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Salinger - Der unbekannte Erfolgsautor

Der 1919 geborene Jerome D. Salinger in jüngeren Jahren, als er die Öffentlichkeit noch nicht gänzlich scheute. Foto: Archiv

Der 1919 geborene Jerome D. Salinger in jüngeren Jahren, als er die Öffentlichkeit noch nicht gänzlich scheute. Foto: Archiv

Von Christina Zoppel

Zum 90. Geburtstag des Schriftstellers Jerome D. Salinger, der 1951 den Weltbestseller "Der Fänger im Roggen" schrieb und sich seither dem Literaturbetrieb entzieht.

Der erste Bandname der Britpop-Gruppe Blur war Seymour – nach einer literarischen Figur J. D. Salingers. Auch PJ Harvey bezieht sich in mehreren Songs auf Salingers Kurzgeschichten, und Johnny Depp gestand vor wenigen Jahren: "Ich kam nach Hollywood und las den Fänger. Danach war alles anders, es ging los." Jerome David Salinger zählt, obwohl er seit 1965 kein literarisches Wort mehr veröffentlicht hat, nach wie vor zu den bekanntesten Autoren des 20. Jahrhunderts. Das liegt vor allem an einem Buch, dessen Beliebtheit und dessen ökonomischer Ertrag für den Autor nicht enden: "The Catcher in the Rye" (Der Fänger im Roggen), erstveröffentlicht im Juli 1951.

Die Geschichte des jugendlichen Helden, Holden Caulfield, der wieder einmal von einer Eliteschule fliegt, weil er sämtlichen Ansprüchen des Lehrkörpers widerstanden hat, und einige Tage durch das vorweihnachtliche Manhattan streift, ist mittlerweile Generationen von Lesern geläufig. Das gilt genauso für die traurige Begebenheit mit Mark David Chapman, der am Abend des 8. Dezember 1980 John Lennon erschoss – und angab, im "Fänger" die "Aufforderung" gelesen zu haben, eine Berühmtheit zu töten, um dem Buch zu Weltruhm zu verhelfen. Es wäre nicht nötig gewesen.

Literarisierte Umgangssprache

Noch heute werden jährlich über 250.000 Neuexemplare verkauft. Und noch heute wirkt die literarisierte Umgangssprache, mit der Holden den Leser in frappierender Unmittelbarkeit anspricht, kein bisschen verstaubt. Sie trägt wesentlich dazu bei, das gerade junge Leute einen leichten Zugang zu dem Buch haben; sogar, wenn es zur Pflichtlektüre im Englischunterricht gehört.

Salinger formt das Ringen mit dem Erwachsenwerden, die Beschwerlichkeit, sich der Welt mitzuteilen, die Aussichtslosigkeit, auf Verständnis zu hoffen, auf unerhörte Weise in Literatur. 255 "goddams" und 44 "fucks" wurden in der Originalausgabe gezählt, nicht zu reden von Holdens Saufeskapaden oder Begegnungen mit Prostituierten. Bis in die 1970er Jahre war "Der Fänger im Roggen" mancherorts als unmoralisch verboten oder wurde nur an Erwachsene verkauft. "My boyhood was very much the same as that of the boy in the book. ( . . .) It was a great relief telling people about it", meinte Salinger in einem Interview, das er 1953 einer Highschool-Zeitung gab. ("Meine Bubenzeit war sehr ähnlich wie die des Buben im Buch. Es war eine große Erleichterung, den Leuten davon zu erzählen.")

Ein Meister der kurzen Form

Jerome David Salinger, am Neujahrstag 1919 im New Yorker Stadtteil Manhattan geboren, besuchte selbst mehrere Privatschulen. Bereits im Schultheater bewies er sein dramatisches Talent als Schauspieler. Seine erste Publikation, die Erzählung "The Young Folks", erschien 1940 in einem Story-Magazin. Seine Versuche, Texte beim renommierten Kulturblatt "The New Yorker" unterzubringen, scheiterten vorerst. 1941 akzeptierte die Zeitschrift zwar "Slight Rebellion off Madison" – der Protagonist: "a disaffected teenager named Holden Caulfield" –, doch durch den Angriff auf Pearl Harbor und den Krieg verzögerte sich die Veröffentlichung bis 1946.

