eindruck seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, dessen Schrecken er als Militärarzt in Lothringen und im Elsass erlebt hatte, bekannte Döblin sich 1918 zur Novemberrevolution. Er sympathisierte mit der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und bezeichnete seinen politischen Standpunkt selbst als "blutrot bis ultraviolett" . Nicht zuletzt das Elend, das er als Armenarzt kennen gelernt hatte, veranlasste ihn, sich auch als politischer Publizist zu betätigen. So verfasste er unter dem Pseudonym "Linke Poot" (das heißt, mit der linken Pfote geschrieben) von 1919 bis 1921 Essays für die "Neue Rundschau". 1924 wurde er erster Präsident des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller. Zudem war Döblin Mitbegründer der "Gruppe 1925", einer Vereinigung linksbürgerli cher bis kommunistischer Autoren, der unter anderen Johannes R. Becher, Ernst Toller, Joseph Roth, Robert Musil und Kurt Tucholsky angehörten.

Prosa im Film-Stil

Döblins bis heute bekanntester Roman, "Berlin Alexanderplatz" (1929), brachte eine bis dahin unbekannte stilistische Formenvielfalt in die deutsche Prosa: Mit der locker erzählten Geschichte vom Transportarbeiter Franz Biberkopf, dem es nicht gelingt, "anständig" zu bleiben, schuf Döblin durch die Verflechtung von Asso ziationen, die Anwendung der Bewusstseinsstrom-Technik, die montagehafte Einfügung von Alltagszitaten aus allen Lebensbereichen (Werbeslogans, Zeitungsausschnitte, Gerichtsprotokolle etc.) und besonders durch den im deutschen Roman bis dahin nicht angewandten häufigen Wechsel der Erzählperspektive – einer Praxis der Filmtechnik – ein besonderes Stück Literatur.

Wie kaum ein anderes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenes Prosawerk – ausgenommen der "Ulysses" von James Joyce und "Manhattan Transfer" von John Dos Passos – zeugt "Berlin Alexanderplatz" (bei aller Fragwürdigkeit und Bedrohlichkeit des Geschilderten) von der Faszination der Großstadt-Realität in den zwanziger Jahren. Mit allen Sinnen wird das Pandämonium Berlin, dessen verschiedene Milieus – von den Verbrecherkaschemmen und Hurenwinkeln bis hin zum Lichterglanz der Kunstpaläste – der Armenarzt Döblin nur zu gut kannte, sprachlich gebannt.

"Berlin Alexanderplatz" wurde das literarische Ereignis des Jahres 1929. "Von vorne nach hinten aufgerollt" , schrieb etwa Willy Haas in der "Literarischen Welt", "ist es eine Stadtwelt, ein ungeheuer reicher, lebensstrotzender orbis pictus von Berlin – mit einem Einzelschicksal in der Mitte." Wilhelm Michel bezeichnete das Buch in der Zeitschrift "Die schöne Literatur" als "eine Art ‚Faust‘ des kleinen Mannes, einen "Don Quichotte" auf Berliner Boden: "die Wüstenpredigt eines Täufers vom Alexanderplatz" . Herbert Ihering schlug Döblin im "Berliner Börsen-Courier" sogar für den Literaturnobelpreis vor: "Döblin wäre der einzige deutsche Kandidat für den Nobelpreis. Das wäre eine Tat. Sie würde dem ramponierten Preisgedanken plötzlich wieder Berechtigung geben." Doch war es Thomas Mann, der zehn Tage später den Preis erhalten sollte.

Seinen so erfolgreichen Roman bearbeitete Döblin auch als Hörspiel für den noch jungen Rundfunk. Er schrieb überdies zusammen mit Hans Wilhelm das Drehbuch für den gleichnamigen Film, der 1931 unter der Regie von Phil Jutzi mit Heinrich George in der Hauptrolle des Franz Biberkopf entstand. Neben "Berlin Alexanderplatz" zeigen viele andere Prosawerke die thematische und sprachschöpferische Vielseitigkeit dieses Autors: In immer neuen monumentalen Szenerien will er seine Maxime verwirklichen, dass ein episches Werk von den "Elementarsituationen des menschlichen Daseins" berichten müsse. Romane wie "Wallenstein" (1920), "Berge, Meere und Giganten" (1924), die Südamerika-Trilogie "Land ohne Tod" (1937 – 48) oder die Tetralogie "November 1918" (1948 – 50) geben davon Zeugnis.

Von den Nazis als Jude und als Linksintellektueller bedroht, trat Alfred Döblin wie Heinrich Mann, Käthe Kollwitz und Ricarda Huch Anfang 1933 aus der Akademie der Künste aus. Am 28. Februar 1933, einem Tag nach dem Reichstagsbrand, verließ er Berlin und floh mit dem Zug nach Zürich, wohin ihm seine Frau Erna mit den Kindern bald nachfolgte. In all den zwölf Jahren der Emigration, die folgen sollten, so erinnerte er sich später, trug er die Zugfahrkarte ins Exil in seiner Brieftasche bei sich.

