Wiener Zeitung Neu in der Linkmap:
 
  Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Das Unternehmen Benutzer-Hilfe
 Politik  Europa  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon Interview  Glossen  Bücher  Musik  Debatten 
Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Der Schriftsteller Gerhard Maria Rossmann ist gelähmt, blind und taub. Man kann mit ihm nur Kontakt aufnehmen, indem man ihm Buchstaben auf die Stirn schreibt.

Gerhard Maria Rossmann: Wunderbare Bilder im Kopf

Gerhard Maria Rossmann vertraut auf die ihm einzig mögliche Verständigungsart.  Foto: Richard Sonderegger

Gerhard Maria Rossmann vertraut auf die ihm einzig mögliche Verständigungsart. Foto: Richard Sonderegger

Marion Küng liest Rossmann vor, indem sie ihm geduldig ganze Romane auf die Stirn schreibt, sie lässt sich seine Texte diktieren und überarbeitet sie nach seinen Angaben.  Foto: Prugger

Marion Küng liest Rossmann vor, indem sie ihm geduldig ganze Romane auf die Stirn schreibt, sie lässt sich seine Texte diktieren und überarbeitet sie nach seinen Angaben. Foto: Prugger

Von Irene Prugger

"Es ist immer dasselbe, routinemäßig, gedankenlos, die allmorgendliche Ankleidung, der Waschgang und das tägliche Honigbrot mit dem Tee aus China oder Japan, den ich mir in meiner Genügsamkeit selbst kaufe: Man weiß schon längst, dass ich Kaffee zu trinken verabscheue, nicht zuletzt wegen der gesundheitsschädigenden Wirkung des Zuckers."

So beschreibt der 1964 in Göfis (Vorarlberg) geborene Gerhard Maria Rossmann in einem Prosatext den Beginn eines neuen Tages. Es ist ein gewöhnlicher Tag im Leben eines ungewöhnlichen Menschen, ein Tag in einem Altenpflegeheim, der nur wenig Zerstreuung bringen wird. Immerhin kann sich Gerhard Maria Rossmann auf den Besuch seiner Mutter oder von Freunden und Helfern freuen. Sie unterhalten sich mit ihm, indem sie ihm in Blockbuchstaben Wörter und Sätze auf die Stirn schreiben. Es ist die einzige Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten.

Im Alter von drei Jahren zeigten sich bei Gerhard Maria Rossmann erste Auswirkungen einer "Friedreich‘schen Ataxie", einer unheilbaren Nervenkrankheit, die ihm im Lauf der Jahre das Hörvermögen und das Augenlicht raubte und ihn in den Rollstuhl zwang. Da er auch seine Hände nicht bewegen kann und die Finger zum Teil gefühllos sind, ist es ihm nicht möglich, in Blindenschrift abgefasste Texte zu lesen. Dabei waren Bücher schon als Kind seine Leidenschaft.

Er hätte nach dem Hauptschulabschluss im Axamer Elisabethinum und dem Besuch des Polytechnischen Lehrgangs gern eine höhere Schule besucht, doch schon im ersten Jahr im Bundesoberstufenrealgymnasium Feldkirch zwang ihn die schlimmer werdende Krankheit zur Aufgabe seiner Pläne. Danach arbeitete er in einem Büro und in der Bücherei eines Krankenhauses. Schon damals war absehbar, dass er einmal völlig erblinden und ertauben würde. Gerhard Maria Rossmann nützte die Zeit, so viel wie möglich zu lesen. Er verfasste auch erste eigene Texte, gezwungenermaßen auf einer Schreibmaschine, weil die Hand bereits die Schreibdienste versagte.

Ein Nichts aus Stille und Dunkelheit

Die Stirn ist mittlerweile die sensibelste Stelle seines Körpers. Dahinter steckt ein frischer, lebendiger Geist, der ständig Anregungen sucht. Die Bücher, die er in seiner Jugendzeit gelesen hat, sind ein Schatz, aus dem Gerhard Maria Rossmann auch heute noch schöpft. Die Vorratskammer seiner Fantasie hält ihn am Leben und am Schreiben.

