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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor 100 Jahren erschien Thomas Manns Roman "Die Buddenbrooks"

Mann, Thomas: "Etwa um die Hälfte kürzen"

Von Rolf-Bernhard Essig

Was ist das? Am Morgen geht es auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen. Nicht erst seit die Sphinx Ödipus befragte, steht der Mensch vor Rätseln. Nicht nur in diesem Fall heißt die Lösung oft: der Mensch. Als Gesellschaftsspiel veraltet, existiert das Rätsel nur noch in der erfolgreichen Schrumpf-Form des Quiz. Der Unterschied zwischen beiden ist der zwischen findiger, lustvoller Geistesgymnastik und plattem Wissen. Dabei ist "die Lösung eines Rätsels der reinste, der grundsätzlichste Akt menschlichen Bewusstseins" (Vladimir Nabokov). Rätseln wir also ein wenig.

Wie gelingt es einem 22-Jährigen ohne Abitur, ohne Lehre, ohne Beruf, der nur ein paar kleine Erzählungen veröffentlicht hat, in 33 Monaten ein Meisterwerk der Weltliteratur zu schreiben? Wie gewinnt der Neuling für seinen Riesen-Roman von über 1.000 Seiten einen weltberühmten Verleger, und wie wehrt er sich erfolgreich gegen dessen krasse Kürzungswünsche ("etwa um die Hälfte")? Wie kommt es zu dem unerhörten Erfolg des Buches, und wie lebt der Autor damit weiter?

Thomas Mann, Jahrgang 1875, hat vor den "Buddenbrooks" viel ausprobiert. Er arbeitet mal als Journalist, mal bei einer Versicherung, hört ein paar Vorlesungen, publiziert ein paar Geschichten, bis er sich 1895 entschließt, seinen schriftstellernden Bruder Heinrich in Italien zu besuchen; dort kann man von den Zinsen des väterlichen Erbes ganz kommod leben.

In dieser Zeit nimmt sich Samuel Fischer des jungen Talents an, publiziert einen Erzählungsband in seiner renommierten "Collection Fischer" und will noch mehr: "Ich würde mich aber freuen", schreibt er im Mai 1897, "wenn Sie mir Gelegenheit geben würden, ein größeres Prosawerk von Ihnen zu veröffentlichen, vielleicht einen Roman, wenn er auch nicht so lang ist."

Berühmter letzter Satz

Als hätte er auf so einen katalysatorischen Brief nur gewartet, macht sich Thomas Mann unmittelbar danach an die Arbeit. Er will in der Art skandinavischer Verfalls-Romane über seine Kindheit, seine Familie, seine Heimatstadt etwa 250 Seiten zu Papier bringen. Recht bald fixiert er schon den ersten Satz "Was ist das. Was - ist - das . . ." und den letzten Satz "Es ist so."

Verwandte und Bekannte der Familie aus Lübeck bittet er um möglichst viele Informationen über Sprachmarotten, Rezepte, Preise, Geschäftsusancen, politische Ereignisse und bekommt sie reichlich. Einige Wochen benötigt er, mit Hilfe von Listen und Plänen den Stoff zu bändigen, dann, im Oktober 1897, beginnt er mit der Niederschrift; als Arbeitstitel wählt er für sein Projekt kurz und schlagend nur ein Wort: "Abwärts".

Erstaunlich leicht fällt ihm das Schreiben, folglich ist es mit den 250 Seiten Länge bald Essig. Das Buch entwickelt eine unwiderstehliche Eigendynamik, fordert hier eine Vorgeschichte, da ausführlichere Dialoge, hier Ausschmückung von Interieurs, da weitere Nebenfiguren. Ein Ende zu machen, wird Thomas Mann recht sauer, zumal er inwischen nach München zurückgekehrt ist, um beim "Simplicissimus" als Redakteur sein Brot zu verdienen.

