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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Die Dichterin wird 80 Jahre alt

Mayröcker, Friederike: Poesie der tönenden Bilder

Von Christine Dobretsberger

Schreiben, über die Grenzen des Buches hinaus. Schreiben als Metamorphose visueller Eindrücke. Schreiben als behutsam komponierte Klanggeste - drei Versuche einer Annäherung an Friederike Mayröckers Poesie, die angesichts der Vielschichtigkeit ihres Werkes, immer nur Aspekte eines schillernden Ganzen spiegeln können. Denn Mayröckers Meisterschaft in Sachen Poesie erweist sich im Lauf eines anscheinend unabgeschlossenen Prozesses.

Schreiben bedeutet für die 1924 in Wien geborene Dichterin, die am 20. Dezember ihren 80. Geburtstag feiert, immer ein Weiterschreiben. Ein Blick auf ihre Werkliste bestätigt diesen Eindruck: Die letzten 45 Jahre hindurch hat Mayröcker jährlich etwa zwei Bücher publiziert. Diese immense Schreibleistung findet Niederschlag u. a. in den Bereichen Prosa, Lyrik, Kinderbuch und Hörspiel.

Die Musik der Sprache

Dass die Grande Dame der Poesie im Vorfeld des heurigen Literatur-Nobelpreises zu den Mitfavoritinnen zählte, darf einerseits als eine (mehr als verdiente) Geste der Anerkennung verstanden werden, grenzt aber andererseits doch wiederum an ein Wunder. Und zwar aus einem einfachen Grund: Mayröckers Werk entzieht sich mit Bedacht allen rationalen Einordnungsversuchen. Es hat den Anschein, als folge Mayröckers Poesie eher musikalischen denn linguistischen Prinzipien. Das Bild wird zum Wort, das Wort zum Klang, der Klang zu Inhalt und Form zugleich. So entstehen tönende Bilder, voller Symbolik und Zeichen.

Manchmal fungieren punktuelle Erinnerungsfragmente als Initialzündung für einen Text, dann

wiederum magisch anmutende Wortschöpfungen. Beiden wohnt eine schillernde Opulenz inne,

ein Tonfall, der die deutschsprachige Literatur um eine wesentliche Dimension bereichert. Dass Mayröckers dichterisches Werk selbst von Zitaten, Sätzen und Worten (u. a. von Hölderlin, Derrida, Arno Holz, Roland Barthes) inspiriert wird, rundet den Kreislauf einer miteinander verknüpften und doch völlig freischwebenden Dichtkunst ab.

Ihr viel zitierter und im wahrsten Sinne des Wortes haptischer Zugang zum Schreiben hat allerdings eine Vorgeschichte: Friederike Mayröckers Mutter war Modistin, die im Rahmen ihrer Arbeit auch Puppen entwarf. Auf einem riesigen Tisch lagen sämtliche Materialien und Stoffutensilien versammelt, die Mayröckers Mutter für ihre Kreationen benötigte. Bildhaft gesprochen, wurde auf einen Stoff zugegriffen, um daraus eine ihm entsprechende Form zu schaffen.

Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" bestätigte Mayröcker diese Analogie: "Das ist ganz richtig.

Wir haben die gleiche Arbeitsweise - wenn auch auf einem anderen Gebiet. Ich mache es genauso.

Ich decke mich mit Material

zu." Konkret bedeutet das, dass

Mayröcker "kisten- und körbeweise" Briefe, Zeitungsausschnitte und

Notizzettel aufbewahrt, um sie

im gegebenen Fall weiterzuverarbeiten. Auf diese Weise wird

jedes entlehnte Wort zu einem glänzenden Mosaikstein im Schreibprozess. Oder anders formuliert: Das Zitat ist Mittel zum Schreibzweck, ist Material, das in einen neuen "Aggregatzustand" versetzt werden will.

Mayröckers Poesie bewegt sich zwischen Hitze und Kälte. Die beiden Pole scheinen allerdings des Öfteren nur einen Atemzug voneinander entfernt zu sein. Herznahe Erinnerungen können von einem Wort zum nächsten - vom kühlen Schatten, den der Tod in jeder Sekunde vorauswirft - überlagert werden. Ähnlich wie bei doppelt belichteten Fotografien entsteht der Eindruck von Überblendungswelten, die, jede für sich, einen abgeschlossen Kosmos darstellen. Abhängig vom jeweiligen "Seh- und Hörwinkel" des Betrachters, können Friederike Mayröckers Texte wie Piktogramme des Augenblicks, aber auch wie raum- und zeitlose Gemälde einer unerschöpflichen Gedankenwelt gelesen werden.