Im August 1933 übersiedelte Döblin nach Paris, drei Jahre später erhielt er die französische Staatsbürgerschaft. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges arbeitete er unter der Leitung des Romanciers Jean Giraudoux im französischen Informationsministerium an der antifaschistischen Propaganda mit. Nach dem Angriff Deutschlands auf Frankreich schwebte Döblin, wie tausende andere vor Hitler geflohene Deutsche, in höchster Gefahr. Doch er hatte Glück: Über Portugal gelang ihm 1940 mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn nach einer abenteuerlichen Odyssee die Flucht in die USA, wo er in New York, Los Angeles und Hollywood lebte. Seine Exilzeit beschreibt er eindrücklich in dem 1949 veröffentlichten Buch "Schicksalsreise", in dem er auch seine in den USA vollzogene Konvertierung zum Christentum schildert. Nicht wenige Schriftstellerkollegen reagierten auf diese Wandlung mit Unverständnis oder offener Ablehnung.

Auch im Exil blieb Döblin literarisch äußerst produktiv. So entstand etwa der 1935 in Amsterdam veröffentlichte Roman "Pardon wird nicht gegeben", in dem Döblin unter Einbeziehung eigener Jugenderlebnisse den Aufstieg und seelischen Niedergang eines wilhelminischen Besitzbürgers beschreibt.

Exilantenschicksal

Im November 1945 kehrte Döblin als kulturpolitischer Mitarbeiter der französischen Militärregierung nach Deutschland zurück. In Baden-Baden, dem Verwaltungssitz der französischen Zone stationiert, gab er die Zeitschrift "Das goldene Tor" heraus, zudem gestaltete er regelmäßig literarische Radiosendungen für den neu gegründeten Südwestfunk.

Wie viele andere aus dem Exil zurückgekehrte Autoren musste auch Alfred Döblin die Erfahrung machen, dass er vom sich neu formierenden Kulturbetrieb der Bundesrepublik weitgehend ignoriert wurde. Nur wenige der jungen Intellektuellen interessierten sich für sein Werk, etwa Günter Grass, der ihn später als Lehrmeister des eigenen Schreibens bezeichnete. Seine im Exil entstandenen Bücher konnten jetzt zwar veröffentlicht werden, fanden aber kaum ein Echo, sodass auch die Verleger nach und nach das Interesse an Döblin verloren.

Unzufrieden mit der persönlichen wie auch mit der politischen Situation in Deutschland, zerknirscht von der offenen Antipathie, die ihm teilweise entgegengebracht wurde, zog Döblin die Konsequenz aus der jahrelangen Ablehnung, die man ihn so offen spüren ließ: Er entschloss sich zur erneuten Emigration, kehrte 1953 nach Frankreich zurück und bezog in Paris eine kleine Wohnung. "Ich bin in diesem Lande . . . überflüssig" , befand er über seine Situation in Deutschland. Und enttäuscht schrieb er, der sich "in diesem Lande, in dem ich und meine Eltern geboren sind" , nicht mehr wohl fühlte: "Das Lesepublikum wolle also nichts von mir kaufen, weil ich ein Emigrant sei, und noch dazu einer, der jetzt in französischen Diensten stünde. Aber ich wusste, sie mochten mich nicht eben aus Antipathie gegen das Anti hitlerische."

Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes musste Alfred Döblin in seinen letzten Lebensjahren dann aber doch viel Zeit in deutschen Sanatorien verbringen. Er starb am 26. Juni 1957 im Landeskrankenhaus in Emmendingen bei Freiburg im Breisgau. Zwei Tage später wurde er in Housseras in den Vogesen neben seinem Sohn Wolfgang, der sich 1940 auf der Flucht vor den deutschen Truppen das Leben genommen hatte, beigesetzt. Seine Frau beging am 15. September in Paris Selbstmord und wurde ebenfalls in Housseras beerdigt.

Literatur:

Oliver Bernhardt: Alfred Döblin. dtv-portrait. (Informative Biografie.)

"Alfred Döblin. Leben und Werk in Erzählungen und Selbstzeugnissen." Verlag Artemis & Winkler. (Werkproben und persönliche Texte.)

Salamon Dembitzer: Die Geistigen. Weidle Verlag. (Satirischer Schlüsselroman, in dem Döblin eine Rolle spielt.)

Olver Bentz, geboren 1969, Germanist, Kulturpublizist, schreibt im "extra" seit 1996, lebt in Speyer.

Printausgabe vom Samstag, 23. Juni 2007
Online seit: Freitag, 22. Juni 2007 16:30:00

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