Nach dem letzten Wort am 18. Juli 1900 will sich ein rechtes Triumph-Gefühl bei Thomas Mann nicht einstellen, denn er hat seine Umfangsvorgabe um das Dreifache überzogen. Es wechseln Stimmungen tiefsten Zweifels und höchster Ambition. Bescheiden heißt es im Brief an Paul Ehrenberg: "Geld und Massen-Applaus ist mit solchen Büchern nicht zu erlangen; aber wenn es nur wieder ein kleiner literarischer Erfolg wird, so will ich stolz und dankbar sein." Heinrich Mann gegenüber gibt er andere Gedanken zu: "Auf Größe war nämlich während der Arbeit fortwährend mein heimlicher und schmerzlicher Ehrgeiz gerichtet." Deshalb hatte er in Palestrina und in Rom zur Anregung viele Romane, dazu Schopenhauer, Nietzsche, Wagner und immer wieder Tolstoj gelesen: "Der 23- bis 25jährige", bekennt er später, "hätte die ,Buddenbrooks' nie zustandegebracht, wenn er sich nicht immer wieder durch die Tolstoj-Lektüre dazu gestärkt und ermutigt hätte."

Wert: "Eintausend Mark"

Was auch immer er erreichen wollte, jetzt, im Sommer 1901, ist die Stunde der Wahrheit da, das Werk muss zum Verleger. Viele Jahre später schildert Thomas Mann die komische Szene des Manuskript-Versands per Post: "Ich weiß noch, wie ich es verpackte: so ungeschickt, daß ich mir heißen Siegellack auf die Hand fallen ließ . . . Das

Manuskript war unmöglich. Doppelseitig geschrieben . . . täuschte es über seinen Umfang, stellte aber für Lektoren und Setzer eine starke Zumutung dar. Eben weil es nur einmal vorhanden war, erste und einzige Niederschrift, entschloss ich mich zu einer Postversicherung und setzte neben die Inhaltsangabe ,Manuskript' eine Wertsumme auf das Paket: ich glaube gar eintausend Mark. Der Schalterbeamte lächelte."

Wohlbehalten und vollständig gelangt das tausendseitige Konvolut in die Hände von Moritz Heimann, dem besten Lektor bei S. Fischer, doch der findet es, genau wie sein Chef, viel zu lang; halb so lang, schreibt man Mann, werde es gerne angenommen.

Wie ein Löwe kämpft der junge Autor nun in dem "schönsten Brief, den ich je geschrieben habe", um den Umfang, den er völlig zu Recht als besondere Qualität des Buches sieht. Wunder über Wunder: Samuel Fischer, der Leiter eines nicht mehr kleinen Verlags, liest die ganzen 1.000 (handschriftlichen!) Seiten, Moritz Heimann nimmt sich das Werk zum zweiten Mal vor, und beide kommen zu dem Schluss, dass sie es wagen können.

Am 23. März 1901 erhält Mann einen Vertrag, von dem heutige Jung-Autoren, selbst wenn sie einen cleveren Agenten haben, nur träumen können - 20 Prozent vom Ladenpreis und eine Sechsjahres-option auf die nächsten Werke! Die Startauflage allerdings ist etwa so hoch wie bei Heutigen, denn man traut sich erst einmal nur 1.000 Exemplare zu. Anfang Oktober

erscheinen "Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie" in einer

zweibändigen, 12 Mark teuren Ausgabe.

Skandal in Lübeck

Es kann nicht allein an den hymnischen Besprechungen liegen, die Thomas Mann befreundeten Kritikern in die Feder diktiert, dass bereits nach einem Jahr die zweite Auflage nötig wird. Auch andere Rezensenten - darunter Rilke - loben das Buch und stellen den Verfasser in die schmeichelhafte Nähe bedeutender Kollegen.

Erschüttert und empört sind dagegen einige Lübecker, darunter Verwandte des Autors, die in den unverkennbaren Parallelen der Geschichte zum Schicksal der Kaufmannsfamilie Mann einen Skandal sehen. Bald kursieren Entschlüsselungslisten, mal richtiger, mal falscher, die praktisch jeder Figur des Romans ein reales Vorbild zuordnen.

Als ein Nestbeschmutzer gilt der Senatoren-Sohn in der Heimatstadt, da hilft auch keine literaturtheoretische Einrede von Thomas Mann, der dem platten Kaufmannsverstand deutlich zu machen versucht, dass es einen Unterschied zwischen Natur und Kunst gebe: "Wenn ich aus einer Sache einen Satz gemacht habe -", schreibt er 1904 in "Bilse und ich", "was hat die Sache dann noch mit dem Satz zu tun?" Solche Spitzfindigkeiten konnte oder wollte man nicht verstehen; erst viele Jahre später verzieh die Geburtsstadt.

