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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Ein Lobgesang auf den Science-Fiction-Autor Walter M. Miller jr.

Walter M. Miller jr.: Die Welt des heiligen Leibowitz

Von Paul Christian Jezek

Ein im deutschen Sprachraum viel zu wenig bekannter Pionier der anspruchsvollen Science Fiction wäre heuer 80 Jahre alt geworden. Walter M. Miller jr. sind mit seinem "Lobgesang auf Leibowitz" und der postum veröffentlichten Fortsetzung "Ein Hohelied für Leibowitz" literarische Meilensteine gelungen, die über das enge Science-Fiction-Genre hinausweisen.

Am Anfang stehen drei Novellen im amerikanischen "Magazine of Fantasy and Science Fiction". "Fiat Homo" (1955) schildert die Welt 600 Jahre nach einem verheerenden Atomkrieg, der den größten Teil der Menschheit vernichtet hat. Bruder Francis Gerard ist Novize des "Albertinischen Ordens von Leibowitz" in einem Kloster im Südwesten der ehemaligen USA (auf dem Versuchsgelände von Los Alamos?) und entdeckt in einem alten Bunker in der Wüste eine Blechschachtel mit alten Papieren, darunter eine offensichtlich wertvolle Blaupause mit dem Namen Isaac E. Leibowitz.

Dieser längst verstorbene Physiker hatte nach dem Holocaust und der darauf folgenden antiintellektuellen Zeit (mit Bücherverbrennungen) sein Heil in der Religion gesucht und einen Orden gegründet, der sich die Konservierung des menschlichen Wissens zur Aufgabe machte. Zur Zeit Bruder Gerards hegen und pflegen die Mönche Vorkriegsdokumente, wissen aber kaum noch, was sie da tun. Die Blaupause von Leibowitz erregt großes Aufsehen, und da man den Klostergründer gern als Heiligen sähe, wird auf die Duplikation des Fundes großer Wert gelegt. Francis verbringt mit dem haargenauen Übertragen des Schaltplans in eine kostbar illuminierte Handschrift nicht weniger als 15 Jahre und bricht schließlich nach New Rome an der Ostküste auf, um dort sein Fundstück zu präsentieren, was die Heiligsprechung von Leibowitz durch den Papst nach sich zieht.

In der zweiten Novelle "Fiat Lux" (1956) lässt Walter Miller jr. die Menschen langsam zur Wissenschaft zurückkehren. "Es werde Licht" spielt etwa 600 Jahre nach dem ersten Teil und markiert nach dem Mittelalter quasi eine neue Renaissance. Die nomadischen Stämme sind sesshaft geworden, mehrere Staaten haben sich entwickelt. Während man im Kloster mit elektrischem Licht (lat.: lux) experimentiert, schwelen die ersten Konflikte zwischen Kirche und Staat. Es ist der schicksalhafte Moment der Geschichte, wenn sich Wissen und Technik der geistlichen Autorität und Disziplin neuerlich entziehen: vorgeblich, um selbständig zu werden, tatsächlich aber, um von der weltlichen Macht benutzt zu werden.

Geschichtszyklen

"Fiat Voluntas Tua" (1957, "Dein Wille geschehe") beschreibt farbenprächtig und fabulierfreudig, wie

in den beiden Teilen davor, eine Zivilisation, die in einer zyklischen Geschichtsbewegung wieder jene Stufe erreicht wie 1.800 Jahre zuvor. Der aufgeklärte Staat hat die Kirche in den Hintergrund gedrängt, ein neuer Atomkrieg

droht. (In einer Nebenhandlung behandelt der Autor auch eindringlich das Thema Euthanasie.) Schließlich tritt das unvermeidlich Erscheinende erneut ein; während die Bomben fallen, brechen die Mönche des Klosters mit einem Raumschiff zum Stern Alpha Centauri auf: Aus dem Licht der von ihnen wiederentdeckten Elektrizität ist im Jahr 3781 doch (wieder) der Atomblitz und damit die neue Apokalypse geworden.