Salinger wurde 1942 in die Armee eingezogen. Während des Krieges erschienen einige Geschichten in "Colliers Magazine" und in der "Saturday Evening Post". Die Jugend mit ihrer tastenden Unsicherheit, ihrer Lebensgier, aber auch mit ihrer energetischen Weisheit sollte das zentrale Thema Salingers bleiben.

1948 akzeptierte der "New Yorker" endlich eine zweite Erzählung, "A Perfect Day for Bananafish" (auf Deutsch im Band "Neun Erzählungen" enthalten, der leider nicht mehr neu lieferbar ist). Es war der Beginn einer dauerhaften Zusammenarbeit, die Zeitschrift wurde in den folgenden 18 Jahren zum Erstpublikationsorgan Salingers.

"A Perfect Day for Bananafish" läutete für die amerikanische Literatur die elf Jahre währende "Ära Salinger" ein. Für den Autor selbst begann die – vielleicht bis heute nicht abgeschlossene – Ära der "etwas zu groß geratenen" Varieté-Familie Glass. Ihren Mitgliedern begegnet man in einigen kurzen und in allen langen Erzählungen, die Salinger noch publizierte: etwa in "Franny" (1955), "Raise High the Roof Beam", "Carpenters" (1955), "Zooey" (1957) und "Seymour: an Introduction" (1959). (In Annemarie und Heinrich Bölls Übersetzung bei rororo als "Franny und Zooey" und "Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute" erschienen, nicht mehr lieferbar.)

Die Glass-Erzählungen offenbaren einen bemerkenswert sich verändernden Stil, in dem das Dialogische intensiv und dialektisch wird. Auf Handlung wird weitgehend verzichtet, die Abschweifungen werden mehr, Beschreibungen von Gesten oder Interieurs sind so detailliert, das man die kratzige Weichheit der Decke, unter der Franny liegt und sich die Augen ausheult, selbst zwischen den Fingern zu spüren meint. Salingers junge Protagonisten ringen nämlich nach wie vor nach möglichen (spirituellen) Weltanschauungen, nach einer Position für sich in all der unübersichtlichen Fülle des Lebens.

Franny, die Genervte und Ungeduldige mit ihrem "Tierheimherzen", ist das jüngste der sieben Glass-Kinder. Dann ist da Zooey, der Schauspieler, der sich selbst für ein Monster hält. Da ist Seymour, der Älteste, der seine Existenz in Salingers Werk mit einem Knalleffekt beginnt: Nicht lange zurückgekehrt aus dem Krieg, erschießt er sich am Ende von "A Perfect Day for Bananafish"auf seiner Hochzeitsreise. Und da ist schließlich Buddy, der ständig abwesend ist und präsent zugleich. Als Schriftsteller ist er der Chronist der Familiengeschichte. Buddy hat sich dazu in ein einsames Haus auf dem Land zurückgezogen, wie sein Schöpfer. Salinger hatte New York und dem Rummel um seine Person – der "Catcher" hatte die "New York Times"-Bestsellerlisten 30 Wochen lang angeführt! – zu der Zeit bereits den Rücken gekehrt. Im Örtchen Cornish in New Hampshire ließ er sich nieder. Bei seinen Fans, bei Nachbarn oder der Presse war und ist Salinger nicht gerade als Philanthrop bekannt.

Ein dichtes Netz von Verweisen

"Einige Leute ( . . . ) haben mich gefragt, ob nicht ein guter Teil von Seymour in die Gestalt des jugendlichen Helden in dem einzigen Roman eingegangen ist, den ich veröffentlicht habe." Das schreibt Buddy Glass in seinem Bericht "Seymour wird vorgestellt", der natürlich zugleich Buddy vorstellt – und Salinger selbst, der relativ unverdeckt alle Fäden zieht. Mit den Glass-Geschichten schafft der Autor ein dichtes und teils irritierendes Netz von Verweisen und Verflechtungen zwischen sich, seinem Schaffen und dem seines fiktiven Alter ego Buddy. Seymour, der "Erleuchtete", ist ihr gemeinsames Medium. Für Buddy ist er ein "wahrer Poet" und als solcher "in Wirklichkeit der einzige Seher, den wir auf Erden haben". Immer wieder wird dem Toten das Wort in Briefform erteilt. Als guter Geist aller Schriftsteller gibt Seymour Ratschläge ebenso wie die erforderliche Absolution.