Eine literarische Ausdrucksform für seine eigenen Gedanken und Gefühle zu finden hilft ihm, das Chaos im Kopf zu ordnen, das ihn sonst vielleicht verrückt machen würde, weil er ständig gegen das Nichts in einem Kerker aus Stille und Dunkelheit ankämpfen muss – wobei "Stille" relativ ist, denn er leidet unter ständigem Tinnitus. Seine "Schreibkraft" in mehrfachem Sinn ist seine Herzensfreundin Marion Küng, die zweimal pro Woche ins Pflegeheim nach Satteins kommt. Sie liest ihm vor, indem sie ihm geduldig ganze Romane auf die Stirn schreibt, sie lässt sich seine Texte diktieren und überarbeitet sie nach seinen Angaben. Die Arztassistentin hat vor neun Jahren eine Radiosendung über das Schicksal von Gerhard Maria Rossmann gehört und wollte es nicht bei bloßer Betroffenheit bewenden lassen. In der Sendung wurden Menschen gesucht, die bereit waren, Gerhard Maria Rossmann regelmäßig zu besuchen, um Abwechslung in sein Leben zu bringen. Marion ist dem Aufruf gefolgt – und hat es bis jetzt noch keine Minute bereut. Die Freundschaft, die sich seit der ersten Begegnung entwickelt hat, bedeutet ihr ebenso viel wie ihm, auch wenn sie ihr viel Zeit und Kraft abfordert. Sie bewundert Gerhards schriftstellerisches Talent, seine Klugheit, seinen Humor und vor allem seine ungebrochene Willenskraft, die ihn auch in besonders schwierigen Zeiten nicht verlässt, denn natürlich gibt es auch Phasen der Verzweiflung.

Gerhard Maria Rossmann hat gleich gewusst, dass er Marion seine Texte "blind" anvertrauen kann. Sie war es auch, die damit begonnen hat, ihm Buchstaben auf die Stirn zu schreiben. Gemeinsam haben sie ein Kürzel-System entwickelt, sodass mittlerweile ein intensiver Gedankenaustausch möglich ist. Geduld braucht es dabei dennoch von beiden Seiten. Eine Innsbrucker HTL ist gerade dabei, ein Gerät zu entwickeln, das diese Art der Kommunikation auf technischem Weg ermöglichen soll. Gerhard und Marion freuen sich darauf, weil es den Umgang miteinander erleichtern könnte, aber die menschliche Berührung wird dieses Gerät – selbst wenn es hervorragend funktionieren sollte – nicht ersetzen können, das wissen sie beide. Aus der emotionalen Berührung entsteht in ihrem Fall das Verstehen.

Mehrere bemerkenswerte Publikationen, wie "Zur Insel sehen" (Fouqué Literaturverlag. 2002) oder "Harte Straße" (Rhätikon Verlag Bludenz, 2005), sind in dieser ungewöhnlichen und äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit entstanden. Sie beinhalten gefühlvolle Gedichte, Kurzgeschichten und Prosatexte, die Einblick in eine menschliche Existenz geben, die zwar von unermesslichem Leid bestimmt ist, sich aber dennoch voll Zuversicht dem Leben zuwendet. Dass sein Schicksal zum Schlimmsten zählt, was sich ein Mensch überhaupt vorstellen kann, will Gerhard Maria Rossmann so nicht gelten lassen. Humorvoll skizziert er alltägliche kleine Geschichten, bringt seine poetische Begabung zum Schwingen und verleiht der Freude über erhebende Momente auf beeindruckende Weise Ausdruck. 2003 wurde ihm für seine Arbeit der Life Award verliehen, eine Auszeichnung für Menschen, die trotz Behinderung Außergewöhnliches leisten.

