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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Über den Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel

Berthold Viertel: Ein Dichter ohne Werk

Von Christian Teissl

In seinem epigrammatisch knappen Gedicht "Die Lehrer", das bereits in der Emigration entstanden ist, bezeichnet der 1885 in Wien geborene Dichter, Essayist, Theater- und Filmregisseur Berthold Viertel aus der Rückschau seinen intellektuellen Ausgangspunkt: "Als ich die Schule schwänzte / fand ich meine Lehrer: / Der eine, der unbegrenzte / Lebensverehrer. // Der andre, der ungebeugte Phrasenverneiner. / Seitdem überzeugte / mich so leicht keiner."

Peter Altenberg und Karl Kraus, der Lebensverehrer und der Phrasenverneiner, sind es gewesen, bei denen der aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Viertel in die Lehre gegangen ist und von denen er die entscheidenden Impulse für seine literarischen Anfänge erhalten hat. Dem Leben wie der Sprache zugewandt zu sein und alles Hohle, Verlogene, Großsprecherische abzulehnen - das sind die vor allem von Kraus übernommenen Maximen, die Berthold Viertels gesamtes Leben und Schaffen bestimmt haben und von denen er nie abgerückt ist.

Die Fackel und Karl Kraus

Schon im vierten Heft der "Fackel" findet sich ein mit "B-d V." gezeichneter kritischer Leserbrief des damals erst vierzehnjährigen Gymnasiasten; später, nachdem er die persönliche Bekanntschaft des Herausgebers gemacht hatte, wurde er zum Beiträger. Bis 1911, als Kraus beschloss, in Hinkunft der einzige Autor seiner Zeitschrift zu sein, veröffentlichte Viertel regelmäßig in der "Fackel": Gedichte, Essays und Rezensionen. Durch Kraus erfuhr er entschiedene Förderung; dieser ebnete dem kaum dreißigjährigen Dichter den Weg zur Publikation seiner ersten Gedichtsammlung, "Die Spur", in der Reihe "Der jüngste Tag", die, von Franz Werfel redigiert, im Verlag Kurt Wolff erschien.

Viertels lange und wechselvolle Beziehung zu Karl Kraus, diesem "Höllenbreughel der jüngsten Vergangenheit", als welchen er ihn 1944, in einem Gedenkaufsatz für die Exilzeitschrift "Austro American Tribune" bezeichnete, hat sich in seinen Schriften wiederholt niedergeschlagen. Während des Ersten Weltkrieges bereits verfasste er den Essay "Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit" - er erschien 1921 in Buchform -, und aus den späten dreißiger Jahren datiert ein lyrisches Denkmal, das Viertel seinem Freund und Förderer gesetzt hat. Darin finden sich die schönen Zeilen:

"Weil du stets an deinem Ursprung bliebest,

Warst gerichtet du auf unser Ziel.

Ewiges Wortspiel, das du triebest, Unser Einsatz war in diesem Spiel."

Im Gegensatz zu den meisten anderen Anhängern des in seiner Zuneigung wie in seinem Hass kompromisslosen Satirikers und Kulturkritikers - man denke etwa an Albert Ehrenstein oder Otto Soyka - hat Viertel sich mit Kraus nie überworfen, auch wenn ihn dessen affirmative Haltung Dollfuß und dem Ständestaat gegenüber zutiefst befremdete und er in ihr nichts anderes als einen "tragischen Irrtum" zu sehen vermochte.

Beim ersten Blick auf das Lebenswerk Berthold Viertels, dieses ebenso vielseitigen wie rastlosen Intellektuellen und Künstlers, fällt vor allem dessen fragmentarischer Charakter auf. Wenn es auch sieben Bücher sind, die der Autor im Lauf seines Lebens publiziert hat, und daneben eine Unzahl von (vor allem in Emigrantenzeitschriften) erschienenen Aufsätzen, Polemiken und Rezensionen aus der Feder Viertels existiert, so ergibt die Summe dessen noch kein "Werk" mit klaren Konturen und einer inneren Kontinuität. Viertel selbst hat das in der ihm eigenen, schonungslosen Nüchternheit erkannt und in seinen autobiographischen Aufzeichnungen wenige Jahre vor seinem Tod folgendermaßen festgehalten: "Ich habe die Werke, die ich plante, nicht geschrieben, und nun ist es zu spät. Mein Leben ist an seinem Ende angelangt. Ich hinterlasse ungeordnete Fragmente, so wie mein Leben ein ungeordnetes Fragment ist und bleiben wird."

