Wiener Zeitung Neu in der Linkmap:
 
  Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Das Unternehmen Benutzer-Hilfe
 Politik  Europa  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon Interview  Glossen  Bücher  Musik  Debatten 
Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor hundert Jahren wurde der Romancier Alberto Moravia geboren. Kann man seine Bücher heute noch lesen?

Elegant erzähltes Lebensleid

Alberto Moravia (1907 bis 1990).  Foto: Ministero per i Beni e le Attivitá culturali

Alberto Moravia (1907 bis 1990). Foto: Ministero per i Beni e le Attivitá culturali

Von Christian Hoffmann

Zwischen dem Regisseur eines Films und dem Autor der Romanvorlage kann es, wie man weiß, recht gereizt zugehen. Aber die Schroffheit, mit der Jean-Luc Godard im Jahr 1963 den Mann bedachte, dessen Roman "Die Verachtung" er als Grundlage für den gleichnamigen Film benützte, ist einzigartig. Eine "nette, vulgäre Lektüre für eine Bahnfahrt" nannte der Regisseur das Buch von Alberto Moravia, der damals zum engeren Kreis der Kandidaten für den Nobelpreis gezählt wurde.

In jener Zeit stand der Zweite Weltkrieg den Europäern noch frisch im Gedächtnis, Existenzialismus und Engagierte Literatur waren noch modern, der Umbruch in Gesellschaft, Politik und Kunst hatte eben erst begonnen. Diese Ära liegt inzwischen schon weit zurück, und um das Werk von Moravia, der in den fünfziger Jahren eine Berühmtheit war und dessen hundertster Geburtstag am 28. November 2007 begangen wird, ist es stiller geworden. Deswegen mag die Frage berechtigt sein, was denn von Godards Urteil im Rückblick zu halten ist. Mit anderen Worten: War Alberto Moravia bloß ein Modeautor oder hat uns der Held aus den Tagen des Neorealismus nach all den Jahrzehnten, die inzwischen vergangen sind, noch etwas zu sagen?

Mährische Wurzeln

Moravia, das lateinische Wort für Mähren, ist ein Kunstname, den sich Alberto Pincherle (1907 bis 1990) zugelegt hatte. Sein Vater, ein Architekt jüdischer Abstammung, war aus Mähren eingewandert und hatte sich in Rom verheiratet. Dort kam Alberto zur Welt; im Alter von acht Jahre an Tuberkulose erkrankt, verbrachte er einige Jahre in Sanatorien, betreut von einer französischen Gouvernante und von Hauslehrern. Er war siebzehn, als er an seinem ersten Roman zu arbeiten begann, der 1929 publiziert wurde: "Die Gleichgültigen".

In diesem Erstlingsroman herrscht eine düstere, schwüle Atmosphäre. Die Witwe Mariagrazia sitzt mit ihrer Tochter Carla und ihrem Sohn Michele in einer Villa in einem guten Viertel der Stadt Rom beim Abendessen. Sie ist finanziell am Ende, kann sich das vornehme Haus längst nicht mehr leisten, tut jedoch alles, um den Schein zu wahren. Ihr Liebhaber, ein geschäftstüchtiger Makler, will ihre Lage ausnützen und versucht, das Anwesen in seinen Besitz zu bringen. Im Gegensatz zu ihren Kindern verweigert sich Mariagrazia hartnäckig der Wahrheit und spricht immer wieder von dem neuen Leben, das mit Carlas vierundzwanzigstem Geburtstag beginnen soll.

Aus wechselnden Perspektiven wird eine Geschichte erzählt, die auf eine Katastrophe zusteuert: Carla landet im Bett des Maklers und ihr Bruder Michele unternimmt zu guter Letzt einen Mordversuch, der allerdings kläglich scheitert.