Die Anerkennung seiner Arbeit erfüllt Gerhard Maria Rossmann mit Dankbarkeit. Sie beweist ihm, dass er nicht ins Dunkel spricht, dass seine Worte Widerhall finden, auch wenn er das selbst nicht hören kann. Besonders freut er sich über Einladungen zu Lesungen. Er ist dann mit Freunden unterwegs, die seine Texte fürs Publikum lesen und sie musikalisch gefühlvoll untermalen. Marion ist als Betreuerin immer mit dabei.

Sprechen mit Mühe

Während der Lesung sitzt Gerhard Maria Rossmann im Rollstuhl auf der Bühne und kann nur ahnen, was um ihn herum vorgeht, wie bewegt die Zuhörer von seinen Texten sind. Gegen Schluss gibt ihm Marion ein Zeichen, dann trägt er selbst ein Gedicht oder einen Text vor. Das Sprechen bereitet ihm Mühe, die Lähmung und der Umstand, dass er sein Sprechen nicht übers Gehör kontrollieren kann, haben seine Sprechfähigkeit beeinträchtigt. Den Applaus kann er nicht wie andere Künstler genießen, aber nachdem er mit seinem Text geendet hat, herrscht ohnedies einige Augenblicke lang atemlose Stille im Saal.

Es ist eine Stille, die Gerhard Maria Rossmann mit den Zuhörern teilt.

Das folgende Gespräch mit Gerhard Maria Rossmann ist bei einem Kurzaufenthalt des Autors im Axamer "Elisabethinum" entstanden. Marion Küng hat ihm die Fragen auf die Stirn geschrieben, und Gerhard Maria Rossmann machte es sichtlich Freude, sie zu beantworten. "Ein Vorarlberger wird von einer Tirolerin für die ‚Wiener Zeitung‘ interviewt? Das ist fast schon ein internationales Projekt" , scherzte er.

Wiener Zeitung: Woran arbeiten Sie zurzeit?

Gerhard Maria Rossmann: Ich arbeite gerade an ein paar Kurzprosatexten, in denen ich mich unter anderem mit den Geschehnissen von 2005 befasse. Damals wurde bei der Überschwemmung in meinem Heimatort Göfis auch mein Elternhaus vom Hochwasser erfasst. Es musste abgerissen werden, an seiner Stelle war nur mehr eine ebene Fläche aus Schutt und Erde. Da ich bereits erblindet war, habe ich die Ausmaße des Unglücks nicht gesehen, aber ich kann es mir trotzdem vorstellen. Es hat mir zugesetzt, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt mein Elternhaus gewissermaßen bereits verloren hatte, weil ich schon vorher ins Sozialzentrum übersiedelt bin. Bis dahin haben mich meine Eltern liebevoll zu Hause betreut.

Hilft Ihnen das Schreiben bei der Bewältigung Ihrer Behinderung?

Schreiben ist für mich eine Form der Kommunikation, eine Möglichkeit, mich auszudrücken und nicht in einer dunklen Kammer aus Taubheit und Blindheit gefangen zu sein. Es freut mich, wenn den Leuten meine Texte gefallen. Es gibt mir Mut, weiter zu schreiben. Wobei ich sagen muss, dass ich kein einziges Wort zu Papier brächte, da ich ja auch meine Hände nicht gebrauchen kann. Ich diktiere und Marion schreibt alles fleißig mit. Ich könnte auch keine Zeile lesen, wenn Marion nicht wäre und noch andere Freunde, die mich unterstützen. Hervorheben möchte ich dabei Renate Zimmermann, die mich seit zehn Jahren wöchentlich besucht.

Ihr bevorzugter Schriftsteller ist Siegfried Lenz. Was gefällt Ihnen so sehr an seiner Art zu schreiben?

