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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Zum 80. Geburtstag des deutschen Schriftstellers Siegfried Lenz

Erzähler als Historiker

Siegfried Lenz Foto: dpa

Siegfried Lenz Foto: dpa

Von Peter Mohr

Siegfried Lenz ist einer der letzten großen deutschen Geschichtenerzähler, ein stilsicherer Traditionalist, ein schriftstellerisches Urgestein, das ganz der Kraft des Erzählens vertraut und zum Meister der "kleinen Tragödien" avancierte. Lenz neigt zum nordischen Understatement, ist ein verbaler Leisetreter – sowohl in seinen Büchern als auch in seinen Äußerungen als öffentliche Person.

Im Laufe seiner über fünfzigjährigen Tätigkeit als Schriftsteller hat Siegfried Lenz viel öffentliche Anerkennung und zahlreiche Literaturpreise erhalten. Aber kaum eine andere Auszeichnung hat ihn so gefreut und war gleichzeitig so sinnstiftend wie der ihm 1985 verliehene Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck. Die bisweilen chronistische Funktion seiner Romane, der deutliche Hang zur epischen Breite und die geradezu innige Verschmelzung mit seinen Figuren ( "Ich bin alle meine Figuren selbst" ) verbindet ihn mit Thomas Mann ebenso wie der hanseatische Lebensraum und die Affinität zur sanften politischen Einmischung.

Siegfried Lenz wurde am 17. März 1926 als Sohn eines Zollbeamten im ostpreußischen Lyck geboren – unweit der masurischen Seenplatte, deren malerische Schönheit er in vielen Werken gepriesen hat und die ihn später zum sanften Mahner gegen die fortschreitende Umweltzerstörung werden ließ. Erst Flakhelfer, "Notabitur", dann bei der Marine im Einsatz, schließlich in Dänemark desertiert und in britische Gefangenschaft geraten: Siegfried Lenz� Jugendjahre wurden durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Nach Kriegsende verschlug es ihn nach Hamburg, wo er Anglistik, Literaturwissenschaft und Philosophie studierte und zunächst Lehrer werden wollte. Ein doppelt glücklicher Umstand führte ihn in die Kulturredaktion der "Welt". Zum einen, weil er dort zu schreiben begann, zum anderen, weil er seiner damaligen Sekretärin menschlich näher kam. 1949 heiratet er die sieben Jahre ältere Liselotte ("Löchen"), jene Frau, die die handschriftlichen Manuskripte seiner ersten Artikel abtippte und die Anfang Februar 2006 in Hamburg gestorben ist. Für Siegfried Lenz ein schwerer Schicksalsschlag.

Hochgelobter Erstling

Lenz lebte mit ihr abwechselnd im Hamburger Ortsteil Othmarschen, in einem kleinen Dorf auf der dänischen Insel Alsen oder im schleswig-holsteinischen Tetenhusen, immer im Dunstkreis der Küste – dem Handlungsschauplatz vieler Lenzscher Werke. Schon 1951 gab Lenz nach Erscheinen seines hochgelobten Erstlings "Es waren Habichte in der Luft" seinen Job in der Kulturredaktion auf. Vier Jahre später schuf er die unvergessliche Figur des Hamilkar Schaß: ein einfacher Mann aus Masuren, der erst spät das Lesen erlernt, dann aber Bücher geradezu verschlungen hat und dessen Leben sich nur noch zwischen Buchdeckeln abspielte. Frühen Ruhm erwarb sich Lenz durch den meisterlichen Erzählband "So zärtlich war Suleyken" (1955) sowie die darauf folgenden Bände "Jäger des Spotts" (1958) und "Das Feuerschiff" (1960). Schon in diesen Frühwerken hat Lenz seinen Stil gefunden, den er – nur in Nuancen verändert – bis heute beibehalten hat. Siegfried Lenz� Sprachweise, diese wohlausgewogene Balance zwischen überbordendem Erzählfluss und einfachem Vokabular, wurde zu seinem Markenzeichen. Er hat damit ein Massenpublikum erreicht, wie die Gesamtauflage von über 25 Millionen Exemplaren weltweit belegt. Von seinen schriftstellerischen Anfängen bis heute hat er dem Verlagshaus Hoffmann und Campe die Treue gehalten, und seit mehr als 50 Jahren pflegt Lenz ein freundschaftliches Verhältnis zur Verlegerfamilie Ganske – eine Beziehung, die weit über die übliche Autor-Verlag-Beziehung hinausreicht.

"Er ist ein geborener Sprinter, der sich in den Kopf gesetzt hat, sich auch als Langstreckenläufer zu bewähren" , hatte Marcel Reich-Ranicki 1963 leicht despektierlich über Siegfried Lenz� frühe Romane geurteilt. Eine der Fehleinschätzungen des spiritus rector des "Literarischen Quartetts". Mittlerweile sind die beiden befreundet, und Reich-Ranicki hielt sogar 1985 die hymnische Laudatio bei der Thomas-Mann-Preis-Verleihung: "Siegfried Lenz ist es wie wenigen Schriftstellern unserer Epoche gelungen, in der erzählerischen Wiedergabe der Realität eine breite Leserschaft zu erreichen."