Auch wenn Moravias Erstling in vieler Hinsicht noch der Schliff der späteren Werke fehlt, wenn manche Stelle auf den heutigen Leser gekünstelt und dekadent überspannt wirken mag, hat er doch eine ganze Menge zu bieten, was ihn über eine "nette, vulgäre Lektüre" im Sinne Godards hinaushebt. Die Befindlichkeit jeder der Figuren, die in wechselnder Perspektive erzählen, wird sorgsam entwickelt, ihre inneren Abgründe sind ebenso greifbar wie ihre Haltlosigkeit, das Verlorensein in einer brüchigen Welt, die zu einem großen Teil nur noch aus Äußerlichkeiten zu bestehen scheint. In erstaunlicher Klarheit zielt bereits dieser Erstling auf eine existenzialistische Sicht des Lebens.

In den Jahren des Faschismus und des Weltkriegs konnte Moravia zwar noch einen weiteren Roman veröffentlichen, "Gefährliches Spiel", vor allem arbeitete er jedoch als Journalist und tauchte nach dem Verbot der Satire "Die Maskerade" einige Zeit unter.

Der eigentliche Durchbruch erfolgte nach dem Ende des Krieges: 1947 erschien "Die Römerin", ein fünfhundert Seiten starker Roman, der Moravias späteren Ruhm begründete.

"Die Römerin" wird nur aus einer einzigen Perspektive erzählt: In Ich-Form schildert der damals vierzig Jahre alte Moravia die Geschichte von Adriana, einer jungen Frau, die von ihrer Mutter zur Prostitution gedrängt wird, damit die Familie der chronischen Armut entkäme. Und Adriana, die sich trotz heftigen Widerstrebens allmählich in diese Rolle hineinfindet, baut im Laufe der Romanhandlung einen Kundenstock auf, in dem sich die Wirren der Zeit widerspiegeln. Ein hoher Polizeioffizier, der der faschistischen Partei angehört, ist verrückt nach ihr, ein Student aus bürgerlicher Familie versteckt politische Flugblätter in ihrem Zimmer, ein ganz gewöhnlicher Krimineller verprügelt sie, um sie daran zu hindern, ihn zu verraten.

Der existenzialistische Zugang zur Welt wird in dem Buch über die schöne Adriana auf makabre Art zugespitzt. Mit dem moralischen Zusammenbruch am Beginn der Karriere als Straßenmädchen stürzt die junge Frau in eine innere Leere. Nach dem "Verzicht auf die alten Träume", nämlich die mädchenhaften Vorstellungen von einem geordneten Familienleben, erscheint das Treiben um sie herum in einer immer befremdlicheren Sinnlosigkeit: die Geldgier der Mutter, die Wünsche der Kunden, das Geschwätz der Kolleginnen.

Erst gegen Ende des Romans kommt eine verzweifelte Hoffnung auf, die sich auf das Kind gründet, mit dem Adriana schwanger ist. Es ist das Kind eines ihrer Kunden, eines Mörders, der bei einer Schießerei mit der Polizei umgekommen ist.

Die existenzialistische Fremdheit gegenüber dem Leben in jenen Jahren wird in gedrängter Form auch in dem Roman "Der Ungehorsam" artikuliert. Luca Mansi, fünfzehn Jahre alt, beschließt im Zuge des Heranwachsens, sich dem Leben zu verweigern. Schritt für Schritt baut Luca seinen Widerstand auf, seinen Ungehorsam gegenüber den Forderungen des Lebens, die eine nach der anderen benannt werden: "Wollte man leben, so musste man gern in die Schule gehen, Vater und Mutter lieben, Geld sparen, Besitz horten, essen." Der Ungehorsam, der Weg zum Nichts, besteht in der sorgfältigen Verneinung jeder einzelnen dieser Forderungen.

Auf knapp 120 Seiten findet, angelehnt an Dantes "Göttliche Komödie", die gerade im Italienisch-Unterricht durchgenommen wird, der Abstieg des Luca Mansi statt, ein gefahrvolles Unternehmen, das an die Grenze zum Tod führt. Als rettender Engel tritt im Finale eine ältliche Krankenschwester auf, die den jungen Patienten verführt und auf diese Art dem Leben zurück gibt.

