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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Mehr als nur die Erfinderin von Pippi Langstrumpf: Zum 100. Geburtstag der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren.

Anwältin der Kindheit

Auf der ganzen Welt populär: der Pippi Langstrumpf-Look.  Foto: dpa

Auf der ganzen Welt populär: der Pippi Langstrumpf-Look. Foto: dpa

Astrid Lindgren, geboren am 14. November 1907.  Foto: EPA

Astrid Lindgren, geboren am 14. November 1907. Foto: EPA

Von Uschi Schleich

Kann man über diese Frau etwas schreiben, das nicht schon hundertmal geschrieben worden ist? Sie selbst hat sich oft beklagt, dass alle immer nur das Eine wissen wollten: Wie entstand eigentlich Pippi Langstrumpf? Unendliche Male hat sie die Geschichte zum Besten gegeben. Und deshalb wird hier die Entstehungsgeschichte von Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf nicht noch einmal erzählt. Denn Astrid Lindgren war nicht Pippi Langstrumpf. So einfach ist das. Auf die Frage eines Journalisten, ob sie selbst sich hinter Pippi Langstrumpf verberge, soll sie verärgert geantwortet haben: "Dummsinnige Frage. Nein." Wer also war Astrid Lindgren, die Frau, die mit 80 Jahren noch auf Bäume kletterte?

145 Millionen Bücher

Eine "Meisterin der Poesie des Einfachen" , schrieb die "Welt", "zu groß für den Nobelpreis" , konstatierte Henning Mankell. "Eine Unsterbliche", "eine Anwältin der Kindheit", "eine Magierin", schrieben die Feuilletons der Tageszeitungen anlässlich ihres Todes vor fünf Jahren. Jetzt, zu ihrem hundersten Geburtstag, mehren sich die Superlative wiederum. Eine 52-seitige Pressemappe des Oetinger Verlages versucht, sich der Legende Lindgren in Zahlen und mit mathematischer Akribie zu nähern: Weltweit wurden 145 Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft, ist darin zu lesen. Zum Vergleich: "Harry Potter" – das steht übrigens nicht in der Pressemappe – brachte es bisher dank einer unglaublichen Vermarktungsmaschinerie zwar auf eine Gesamtauflage von 325 Millionen Exemplaren, dafür wurden die Bücher aber nur in 65 Sprachen übersetzt – Lindgrens Bücher hingegen in 92! (Darunter in so exotisch anmutende wie Lulesamisch, Zulu und Tatarisch.)

Allein in Deutschland sind 186 Schulen nach Astrid Lindgren benannt. Wie viele Harry-Potter-Schulen gibt es schon? Auf drei Seiten listet der Verlag 34 Auszeichnungen für die wohl berühmteste Kinderbuchautorin der Welt auf. Um nur einige zu nennen: 1965 Schwedischer Staatspreis für Literatur, 1978 Friedenspreis des deutschen Buchhandels, 1994 Ehrenpreis des Alternativen Nobelpreises und 1999 Wahl zur Schwedin des Jahrhunderts.

Doch Astrid Lindgren war mehr als eine Kinderbuchautorin, sie war auch eine Kämpferin für Kinder. In ihrer berühmten Rede "Niemals Gewalt" anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels plädierte sie mit Erfolg für eine gewaltfreie Erziehung. "Ich glaube, dass Erziehung Liebe zum Ziel haben muss, Zuneigung. Liebe kann man lernen. Und niemand lernt besser als Kinder. Wenn Kinder ohne Liebe aufwachsen, darf man sich nicht wundern, wenn sie selber lieblos werden." Nach ihrer Rede wurde in Schweden die körperliche Züchtigung von Kindern verboten.

Was denn das Geheimnis ihres Erfolges sei, und wie man gute Kinderbücher schreibe, wollten viele von der Erfinderin von Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, Kalle Blomquist und Karlsson vom Dach wissen. "Wenn du ein Rezept haben möchtest, dann nimm das von Schopenhauer: Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge" , hat Lindgren geantwortet und sich selbst in ihren eigenen Büchern konsequent daran gehalten. Außerdem hätte ein guter Text auch etwas mit Musikalität zu tun. "Ich muss spüren, dass der Text fließt, wie er soll. Ich schreibe um und ändere wieder, streiche unnötige Wörter, damit es besser klingt."

Über die Ignoranz mancher Autoren konnte sich Astrid Lindgren unglaublich ärgern: "Viele, die für Kinder schreiben, zwinkern über die Köpfe ihrer kindlichen Leser hinweg verschmitzt einem gedachten Leser zu, sie blinzeln Einverständnis mit den Erwachsenen und übergehen das Kind. Das ist eine Unverschämtheit dem Kind gegenüber." Sie musste es wissen: Fast ein Vierteljahrhundert lang arbeitete Astrid Lindgren als Lektorin für Kinderbücher.

Sie selbst dachte beim Schreiben ihrer Bücher nie an konkrete Leser, an Kinder ebenso wenig wie an Erwachsene: "Ich denke niemals, jetzt will ich mal so schreiben, dass die Kinderchen, die dies hier lesen, es lustig finden. Ich denke überhaupt nicht an sie."

Aber Astrid Lindgren hatte den Zugang zu ihrer eigenen Kindheit nicht vergessen, den sie als Voraussetzung dafür ansah, Kinderbücher schreiben zu können. "Man muss gar keine eigenen Kinder haben, um Kinderbücher schreiben zu können. Man muss nur selbst einmal Kind gewesen sein und sich daran erinnern können, wie das ungefähr war. Ich schreibe so, wie ich mir das Buch wünschte, wenn ich selbst ein Kind wäre. Ich schreibe für das Kind in mir."

