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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Zu Besuch beim italienischen Schriftsteller Andrea Camilleri

Camilleri: "Die Mafia ist eine Krankheit"

Von Marcus Bartscht

Im Jahr 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle geboren und auch dort aufgewachsen, lebt Andrea Camilleri seit 1949 in Rom. Er ist unter anderem Drehbuchautor und Regisseur. Als Schriftsteller hat er zahlreiche - vor allem historische - Romane veröffentlicht, die in 25 Ländern erschienen sind. Handlungsort jeder seiner Erzählungen ist Sizilien, dessen Widersprüchlichkeiten er gleichermaßen anprangert wie verehrt. International bekannt geworden ist Camilleri mit den Kriminalfällen seines Commissario Montalbano, zuletzt "Der Kavalier der späten Stunde" (in der deutschen Fassung wie alle anderen im Lübbe-Verlag erschienen).

Wiener Zeitung: Signore Camilleri, Ihr Wohnsitz ist schon seit langem in Rom. Seit 45 Jahren sind Sie mit einer Mailänderin verheiratet. Sie selbst schreiben aber ausschließlich über Sizilien.

Andrea Camilleri: Jeden Sommer verbringe ich einen Monat gemeinsam mit meiner Familie in meinem alten Haus in Sizilien. Auch wenn ich schon seit 1949 aus meinem Heimatort Porto Empedocle weggezogen bin, bleibe ich ein Sizilianer. Es gibt keinen Sizilianer, dem Sizilien nicht fehlt.

Bei uns verbindet man mit der größten Mittelmeerinsel immer wieder auch die Mafia. Obwohl sich in Ihren Büchern zahllose Verbrechen in bunten Variationen und Fallkonstellationen finden, taucht das Wort "Mafia" auffallend selten auf.

Ich halte es ähnlich wie mein Schriftstellerkollege Leonardo Sciascia und rede immer von der Mafia, ohne ausdrücklich von ihr zu sprechen.

Ist die Mafia ein typisch sizilianisches Problem?

Die Mafia ist eine Krankheit. Früher hatten wir eine kleine Haus-Mafia. Heute ist alles industrieller geworden. Sciascia benutzte das Bild von einer Palme - einer Pflanze, die auf südlichem Boden gedeiht, aber jedes Jahr drei Zentimeter nach Norden wächst.

Ist bei derart grenzüberschreitender Kriminalität überhaupt ein vereintes Europa sinnvoll?

Ich habe mehr als 78 Jahre in dieser Welt gelebt und weiß, dass in Europa alles passieren kann. Aber jetzt kann es wohl nie wieder Krieg unter den europäischen Völkern geben.

Das klingt euphorisch.

Ja, aber ich glaube mit Recht.

Und die nationale Identität? Haben Sie keine Angst, dass diese

wunderbaren sizilianischen Traditionen, mit denen jedes Ihrer Bücher gespickt ist, demnächst in einem Brei aus Bratwurst, Paella und möglicherweise Döner untergeht?

Die nationale Identität wird sich dadurch sogar noch verstärken. Die Kulturen werden sich austauschen, aber die DNA bleibt gleich. Ein deutscher Ingenieur namens Hofer kam 1935 in unseren Ort. Während sämtliche Sizilianer zur Weihnachtszeit eine Krippe aufbauten, hatte er einen Baum. Seitdem gibt es für mich keinen Heiligen Abend mehr ohne Baum.

Sind Sie religiös?

Ich bin katholisch, aber nicht religiös. Einen Schutzheiligen habe ich allerdings: San Calogero.

So heißt auch das Lieblingsrestaurant Ihres Romanhelden Montalbano . . .

Ich hatte einen älteren Bruder, der im Alter von wenigen Monaten gestorben ist. Ebenso eine ältere Schwester. Ich bin daraufhin 25 Tage vor dem errechneten Geburtstermin zur Welt gekommen, am

6. September um 13 Uhr. Das war genau der Moment, in dem traditionellerweise die Figur des heiligen Calogero vom Hafen in die Kirche gebracht wurde. In meiner Fantasie ist er aber ein Schwarzer.

In Italien stürmt derzeit die 17-jährige Melissa P. - übrigens auch eine Sizilianerin - mit ihren erotischen Tagebucheintragungen die Bestsellerlisten. Kennen Sie das Buch?

Ich habe von dem Buch gehört, es aber nicht gelesen. Wichtig ist, dass die Jugend überhaupt liest. Die Fantasie wird stimuliert.

Commissario Montalbano hätte so etwas wohl nicht angerührt. Auch hier in Ihrer Wohung gibt es eine Vielzahl an Büchern.

Nach meinem vierten Roman fragte mich meine Frau, ob dieser Mann wirklich existiere oder ob ich es vielleicht sogar selber sei. Tatsächlich kommt Montalbano der Figur meines Vaters sehr nahe, der sehr viel gelesen hat.

Darf ich fragen, was Sie heute zu Mittag gegessen haben?

(Lacht) Etwas sehr Einfaches. Nur ein bisschen Fleisch, sonst nichts.

Commissario Montalbano hätte das wohl nicht ausgereicht. Man hat bei Ihrem Romanhelden das Gefühl, als würde alles Glück dieser Erde in einer guten Küche geboren.

Ich kann nicht mehr so viel essen in meinem Alter. Essen hatte für mich aber immer eine besondere Bedeutung. Es bringt Harmonie in die Menschen.

Könnten Sie sich vorstellen, auch ein Kochbuch zu schreiben?

Nein, auch wenn ich von einem Verlag schon daraufhin angesprochen wurde.

Dass ich jetzt hier in Ihrem Sessel sitze und das Interview führen darf, habe ich Ihnen zu verdanken. Ich hatte Ihnen nur zu einem Ihrer Bücher gratuliert - und Sie luden mich daraufhin gleich zu sich ein.

Das kann ich natürlich nicht immer machen. Aber ich finde es wichtig, jeden Brief eines Lesers - egal, wie lang oder kurz er ist - persönlich zu beantworten.

Wann dürfen wir mit Ihrem nächsten Buch rechnen?

Ein weiterer Fall von Commissario Montalbano wird gerade übersetzt. Außerdem wird zu meinem 80. Geburtstag (2005, Red.) ein Interviewband veröffentlicht werden. Darin geht es unter anderem um die Krise der Linken, die Regierung Berlusconi und auch die Mafia.

Freitag, 09. Jänner 2004 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:15:00

Lexikon



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