Alle diese Bücher sind einfach zu lesen, nicht im Sinn der Eisenbahnlektüre, von der Godard gesprochen hatte, sondern insofern, als sie geradlinig und schnörkellos erzählt werden. Sie behalten aber auch im Abstand von Jahrzehnten eine bemerkenswerte Frische, die sie der Zeichnung der Figuren verdanken.

Zerfall einer Ehe

Wenige Jahre nach dem "Ungehorsam" entsteht der Roman "Die Verachtung". Darin verarbeitet der inzwischen herangereifte Autor den Zerfall der Ehe mit seiner Kollegin Elsa Morante. Die Hauptfigur, Riccardo Molteni, ist frisch verheiratet, Journalist und Autor mit großen Zukunftshoffnungen: "Ich war, so stellte ich mir vor, ein junger Mann, dessen Magerkeit, Kurzsichtigkeit, Nervosität, Blässe und Saloppheit der Kleidung zukünftigen literarischen Ruhm garantierten."

Seiner Frau Emilia zuliebe verdingt sich Riccardo jedoch als Drehbuchautor, um die Raten für die neue Wohnung und den Wagen bezahlen zu können. Mit dem Verschwinden der Geldnöte verflüchtigen sich jedoch auch seine Hoffnungen auf Erfolg als ernsthafter Autor und seine Selbstachtung. Begleitet wird dieser Vorgang von dem Erkalten der ehelichen Beziehung, einer unaufhaltsamen Entfremdung, gegen die Riccardo vergeblich ankämpft. "Ich verachte dich und du widerst mich an, so oft du mich berührst", wirft ihm schließlich Emilia im Zuge eines Ehekrachs an den Kopf.

Klassischer Aufbau

Moravia hat übrigens vollkommen Recht, wenn er im Gegensatz zu Godard "Die Verachtung" für ein Meisterwerk hält. Wie in allen seinen Romanen entfaltet er auch hier eine Meisterschaft, die sich in der sorgfältigen psychologischen Grundierung der Figuren, im klassischen Aufbau der Handlung, durch kunstvolle Spiegelungen des Hauptthemas in Nebenhandlungen ausdrückt, eine Kunst, die in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Mode kommen sollte und von der sich die darauffolgende Generation der Avantgardisten, der Godard angehörte, schroff abzugrenzen versuchte.

Für den heutigen Leser, für den auch die avantgardistischen Umwälzungen auf dem Gebiet der Künste bereits Geschichte sind, bleibt von dem fast fünfzig Jahre zurückliegende Eklat zwischen einem Autor und einem Regisseur nicht mehr als eine Anekdote. Der heutige Leser wird sich dem eleganten, klassisch anmutenden Raffinement schwer entziehen können, mit dem die Ehekrise zwischen Riccardo und Emilia einem vernichtenden Höhepunkt in der Villa eines Produzenten entgegensteuert, um dann ein plötzliches Ende zu finden, als Emilia bei einem Autounfall ums Leben kommt.

Dieser heutige Leser wird es vielleicht auch bedauern, dass von dem großen Gesamtwerk dieses italienischen Autors, das etwa fünfzig Bücher umfasst, derzeit nur einige wenige in deutscher Übersetzung greifbar sind.

Im Text erwähnte Ausgaben:

Die Gleichgültigen. Roman. Aus dem Italienischen von Tobias Eisermann. Verlag btb, München 2004.

Die Römerin. Roman. Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn. Verlag btb, München 2003.

Der Ungehorsam. Roman. Aus dem Italienischen von Lida Winiewcz. Verlag Kurt Desch, München 1964.

Die Verachtung. Roman. Aus dem Italienischen von Piero Rismondo. Verlag Kurt Desch, München 1963 .

Printausgabe vom Samstag, 24. November 2007
Online seit: Freitag, 23. November 2007 16:48:00

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum · AGB