Lenz ist kein Blabla-Schriftsteller, der einfach niederschreibt, was ihm in den Sinn kommt. Er ist ein konsequenter Denker und Formulierer. Die meisten seiner Texte haben mich betroffen gemacht und schaffen es immer wieder, mich betroffen zu machen. Auf eine Art, die mich zum Weiterdenken zwingt. Mit Lenz kann ich mich lange Zeit befassen, das hilft mir über den Tag. Wenn ich mit einem Schriftsteller einverstanden bin, brauche ich oft nur einige Buchstaben, und ich spreche den ganzen Satz schneller als der Leser lesen kann.

Woher bekommen Sie die Anregungen für Ihre literarische Arbeit?

Wenn ich meine Fantasien nicht hätte, wäre ich tot. Es dringen ja sonst keine Bilder mehr zu mir durch. Und Geräusche auch nur in Form von Ohrgeräuschen oder Kopfgeräuschen, die manchmal lärmen wie eine Waschmaschine, aber mit dem Leben nichts zu tun haben, weil sie keine Worte und Gespräche übermitteln. Ich hole mir die Bilder und Anregungen aus den Buchstabenzeichen, die mir meine Begleiter mit dem Finger auf die Stirn schreiben. So lesen wir ganze Romane. Früher, als ich noch selber lesen konnte, mochte ich Science Fiction, heute sind mir realistische Texte lieber, auch Zeitungsartikel, weil ich wissen will, was um mich herum vorgeht, wie die Welt draußen ist. Science Fiction empfinde ich heute als sinnlos, als Kanonenschuss in die Endlosigkeit, aber es gibt fantasiebegabte Schriftsteller, die mir wunderbare Bilder in den Kopf gesetzt haben . . .

Zum Beispiel?

Zum Beispiel aus einem Roman von Michael Ende das Bild einer im Weltraum treibenden Kathedrale, deren Allerheiligstes ein Tabernakel ist, der haufenweise Millionenscheine spendet. Es ist ein starkes Bild – oder das Bild von Zügen, die aus dem Nichts kommen und ins Nichts fahren . . .

Sind Sie ein gläubiger Mensch?

Ich glaube, dass es einen Gott gibt, und sehe auch mein Leiden als Geschick, das mir Gott auferlegt hat. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren und damit zurechtzukommen. So lange ich Menschen habe, die mir dabei helfen, ist das zu schaffen. Und ich muss natürlich auch mit meinen Wünschen zurechtkommen . . .

Wünschen für die Zukunft?

Zukunft ist für mich ein Wort aus einem Science Fiction-Roman. Damit kann ich mich nicht befassen. Ich hoffe darauf, einigermaßen gesund zu bleiben. Das klingt in meinem Fall vielleicht seltsam, aber es könnte ja alles noch schlimmer kommen. Ich muss zugeben, dass ich nicht gern in einem Alten-Pflegeheim lebe, denn selbst wenn man blind und taub ist, spürt man, ob einen eine heitere oder eine eher gedrückte Atmosphäre umgibt. Und ich habe immer gerne gelacht. Ein besseres Leben, das hätte doch jeder gern.

Am liebsten würde ich mich wohlig in der Wärme räkeln, das Leben genießen – so weit es mir zusteht – und fliegen können wie die Möwe Jonathan. Leise gesagt freue ich mich auf einen Computer, der mir und meinen Vorlesern das Lesen und Vorlesen erleichtern soll. Aber es ist schon ein Hochgefühl, wenn ich unter Leute komme, wenn mir jemand neue Anregungen schenkt. So beziehen sich meine Zukunftswünsche immer auf das nächste anstehende Ereignis, zum Beispiel auf die nächste Lesung. Ich hoffe, dass alles klappt und dass es keine langen Gesichter gibt.

Irene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Mils in Tirol.

Printausgabe vom Samstag, 25. November 2006
Update: Freitag, 01. Dezember 2006 17:08:00

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum · AGB