Die unter dem Titel "A Canticle for Leibowitz" zusammengefassten drei Novellen wurden zeitgeistbedingt zu Beginn der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zum Kultbuch und wurden in Millionen Exemplaren verkauft - "verdientermaßen", wie kein Geringerer als Carl Amery konstatiert: "Das Buch strotzt von Einfällen, beherrscht die Klaviatur der Gefühle vom tiefsten tragischen Ernst bis zum Kalauer (oft in Kirchenlatein). Es demonstriert keineswegs schulmeisterlich vorgetragene humanistische Bildung und vor allem eine geschlossene, schon damals höchst nonkonformistische Tiefen-Ideologie: eine altkonservative katholische Perspektive, die aber nirgends totalitär wird."

Der kritisch-katholische Querdenker Amery, der als Mitglied der Gruppe 47 jahrzehntelang die politische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland entscheidend mitgeprägt hat, wurde von "Lobgesang auf Leibowitz" maßgeblich beeinflusst: "Das Buch hat wahrscheinlich meine literarische Produktion und damit meine Lebensarbeit verändert. Zumindest hat es einige meiner bis dahin nicht beachteten Möglichkeiten freigesetzt. (. . .) Was sofort anzieht (jedenfalls Leute wie mich), ist sein entschlossener Abschied von der Welt des Mainstream, seine Kraft und Vitalität der Spekulation, welche die völlig uninteressanten Mätzchen der Seelen-Enthüllungs-Konfektion, also der Hauptbeschäftigung unserer Belletristik-Lieferanten, einfach

beiseite lässt und dahin zurückkehrt, wo seit Jahrtausenden der Witz der Barden tätig war: in die Erfindung prächtiger Lügengeschichten (. . .)"

Die sich Miller mit der Thematik "Die Erde nach dem nuklearen Holocaust" beschäftigt, hängt die atomare Bedrohung gleich einem Damoklesschwert über der Welt, und Hiroshima ist allen noch sehr präsent. "Lobgesang auf Leibowitz" ist daher nach George Orwells Manifest gegen den Stalinismus ("1984") auch als durchaus immer aktuelle Warnung vor der "Sintglut" des atomaren Vernichtungskrieges zu verstehen; der Roman gewann 1960 den HUGO Award (ironischerweise ein Jahr nach dem Debakel mit Heinleins "Starship Troopers") und wird nicht "nur" von Carl Amery, sondern von zahlreichen anderen Experten, Kritikern und Schriftstellern als ein sehr guter, wenn nicht der beste Science Fiction-Roman überhaupt angesehen. Dazu trägt natürlich der großartige Erzählstil bei, der sehr geschickt mit den Emotionen des Lesers spielt. Millers Helden sind nicht etwa die agierenden Personen, sondern die ganze Menschheit und ihre Geschichte.

Verfremdungseffekte

Der Autor transponiert die Geschichte der letzten 2.000 Jahre einfach in die Zukunft, von den Fünfzigern aus gesehen, und erreicht damit einen doppelten Verfremdungseffekt - denn was sich da vor den Augen des Lesers abspielt, ist prä- und postmodern zugleich. Können wir jemals mehr erwarten, als dass sich unsere eigene Geschichte ständig wiederholt? Während die Menschheit innnerhalb weniger Generationen neues Kulturgut hervorgebracht hat, zu dessen Beschreibung der Roman ein ganzes Arsenal von Sprachschöpfungen bereithält, bleiben die von den neuen "Altertumsforschern" geborgenen Relikte der Vergangenheit in Funktion und Bedeutung unverstanden. Wir finden unsere Welt in das befremdliche Licht einer fernen Zukunft getaucht, lernen also mit Millers Hilfe gewissermaßen neu sehen. Aber wir erkennen auch, wo dem neuen Menschengeschlecht die Wirklichkeitsdeutung misslingt, wo Sein und Bewusstsein auseinander klaffen. So stellt sich die Tatsache, dass sich die Bruderschaft auf die Vermehrung und Bewahrung von Schriftstücken ("Memorabilia") verlegt hat, als ungewollt komisches Ergebnis schmerzhafter Erfahrungen dar: So hatte etwa der ehrwürdige Bruder Boedullus seinem Abt mit offenkundigem Entzücken geschrieben, dass eine kleine Expedition die Reste einer "Interkontinentalen Raketenabwehrstellung" neben einigen aufregenden unterirdischen "Lagertanks" freigelegt hätte. Allerdings erfuhr niemand in der Abtei je, was damit gemeint war, denn wo sich einst dieses Dorf befunden hatte, schmückte nun ein reizender See die Gegend. Aber ist das mitleidige Lächeln, mit dem der moderne Leser die abergläubisch-mittelalterlichen Deutungen quittieren mag, wirklich berechtigt? Ist ein Zeitalter, das sich vor dem Dämon "Fallout" fürchtet, nicht vielleicht sogar besser dran als unsere Epoche, die ihre Waffen so weit zu entdämonisieren weiß, dass ihrem Einsatz in Afghanistan und im Irak schließlich nichts mehr im Wege stand? Der "Canticle" stellt eben nicht nur einen ironisch gebrochenen "Lobgesang" auf die Widerstandskraft und den Überlebenswillen einer Mönchsgemeinschaft dar, sondern ebenso einen "Abgesang auf Fortschrittsglauben und menschliche Lernfähigkeit"- und die eigentlichen Witzfiguren sind wir selbst.

