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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Was mache ich hier?

Von Stewart O'Nan

Aufzählung Der amerikanische Erfolgsautor über seine Eindrücke und Erlebnisse auf Lesetour durch die Vereinigten Staaten.

Meine allererste Lesung hielt ich nicht vor Lesern, sondern in einem Raum voller Schreibender. Ich las auch nicht eine eigene Arbeit vor, sondern die eines Anderen. Die Gepflogenheiten unseres Erzähler-Workshops brachten also eine andere Art Peinlichkeit mit sich. Denn man stand nicht vorne und las einen eigenen Text vor, sondern unser Lehrer wählte nach zufälligen Kriterien einen Mitstudenten aus (er hatte das Manuskript in der Woche zuvor mit nach Hause genommen und war es durchgegangen), und der stellte sich nun hin, um monoton vorzutragen.

"Keine Emotionen" , warnte unser Dozent. "Wir sind hier nicht an der Schauspielschule. Lesen Sie ruhig und langsam. Lassen Sie die Wörter die Empfindungen transportieren."

Ich stand da und trug eine Geschichte vor, in der es mir viel zu sehr um den Kühlschrankinhalt der Hauptfigur zu gehen schien. Es war leicht. Es war ja nicht mein Text, folglich war ich nicht nervös, und auch nachdem ich mich gesetzt und die Klasse damit begonnen hatte, den Text zu besprechen, war ich weder aufgeregt noch sonderlich erleichtert.

Ich erinnere mich, dass die Autorin sich bei mir für die Lesung bedankte; da ich aber das Gefühl kannte, jemand anderen durch meine Sätze stottern und stolpern zu hören, gehe ich davon aus, dass sie bloß höflich sein wollte.

Zu jener Zeit hörte ich regelmäßig eine Radiosendung mit dem Titel "Selected Shorts", in der Broadway- und Off-Broadwayschauspieler unter immensem Einsatz von Emotionen Kurzgeschichten vorlasen. Ich nahm die Sendungen auf und hörte sie auf dem Weg zur Arbeit noch einmal ab. Die Kunstfertigkeit, mit der diese Profis Richard Fords "Communist" oder Toni Cade Bambaras "Blues Ain‘t No Mockin‘ Bird" vortrugen, gab der ohnehin schon aus dem Vollen schöpfenden Erzählweise zusätzliche Kraft. Diese Neuinterpretationen waren viel unterhaltsamer als die trockenen "Caedmon"-Aufnahmen von Faulkner und T. S. Eliot beim Vortrag ihrer Werke, jedoch war ich schon damals Purist genug, um den Unterschied zu erkennen. Diese waren zwar gefälliger, aber sie entsprangen auch schauspielerischem Können; in gewisser Weise grenzten sie an Taschenspielerei. Jene dagegen waren, wenn auch enttäuschend so wenigstens ehrlich, und versuchten, dem authentischen Ausdruck des Autors näher zu kommen.

Als ich Jahre später meine erste öffentliche Lesung hielt, hatte ich zuvor nicht geübt. Ich geriet in Panik, las viel zu schnell und konnte froh sein, mich nur wenige Male verheddert zu haben. Die Lesung fand an der Universität von Illinois vor einem Kurs von Creative-Writing-Erstsemestern statt – ein undankbares Publikum, fand die Lesung doch während der regulären Unterrichtszeit statt. Den Studenten lag der Text nicht vor, deswegen fiel der Frage-Antwort-Teil kurz aus und ich kam mit einem leichten Gefühl von Leere davon. Hatten sie wirklich zugehört? Hatten sie sich gelangweilt? Hatte ich sie gut unterhalten? War es ihnen wie völlige (obendrein verordnete) Zeitverschwendung vorgekommen? Und war ich, als Vortragender, der Story gerecht geworden?

Lesungen als Tortur

Der Professor, der mich eingeladen hatte, lobte zwar meinen Text (auch er hatte ihn nie zuvor gehört) und versicherte, er habe den Studenten gefallen, aber dessen sicher sein werde ich wohl nie. Mich verblüffte, dass ich ein Honorar erhielt; die Tortur hatte sich zumindest teilweise gelohnt.

Damals bin ich oft zu Lesungen gegangen – ich tue es immer noch, es ist Privileg oder Wagnis dieses Jobs –, und während ich gelegentlich ein Körnchen Weisheit in den Autorengesprächen gefunden habe, hat es die Selbst-Auslegung von Texten durch die Autorin oder den Autor nur selten mit der stummen Lesestimme in meinem Kopf aufnehmen können. Es war mir eine Ehre, Denis Johnson oder Joanna Scott aus ihren Werken lesen zu hören, ihnen am Büffet spontan eine Frage zu stellen, mir ein Buch signieren zu lassen . . . Während der Lesung selbst aber wanderten meine Gedanken wie bei einem klassischen Konzert stets durch den Raum und stießen, einem Ballon gleich, an die Decke. Immer wieder fragte ich mich, warum ich dort war und nicht zu Hause, warum ich nicht las oder, noch besser, schrieb.