Lyrik aus 65 Jahren

Die Dichterin selbst wagte einmal folgenden Vergleich: "Meine Prosa könnte ich mit der Arbeit eines Steinmetz vergleichen, die Gedichte dagegen sind gleichsam meine Aquarelle." Zeitgerecht zu ihrem 80. Geburtstag sind sämtliche Gedichte von Friederike Mayröcker im Suhrkamp Verlag erschienen. Der mehr als 850 Seiten starke Sammelband wurde von Marcel Beyer herausgegeben, der das schier Unmögliche möglich machte und rund 1.000 Gedichte (darunter über 100 Erstveröffentlichungen) in eine chronologische Abfolge brachte. Die Zeitachse, um die Mayröckers Texte rotieren, ist exakt 65 Jahre lang.

Ein Detail am Rande: Was mit dem ersten, im Jahr 1939 geschriebenen Gedicht "August" beginnt, lässt Marcel Beyer mit Mayröckers zum Zeitpunkt seiner Redaktion letzten, im Jahr 2003 geschriebenen und Ernst Jandl gewidmeten Text "unter Bäumen Tränenmorgen" ausklingen: "unter Bäumen saszen wir und Waldes Brausen unter / Bäumen sprachen zu einander schwiegen blickten / in den Wald der schon die Blätter warf und fegte / Lindenblütenblätter auf den Wegen unter Bäumen saszen / wir und schwiegen unter Bäumen ich allein und / schweigend ohne dich unter Bäumen du allein und/ schweigend ohne mich"

Der Tod ihres langjährigen "Hand- und Herzgefährten", Ernst Jandl im Jahr 2000 schwingt in nahezu allen danach entstandenen Texten mit. Aber auch die Trauer um die "vorgestorbene" Mutter manifestiert sich in Mayröckers Spätwerk wie ein verklungener und dennoch immer wiederkehrender Schatten, der sich nicht vom Licht lösen kann und will.

Die Leidensspur

Noch ein Wort zu ihrem ersten Gedicht: Obgleich Friederike Mayröcker im Alter von 15 Jahren "noch nicht genau wusste", was sie mit dem Schreiben bezwecke, war da bereits jene treibende Kraft, die bis zum heutigen Tag anhält: "Ich musste einfach schreiben. Was genau, habe ich mir nie vorstellen können. Ich muss vorausschicken, dass wir bis zu meinem elften Lebensjahr die Sommermonate in Deinzendorf, einem Dorf nahe der tschechischen Grenze, verbracht haben. Das war für mich der große Kosmos, der mir zugewachsen ist. Ich habe dort eine wunderbare Kindheit verbracht und mir alles einverleibt, was an Natur aufzufinden war. Ich erinnere mich, dass ich nachmittags stundenlang beim Brunnen gesessen bin und auf meiner Mundharmonika herumgespielt habe, ohne irgendeine Melodie herauszubringen.

Damals hatte ich genau dasselbe Gefühl wie jetzt, bevor ich zu schreiben beginne. Eine Art Melancholie oder Wehmut. Damals wusste ich noch nicht, was es bedeutet. Heute weiß ich, dass es die Vorbereitungszeit für meine Schreibanfänge mit 15 war. Es war eben dieses Gefühl: Ich bin auf einer Leidensspur. Und das hat sich fortgesetzt." So wie Mayröckers Texte, die wie Flächen ins Unendliche zu reichen scheinen.

Hinweise:

Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Herausgegeben von Marcel Beyer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 856 Seiten.

Edith Anna Kunz: Verwandlungen. Zur Poetologie des Übergangs in der späten Prosa Friederike Mayröckers. Wallstein Verlag, Göttingen 2004, 184 Seiten.

Am 20. Dezember (Beginn: 19 Uhr) findet

im Akademietheater ein Festabend für Friederike Mayröcker statt. An ihrem 80. Geburtstag liest die Dichterin neueste Prosa. Sie wird

dabei unterstützt von Ulla Unseld-Berkéwicz, Oswald Egger, Elfriede Gerstl, Durs Grünbein, Bodo Hell, Thomas Kling, Barbara Köhler,

Alfred Kolleritsch, Klaus Reichert, Wendelin Schmidt-Dengler und den Schauspielern Petra Morzé, Libgart Schwarz und Peter Mati.

Freitag, 17. Dezember 2004 00:00:00
Update: Donnerstag, 29. November 2007 13:51:00

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