Tatsächlich hat Siegfried Lenz immer darauf beharrt, mit seinen Geschichten auch Geschichte zu erzählen. Am eindrucksvollsten gelang ihm dies im Roman "Deutschstunde" (1968) mit der Darstellung des Konflikts zwischen dem Kunstmaler Nansen, der Emil Nolde nachempfunden ist, und dem tumben, obrigkeitshörigen Dorfpolizisten Jepsen, der in der NS-Zeit das gegen seinen Jugendfreund Nansen verhängte Berufsverbot unnachsichtig überwachte. Jepsens Sohn Siggi rollt diesen "Fall" in einer Strafarbeit unter dem Titel "Freuden der Pflicht" auf. Die "Deutschstunde" wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehr als zwei Millionen Mal verkauft.

Ein Roman soll – so hat es Siegfried Lenz 1992 in seinem Essayband "Über das Gedächtnis" gefordert – primär Erinnerungsarbeit leisten: "Es wird der Erzähler sein, der uns den Strom vergangenen Lebens am anschaulichsten erfahrbar macht."

Der letzte große "Romanwurf" gelang Lenz 1978 mit dem "Heimatmuseum", dessen Umfang er "als unhöflich dick" bezeichnete. Ein leidenschaftliches Plädoyer für einen unideologischen Heimatbegriff, dargestellt am Schicksal des aus seiner masurischen Heimat vertriebenen Zygmunt Rogalla. Der Protagonist verbrennt sein in Schleswig-Holstein aufgebautes "Heimatmuseum", als revanchistische Vertriebenenverbände ihn politisch zu vereinnahmen versuchen.

"Heimat ist nur eine Erfindung der Melancholie" , heißt es im Roman. Insofern ist Lenz stets ein Melancholiker gewesen, denn sowohl Masuren als auch später Hamburg (oder die Küstenlandschaft im Allgemeinen) sind ständig wiederkehrende Schauplätze - so auch in seinen letzten Romanen "Arnes Nachlaß" (1999) und "Fundbüro" (2003). Lenz selbst bezeichnete kürzlich "Exerzierplatz" (1985) als jenen Roman, der ihm immer noch am meisten bedeutet.

Plädoyer für die Literatur

Nicht nur die Handlungsorte, sondern auch viele Motive tauchten in Intervallen immer wieder bei Lenz auf. Schon früh setzte er sich mit dem Älterwerden auseinander – erstmals 1959 in "Brot und Spiele" anhand der nachlassenden Leistungsfähigkeit eines Sportlers. Auch in seinem Essayband "Über den Schmerz" (1998) hat sich Lenz umfassend über Altersprobleme ausgelassen. Nie hat er so melancholisch, nie so selbstmitleidsvoll geschrieben. Außerdem ist der Autor im Laufe der Jahre etwas dünnhäutig geworden, beklagt er doch in diesem Band auch "die vergebliche Hoffnung des Schriftstellers, von seinem Kritiker allumfassend verstanden zu werden" . Wesentlich kämpferischer (sofern dieses Attribut auf den bedächtigen Lenz überhaupt zutrifft) präsentiert er sich im Band "Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur" (2001). Dass er in diesem Kontext ein leidenschaftliches Plädoyer für die Literatur als bewahrenswertes Bildungsgut hält, erscheint selbstverständlich. Seine Begeisterungsfähigkeit für die Literatur hat er sich auch in seinem jüngst erschienenen Aufsatzband "Selbstversetzung" bewahrt. "Schreiben ist eine gute Möglichkeit, um Personen, Handlungen und Konflikte verstehen zu können" , räumt Lenz der Literatur eine Art Funktion als "Schule des Lebens" ein.

Leben und Schreiben sind bei Lenz kaum voneinander zu trennen. Sein Alltag und sein literarisches Werk korrespondieren unentwegt miteinander: "Ich drehe mich einfach um in Augenblicken der Verzagtheit, oder der Bilanzwehmut, schaue auf die Buchreihe, die da steht, und finde ein gewissermaßen materialisiertes Leben vor" , erklärte Siegfried Lenz vor fünf Jahren in einem Interview.

Pünktlich zu seinem 80. Geburtstag ist nun ein 1600 Seiten umfassender Sammelband mit Erzählungen (neben anderen Sonderausgaben) bei Hoffmann und Campe aufgelegt worden. Der Name Siegfried Lenz ist zu einem Gütesiegel in der deutschsprachigen Literatur geworden. Dazu darf man aus aktuellem Anlass gratulieren und möchte ihm zuprosten – ganz nach norddeutscher Sitte mit einem Gläschen Aquavit, das bevorzugte Getränk vieler Lenz-Figuren.

Siegfried Lenz: Erzählungen. Mit einem Geleitwort von Marcel Reich-Ranicki. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006, 1600 Seiten.

Siegfried Lenz: Selbstversetzung. Ãœber Schreiben und Leben. Hoffmann und Campe, 2006, 128 Seiten.

Printausgabe vom Samstag, 04. März 2006
Update: Freitag, 03. März 2006 17:07:00

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