Der große Text, an dem Berthold Viertel ein Leben lang, mit zäher Beharrlichkeit und gegen größte äußere und innere Widerstände, geschrieben hat - ein Text, der allerdings Gedichte, Essays, Drehbücher, Erzählungen, autobiographische Skizzen und zahllose Briefe umfasst -, ist Torso geblieben, musste wohl ein solcher bleiben. Das macht seinen großen Reiz und zugleich seine schwere Fasslichkeit aus. Immer wieder, und oft notgedrungen, ist Viertel aus einer einmal eingeschlagenen Bahn wieder ausgebrochen; wiederholt hat er sich gezwungen gesehen, seine eigene künstlerische Existenz neu zu definieren, seine Ziele neu zu stecken und wieder ganz von vorn anzufangen. Vieles ist daher Entwurf geblieben (vor allem seine erzählende Prosa), das meiste nie im Druck erschienen. Der Nachlass Viertels - von dessen Reichtum die zwischen 1989 und 1994 erschienene, von Konstantin Kaiser herausgegebene Studienausgabe eine erste eindringliche Vorstellung vermittelt - ist um ein Vielfaches umfangreicher als das bisher veröffentlichte Werk.

Die Marginalisierung der literarischen Arbeit Berthold Viertels und ihre mäßige Resonanz haben zweifellos mehrere Ursachen: Zunächst ist vor allem der Umstand ins Treffen zu führen, dass Viertel einen großen Teil seiner Zeit und seiner Energie in die Theaterarbeit investierte und seine literarische Produktion über weite Strecken seines Lebensweges ganz im Schatten seines Wirkens als Regisseur, als besessener, innovativer Theatermann stand.

Noch bevor sein erstes Buch erschien, war der Dichter bereits in die Welt des Theaters eingetreten und arbeitete als Regisseur für die Freie Volksbühne in Wien. Fritz Kortner, der damals und auch später immer wieder unter Viertels Regie auftrat, notierte später in seinen Memoiren: "Viertel, der sich auf die Bühne verirrt hatte, war für das Theater ein großer Gewinn. Für ihn selbst, glaube ich, war es ein Verlust, nicht Schriftsteller oder gar Dichter geblieben zu sein. Warum er diese große Begabung drosselte und sich dem hingab, was nicht seine eigentliche Berufung war, bleibt unerforschlich."

Allerdings stand Viertels Arbeit als Theaterregisseur, die sich über einen Zeitraum von vierzig Jahren erstreckte und in vieler Hinsicht weg-weisend war - so ist es etwa sein Verdienst, unmittelbar nach 1945 die Stücke von Tennessee Williams durch seine Übersetzungen und Inszenierungen im deutschen Sprachraum bekannt gemacht zu haben -, keineswegs im Widerspruch zu seinen unablässigen schriftstellerischen Bemühungen. Im Blick auf die Stücke anderer Autoren und im Versuch, diese zu realisieren, blieb Viertel stets dem Dichterischen verpflichtet, und in seinen essayistischen Schriften widmete er den Reflexionen über das moderne Drama und seinen spezifischen Problemen und Möglichkeiten breiten Raum.

Der Lyriker im Exil

Dass das literarische Lebensfragment Berthold Viertels - trotz mehrerer Buchausgaben - nach seinem Tod nur verhältnismäßig wenig Beachtung fand, liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass seine wesentlichen Teile aus dem Zusammenhang der Exilkultur nicht zu lösen und ohne eine Auseinandersetzung mit ihr nicht adäquat zu verstehen sind. Dies gilt insbesondere für seine Lyrik, die hierzulande immer noch nach Kräften ignoriert wird.

Viertels lyrisches Frühwerk, gesammelt und gebündelt vor allem in den Bänden "Die Spur" und "Die Bahn" (erschienen 1921) steht in sichtlicher Nähe zum Expressionismus Traklscher Prägung: "Ich hing am Kreuz der Nacht und stöhnte schwer, / Mein Herz war matt und hoffnungsleer / Und Stirn und Gaumen ausgebrannt", heißt es in dem für Viertels Frühwerk exemplarischen Gedicht "Der Morgen". Die Stimmung ist durchgehend düster, melancholisch und mit einer stark pessimistischen Note versehen. Es sind, wie Viertel selbst später einbekannt hat, ein jugendlicher Weltekel und eine fast nihilistische Aussichtslosigkeit, die sich in Versen von hoher artistischer Qualität Ausdruck verschaffen. Bereits den Titeln etlicher Gedichte, die sich in Viertels Erstling finden - "Verfinsterung", "Der Selbstmord", "Vanitas", "Einsamkeit", "Abschied" - eignet Signalcharakter; in ihnen klingen die zentralen Leitmotive einer ganzen Generation von Lyrikern an. Zudem spiegelt sich das Bewusstsein vom Ende einer Welt und einer Epoche in diesen Texten getreulich wider.

Kampf und Ohnmacht

War der junge Viertel ein Lyriker, dem die Form über alles ging

und der auch von Manierismen nicht Abstand nahm, so änderte sich der Charakter seines Schreibens grundlegend mit der Erfahrung der Flucht und des Exils (ab 1934 in England, wo er vor allem als Filmregisseur Arbeit fand, ab 1937 in den USA): Formalästhetische Fragen treten völlig zurück und werden sekundär; die Stilisierung der Welt und des ihr entfremdeten modernen Ich weicht weitgehend einer teils kämpferischpolemischen, teils von depressiver Ohnmacht gekennzeichneten, bitteren Situationsbeschreibung in Versform, in der das Ich nie isoliert

für sich allein steht, sondern stets auch für seine Schicksalsgenossen spricht.