Das Kind in sich hat sie ihr Leben lang gehütet. "Es gibt schließlich kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern" , erklärt sie an ihrem 80. Geburtstag, als sie zum Gaudium des schwedischen Fernsehpublikums mit einer Freundin um die Wette auf einen Baum klettert. Zu ihrem neunzigsten Geburtstag bekommt sie über ein Dutzend Postsäcke mit Briefen. Und als man einen kleinen Planeten nach ihr benennt, sagt sie: "Von jetzt an könnt ihr mich Asteroid Lindgren nennen."

Kritische Kinder

Von Kindern gelesen zu werden, war für Astrid Lindgren ein großes Privileg. "Um etwas dürfen uns, die wir Kinderbücher schreiben, alle anderen Autoren beneiden: um unseren wunderbaren Leserkreis." Astrid Lindgren machte sich über diese Leser jedoch nichts vor, denn sie wusste: Kinder können auch sehr kritisch sein – und sehr launisch. Im glücklichsten Fall lassen sie sich aber von einem Buch völlig verzaubern. Doch darauf, meinte Lindgren, brauche sich der Autor nichts einzubilden: "Es ist der kleine Leser selbst, der dieses Wunder vollbringt. Denn das Kind, und nur das Kind besitzt diese ewig beneidenswerte Phantasie, aus ein paar armseligen Steinen ein Märchenschloss zu bauen."

Sie selbst ist in "einem alten, roten Haus, das von Apfelbäumen umgeben war" , aufgewachsen. Es war der alte Pfarrhof Näs bei Vimmerby in Smaland, wo Astrid Lindgren am 14. November 1907 als Astrid Anna Emilia Ericsson geboren wurde. Sie war das zweitälteste von vier Geschwistern und schwärmte Zeit ihres Lebens von der großen Liebe ihrer Eltern zueinander und zu den Kindern. "Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit." Die kleine Astrid lebt ein glückliches Bullerbü-Leben in Näs. "Im Grunde genau wie die Kinder in den Bullerbü-Büchern."

Ihr Schreibtalent fällt schon in der Schule auf. Bestimmt werde sie eines Tages Schriftstellerin werden, bekommt sie immer wieder zu hören. "Vimmerbys Selma Lagerlöf" wird sie scherzhaft genannt. Den Vergleich mit der großen schwedischen Literaturnobelpreisträgerin mochte die junge Astrid Lindgren allerdings nicht. "Ich glaube, das hat mir Angst gemacht. Und ich habe mich nicht getraut zu schreiben, obwohl ich tief in mir drin spürte, dass mir das Schreiben Spaß machen könnte." Für längere Zeit hatte die Angst obsiegt: Lindgren beschloss, nie ein Buch zu schreiben.

Ein Unfall war schuld

Dass sie dann doch noch Kinderbuchautorin geworden ist, lag einzig und allein am Wetter, versichert Lindgren in ihren Erinnerungen. "Hätte es an einem bestimmten Märztag 1944 in Stockholm nicht geschneit, wäre es nie dazu gekommen." Und dann hätte das Mädchen mit den Ringelstrümpfen, Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf nie unsere Herzen erobert. So aber rutschte Astrid Lindgren auf frisch gefallenem Schnee aus, lag mit einem verstauchten Knöchel im Bett und schrieb jenes Buch über das freche Mädchen in der Villa Kunterbunt nieder, das ihren Ruhm begründen sollte.

Das Pippi-Langstrumpf-Manuskript wird 1944 vom renommierten schwedischen Albert-Bonniers-Buchverlag abgelehnt. Ein Jahr später gewinnt Astrid Lindgren aber mit ihrer Pippi den ersten Preis bei einem Kinderliteratur-Wettbewerb. Was folgt, ist Geschichte: Kalle Blomquist. Wir Kinder aus Bullerbü. Mio, mein Mio. Karlsson vom Dach. Michel aus Lönneberga. Die Brüder Löwenherz. Ronja Räubertochter. Bis heute 145 Millionen Mal Astrid Lindgren weltweit.

Keine Botschaft

"Ihr müsst euren Kindern den Weg zum Buch weisen!" schreibt sie über das grenzenloseste aller Abenteuer der Kindheit, das Lesen, in ihren Erinnerungen, betitelt: "Das entschwundene Land". Es sei auch der beste Weg für einen guten Kontakt zu den eigenen Kindern. "Zusammen mit eurem Kind müsst ihr lustige oder auch traurige Bücher lesen, egal welche. Eins weiß ich, ihr werdet bald entdecken, dass diese Bücher das beste Verbindungsglied sind, das es gibt. Vertrautheit stellt sich ein, wenn ihr zusammen über ein Buch lacht oder weint."

Was sie denn mit ihren Büchern beabsichtige, wurde Astrid Lindgren oft gefragt: "Ich habe keine Botschaft" , lautete ihr Credo. Es müsse, sagte sie, auch Bücher geben, die nichts als reines Leseerlebnis vermitteln. "‚Danke, dass Sie eine düstere Kindheit erhellt haben‘, stand auf einem kleinen Zettel, den mir eine unbekannte Frau einmal zugesteckt hat. Das reicht mir. Wenn ich nur eine einzige düstere Kindheit erhellen konnte, bin ich zufrieden." Und das dürfte Astrid Lindgren wohl mehr als nur einmal gelungen sein.

Literatur:

Astrid Lindgren: Das entschwundene Land. Übersetzt von Anna-Liese Kornitzky. Oetinger Verlag 2007, 103 Seiten.

Uschi Schleich, geb. 1964 in Südtirol, lebt als Journalistin und Universitätslektorin in Wien und Graz.

Printausgabe vom Samstag, 10. November 2007
Online seit: Freitag, 09. November 2007 16:27:34

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