Später, als Student, wusste ich genau, warum ich dort war. Ich war ein Mitglied der literarischen Gemeinde geworden. Ich unterstützte andere Schriftsteller – Autoren, die zu Besuch kamen, bedeutende Literaturwissenschafter, oder einfach nur Kommilitonen. Bei der großen, vom Fachbereich Englische Literatur organisierten Master-of-Fine-Arts-Lesung setzte sich die Zuhörerschaft aus Studenten, Dozenten, Freunden und der Familie zusammen. Das gesamte Publikum hatte ein ureigenes Interesse am guten Ausgang der Lesung – und es konnte nicht aus dem Raum fliehen, egal, wie lang die Sache dauerte.

Das traf auf die Grüppchen (oder, manchmal, auf die bloß vereinzelten Besucher) nicht zu, die zu meinen Lesungen in Buchhandlungen erschienen waren, um mich aus meinem ersten Erzählband lesen zu hören. Abgesehen von ein paar Freunden aus entfernten Städten waren diese ersten Lesungen spärlich besucht, manchmal nur von den armen Seelen, die die Geschäftsführerin auf die von ihr so sorgfältig arrangierten leeren Stühle hatte nötigen können; oft verschwand dieses Zufallspublikum einfach oder es stellte nicht enden wollende, sinnlose Fragen – ein Beweis dafür, dass die Verrückten in den anheimelnden Riesenbuchhandlungen eine neue Zufluchtsstätte gefunden haben.

Ich tat mein Bestes, um dieses kleine, kauzige Publikum zu unterhalten, zurück im Hotel (oder im Mietwagen) fragte ich mich allerdings, wozu derlei Lesungen eigentlich gut waren. Ich bekam kein Honorar, und der Buchladen (und somit der Verlag) verkaufte keine Bücher. Die Pressefrau des Verlags rief mich an, um zu fragen, wie es gelaufen sei, und ich sagte: "Okay. Es waren ungefähr zehn Leute da, und der Buchhändler war wirklich nett. Ich habe gut gelesen." Und schon war ich wieder unterwegs, nach Phoenix, Albuquerque oder Denver.

Als ich mehrere Bücher veröffentlicht hatte, kamen mehr Leute zu den Lesungen – echte Leser, die meine Arbeit teilweise kannten und am Ende der Veranstaltung interessantere Fragen stellten. Ich übte lesen und wählte Texte aus, von denen ich hoffte, sie live gut rüberbringen zu können (was schwierig ist, da der ideale Vorlesetext kurz, lustig und in der ersten Person geschrieben sein sollte, wohingegen ich nur selten etwas Kurzes oder Lustiges schreibe und die dritte Person bevorzuge). Ich fragte mich immer noch, ob die Leute, die immerhin einen Abend geopfert hatten, um mich lesen zu hören, etwas für ihr Geld bekamen . . .

Ich erwarte gute Fragen

Ein ums andere Mal las ich dieselben Texte vor und war mittlerweile in Europa gewesen, wo ein Autor – wie hier bei Universitätslesungen oder Lesungen in öffentlichen Büchereien – für jeden Auftritt Geld bekommt. Es schien nicht länger der Mühe wert, in den USA binnen 22 Tagen in 20 Buchhandlungen zu lesen und dafür nicht bezahlt zu werden. Dennoch führte kein Weg daran vorbei. Die Werbeabteilungen sämtlicher großer Verlage hatten beschlossen, dies sei der beste Weg, ein Buch zu verkaufen – mit dem Ergebnis, dass in jeder größeren Stadt (einer "guten Bücherstadt" wie Boston, New York, Chicago oder Seattle) der Kalender vor lauter Lesungen überquillt. An einem verschneiten New Yorker Abend hatte die Leserschaft einmal die Wahl, entweder mich, Justin Cronin oder James Salter lesen zu hören. Ich gab meinem Publikum den Rat, zu James Salter zu gehen. Mich könne man jederzeit erleben.

Mittlerweile habe ich ein Dutzend Bücher veröffentlicht, und in den Buchläden erwartet mich ein mittelgroßes Publikum, abhängig von Stadt und Wetter. Ich weiß, wer kommen wird – Freunde und Kollegen, treue Leser oder neue Leser, die sich vom Setting oder Thema des neuen Buches angezogen fühlen; Leute mit schriftstellerischen Ambitionen, Sammler sowie Stammkunden, die immer erscheinen, gleich, welche Veranstaltung der Buchladen gerade ansetzt. Ich erwarte keine vollen Säle, nur ein lebhaftes Publikum mit guten Fragen. Ich versuche vorzulesen, ohne maßlos zu übertreiben, ich empfehle andere Autoren oder Bücher, die ich kürzlich gelesen habe, und ermutige die Leute, ihre öffentlichen Büchereien zu unterstützen. Ich signiere Bücher, bis alle zufrieden sind, und vielleicht bekomme ich zur Belohnung sogar ein Buch oder einen Vorabdruck vom Buchhändler geschenkt. Und ich hoffe, dass sich die Lesung für alle gelohnt hat.

(Übersetzt von Eva Bonné und Mirko Bonné.)

Stewart O'Nan

geb. 1961, arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte Literaturwissenschaft. Heute lebt er in Connecticut und ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Für seinen Erstlingroman "Engel im Schnee" erhielt er 1993 den W. Faulkner-Preis. Zuletzt ist auf Deutsch der Roman "Abschied von Chautauqua" bei Rowohlt erschienen. Der hier abgedruckte Text stammt aus dem Band "Weltempfang" (Tropen-Verlag).

Printausgabe vom Samstag, 09. Dezember 2006
Online seit: Freitag, 08. Dezember 2006 16:22:12

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