Im amerikanischen Exil gelang es Berthold Viertel, zwei Gedichtsammlungen zu veröffentlichen: "Fürchte dich nicht!" erschien 1941 bei dem holländischen Verleger Barthold Fles in New York und "Der Lebenslauf" 1946 in dem von deutschsprachigen Exilautoren gegründeten Aurora-Verlag, in dem auch Bücher von Bertolt Brecht, Anna Seghers und Ernst Bloch erschienen sind. Die meisten Gedichte dieser beiden, sehr umfangreichen Bände sind in Form und Tonfall einer diskursiven Prosa angenähert (Eberhard Frey hat von ihrem Stil als dem einer "leidenschaftlichen Prosa" gesprochen), wenngleich Viertel in ihnen von Reimschema und geregeltem Strophenbau nach wie vor ausgiebig Gebrauch macht. Der Erfahrung des Exils wird in diesen Versen und

ihrer gleichermaßen spröden wie einprägsamen Diktion überzeugende Form verliehen.

Wie die Werke vieler anderer deutscher und österreichischer Exilautoren sind auch Viertels Gedichte der verzweifelte Versuch, aus dem eigenen Widerstandsgeist und der Er-innerung an die untergegangene Welt und die vom Faschismus verwüstete Kultur, der er entstammte und der er sich nach wie vor zugehörig fühlte, einen Ariadnefaden zu knüpfen, welcher aus dem Labyrinth der Gegenwart hinausführt in eine demokratische Zukunft. Gleichzeitig ist das Schreiben von Gedichten für den Exilautor mit einem unablässigen, selbst auferlegten Rechtfertigungszwang verknüpft: So hat auch Viertel, etwa im Vorwort zu dem Band "Fürchte dich nicht!", sich mit der Frage auseinander gesetzt, warum er denn überhaupt in einer Zeit, in der es einzig darauf ankomme, den politischen Kampf gegen den Faschismus aufzunehmen und seinen Opfern Hilfe zu leisten, Gedichte schreiben könne, noch dazu in der Sprache der Mörder. Warum er ausgerechnet an dieser seiner Sprache festhalten müsse, erklärt Viertel in dem berührenden Gedicht "Die deutsche Sprache", von der er sagen kann: "Sie weiß, dass ich der Schurken keinen um die Macht, / Der sie geschändet, je beneide (. . .)"

Die Hoffnung, die sich immer wieder und trotz aller Nüchternheit und Klarsicht Viertels artikuliert, ist jene auf eine Rückkehr in die befreite Heimat. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist ein "Kalifornischer Herbst" überschriebenes Gedicht aus dem Jahr 1943, in dem das Ich, bei der Betrachtung eines Feigenbaumes, sich selber und den Seinen Mut zuspricht:

"Wird ihn der nächste Sommer grün und reich beladen sehen,/

Und kam der Friede unterdessen,/ Mag es ein anderer sein, der hier die Feigen pflückt.

Wir wären dann in kältere Breiten heimgegangen (. . .)"

Dieses Gedicht zeugt bereits vom wachsenden Selbstbewusstsein des Emigranten (gleichzeitig aber auch davon, dass ihm das volle Ausmaß der im Dritten Reich geschehenen Verbrechen noch nicht bekannt ist). Andere, früher entstandene Gedichte hingegen, wie etwa "Auswanderer", das erstmals 1937 in der Zeitschrift "Das neue Tagebuch" erschien, transportieren das starke, schockartige Erlebnis des Heimatverlusts und der dadurch ausgelösten Identitätskrise ebenso unmittelbar wie kommentarlos. In "Auswanderer" wird auf lapidare Weise dargelegt, dass der erlittene Verlust ein irreversibler ist und daher jede Heimkehr in die Fremde führen muss. Der Bruch, der geschehen ist, ist endgültig; die Wunde wird nie ganz vernarben:

Wir sind, mein Kind, nie mehr zuhause.

Vergiß das Wort, vergiß das Land

Und mach' im Herzen eine Pause -

Dann gehen wir. Wohin? Unbekannt.

Gegen Ende seines Lebens scheint in Berthold Viertel die Verbitterung angesichts des um sich greifenden Vergessens und der vielen betrogenen Hoffnungen gewachsen zu sein. Wenn er auch ab dem Jahr 1948 wieder in Wien lebte und in der Folgezeit am dortigen Burgtheater als Regisseur Arbeit fand, so konnte es ihm doch nicht mehr gelingen, sich in seiner Heimatstadt heimisch zu fühlen.

Freitag, 03. Oktober 2003 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:15:00

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