In einer alten Nachricht Seymours an Buddy heißt es: "War denn Schreiben je Dein Beruf? Nie ist es etwas anderes gewesen als Deine Religion. (. . .) Weißt Du, was Du einmal gefragt werden wirst, wenn Du stirbst? ( . . .) Hast Du Deine meisten Sterne aufgehen lassen? Warst Du damit beschäftigt, Dir alles vom Herzen zu schreiben? Wenn Du nur wüsstest wie leicht du beide Fragen beantworten könntest. Und würdest Du Dich nur jedesmal, bevor Du Dich zum Schreiben hinsetzt, dran erinnern, dass Du, lange bevor Du ein Autor warst, ein Leser gewesen bist."

Zitate aus fremden und eigenen Schriften

An der Tür von Seymours und Buddys ehemaligem Kinderzimmer hängt eine Hartfaserplatte, die sie mit "Zitaten aus den verschiedensten Literaturen der Welt" beschrieben haben. Hier steht Pascal neben Emily Dickinson, Marc Aurel neben Ring Lardners Erklärung, wie man Kurzgeschichten schreibt, Sentenzen von Kafka neben solchen aus der Bhagavad Gita.

1965 veröffentlichte J. D. Salinger im "New Yorker" seine bisher letzte literarische Wortmeldung. Es ist ein überlanger Brief des 7-jährigen Seymour an die Familie: "Hapworth 16, 1924" versehen mit einem 1965 datierten Vorwort Buddys. (Eine Buchpublikation ist für Jänner 2009 angekündigt. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass Salinger sein Einverständnis wieder zurückzieht. Recherchierwillige finden diese und andere Erzählungen – nicht ganz konform mit dem Urheberrechtsgesetz – im Internet.)

"Hapworth 16, 1924" schließt Seymours von hinten nach vorn erzählte Geschichte ab und steigert noch einmal Salingers Abwendung vom linearen, plot-orientierten Erzählen. Mit zahlreichen Parenthesen berichtet Seymour vom Leben im Ferienlager Hapworth und von seinen und Buddys – der ist gerade fünf! – literarischen Fortschritten. Das letzte Drittel der Erzählung besteht aus einer ausführlich kommentierten Liste an Büchern, die für Seymour bei Miss Overman (der Bibliothekarin der von den Kindern genutzten New Yorker Bücherei) bestellt werden sollen. Dabei sind Gesamtausgaben von Proust und den Brontë-Schwestern, "books on the structure of the human heart" und eine "Chinese materia medica".

Es ist die erweiterte Hartfaserplatte aus Buddys und Seymours Zimmer – und, könnte sein, der Merkzettel eines Autors, der sich daran erinnert, einmal Leser gewesen zu sein. Genausogut könnten wir die Wunschliste als Salingers letzten Willen interpretieren: Empfehlungen an uns Leser für die Zeit nach seinem Verstummen. Denn auf neue Geschichten dürfen wir kaum hoffen. "There is a marvelous peace in not publishing", sagte Salinger 1974, in einem seiner letzten Interviews: "I like to write. But I write just for myself and my own pleasure." ("Es herrscht ein wunderbarer Friede, wenn man nicht publiziert." "Ich schreibe gern. Aber ich schreibe nur für mich und mein eigenes Vergnügen.")

Unser Vergnügen bleibt also das Wiederlesen eines vielschichtigen und schmalen Werkes, das aus einem Roman und rund 35 Erzählungen besteht, darunter die so scharfgeschliffenen wie warmherzigen Sprachkristalle aus dem Glass-Universum. Es lohnt sich, sie aus dem langen Schatten des Fängers zu holen.

Literaturhinweis: Salingers "The Cather in the Rye" war lange Zeit auf Deutsch nur in der Übersetzung von Heinrich und Annemarie Böll erhältlich. 2003 erschien eine Neuübersetzung: "Der Fänger im Roggen". Deutsch von Eike Schönfeld, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 272 Seiten, 15.- Euro. (Auch als Taschenbuch: Rowohlt Verlag Reinbek 2004, 6, 90 Euro.)

Die Autorin

Christina Zoppel, geboren 1971, lebt und arbeitet als freie Autorin und Lektorin in Berlin.

Printausgabe vom Samstag, 03. Jänner 2009
Online seit: Freitag, 02. Jänner 2009 14:15:00

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