Der Verfasser dieser Wahrheiten wurde 1923 in New Smyrna Beach in Florida geboren, studierte Ingenieurswissenschaften und war im Zweiten Weltkrieg Mitglied der US-Air Force. Er flog als Bomberpilot zahlreiche Einsätze im Mittelmeergebiet, u. a. gegen das lange von den Deutschen gehaltene Kloster in Monte Cassino. Sein Besuch des zerstörten Klosters nach dem Krieg wurde zu einem entscheidenden Einschnitt in seinem Leben. Nach dem "Lobgesang" und einigen weiteren hervorragenden Erzählungen (u. a. "Conditionally Human", "Crucifixus Etiam" und "The Darfsteller") veröffentlichte Walter M. Miller jr. nichts mehr und lebte fortan sehr zurückgezogen.

Er entsprach jedoch dem Wunsch vieler Leser (und naturgemäß auch der Sehnsucht seines Verlegers) und schrieb eine Fortsetzung (oder eher einen Parallelroman in der gleichen Welt) mit dem Titel "Saint Leibowitz and the Wild Horse Woman". Man fand dieses Manuskript 1996 fast vollendet in seinem Nachlass, als Miller freiwillig aus dem Leben schied. (Übrigens eine bittere Ironie, denn der dritte Teil des "Lobgesangs" enthält auch eine bewegende Polemik gegen den Selbstmord.) Der Götterdämmerungsmarsch des letzten Papstes Braunpony und seine Allianz mit den halbheidnischen Nomaden gegen den kalten Imperialismus von Texarkana im Licht der nachkonziliaren Entwicklung des Katholizismus spielt etwa zur selben Zeit wie die zweite Novelle von "A Canticle", im 34. Jahrhundert, erzählt aus der Sicht eines Leibowitzer Mönches.

"Erfreulicherweise hat Miller nichts von der Vitalität seiner Fantasie, nichts an Erfindungsreichtum und Sprachgewandtheit verloren . . .", konzediert Carl Amery dem von Terry Bisson fertig gestellten "Hohelied für Leibowitz". "Nach einer möglichen Parallele befragt, würde ich diesen wildkoloristischen Roman-Gobelin vielleicht neben Döblins Wallenstein stellen - die Bildwelt eines Dreißigjährigen Krieges in Nordamerika, verfremdet durch die Mischreligiosität der Nomadenstämme, die Präsenz von Mutanten-Kulturen und die natürliche wilde Freiheit des spekulativen Ingeniums." Nach ingesamt weit mehr als 1.000 brillanten Seiten bleibt dem Leser jjedenfalls der Hoffnungsruf: Heiliger Leibowitz, bete für uns!

Beide Romane sind in preiswerten Heyne-Taschenbuch-Ausgaben (München, 2000) erhältlich: "Lobgesang auf Leibowitz", 428 Seiten. "Ein Hohelied für Leibowitz", 668 Seiten.

Freitag, 25. Juli 2003 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:16:00

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