Die Leser außerhalb Lübecks lieben von Anfang an die hoch originellen Charaktere - vor allem Tony Buddenbrook - und die lebendige, ironisch gebrochene Milieu-Studie. Dass Thema, Anlage und Stoff der "Buddenbrooks" dem modischen Genre nordischer Familienromane ähneln und Parallelen zu naturalistischen Romanen Frankreichs unverkennbar sind, fördert den Absatz zusätzlich.

Als das Werk ab der zweiten Auflage einbändig und deutlich billiger angeboten wird, steigen die Verkaufszahlen schnell: Nach zwei Jahren ist bereits die Marke 10.000 erreicht. Da heizt eine späte, ebenso ausführliche wie hellsichtige Kritik den Verkauf weiter an. Samuel Lublinski, dem Thomas Mann das nie vergessen wird, urteilt: "Deshalb bleibt dieser Roman ein unzerstörbares Buch. Er wird wachsen mit der Zeit und noch von vielen Generationen gelesen werden: eines jener Kunstwerke, die wirklich über den Tag und das Zeitalter erhaben sind . . ."

Die Zahlen geben ihm Recht. 100.000 Exemplaren erreicht die Auflage 1918, bis 1929 sind es 185.000. Doch der große Reibach steht Fischer und Mann noch bevor. Man produziert 1929, weil es sonst die Konkurrenz tun würde, eine nochmals verbilligte Sonderausgabe mit einer Startauflage von 150.000, die sofort vergriffen ist.

Nobelpreis und Welterfolg

Die Druckmaschinen laufen auf Hochtouren und müssen ihre Drehzahl noch erhöhen, weil das Nobel-Komitee Thomas Mann als dem Autor der "Buddenbrooks" 1929 seinen Preis für Literatur zuerkennt; vor 1933 werden 1.165.000 Exemplare abgesetzt. Bis heute - im "Dritten Reich" waren Manns Werke lange verboten - wurden in Deutschland noch einmal weit über 3.000.000 verkauft; Übersetzungen in 31 Sprachen kommen hinzu.

So ein grandioser Erfolg macht den Autor reich und glücklich, kann ihn aber auch abstempeln und lähmen. Im Ausland (wie für viele in Deutschland) bleibt Thomas Mann bis zu seinem Tod der Verfasser der "Buddenbrooks", und die Nobelpreis-Urkunde nennt nur den ersten Roman - das restliche Werk steht in seinem Schatten.

Nach 1901 hatte Mann, der zu einer Größe im öffentlichen Leben geworden war, ja durchaus nicht geschwiegen. Zahlreiche Essays und Artikel zu allen möglichen und unmöglichen Themen verfasst er, publiziert weitere Erzählungen, dann auch das Hauptwerk seiner Kriegsjahre, "Die Bekenntnisse eines Unpolitischen", doch dauert es 23 Jahre, bis ihm ein Roman von mindestens gleichem Rang gelingt: "Der Zauberberg" erscheint 1924.

Extrem unterschiedlich fallen die Kritiken aus, und viele Käufer, die "Buddenbrooks II" erhofft hatten, enttäuscht das philosophische Buch. Allen folgenden Werken, vielleicht mit der einen Ausnahme des "Hochstaplers Felix Krull", ergeht es ähnlich. Sie werden viel gelesen und diskutiert, aber die Popularität der "Buddenbrooks" erreicht keines.

Thomas Mann wehrt sich eine gewisse Zeit gegen die notorische Festlegung auf seinen Familien-Roman, doch nach und nach erkennt er selbst dessen einzigartige Bedeutung für sein Lebenswerk an.

Was die Literaturgeschichte an seiner Kunst preist, findet sich vielfach schon meisterhaft im Erstling: die Ironie natürlich, die komplexe Syntax, die an Wagner geschulte Leitmotiv-Technik, die Überformung und Steigerung des Autobiografischem, die philosophischen Einlagen, märchenhafte und mythische Motive; schließlich auch sein Thema: die biologische Dekadenz des Bürgertums als eine geistige Verfeinerung und Sensibilisierung.

In den "Buddenbrooks" hatte sich Thomas Manns künstlerische Energie zum ersten Mal konzentriert und im epischen Wurf glücklich bewiesen. Hier liegt der Beginn einer im eigentlichen Verstande durchaus unheimlichen Produktivität.

Teuflische Begegnung

Denn in Palestrina, wo ihn 1896 die Pläne für sein großes Buch beschäftigen, widerfährt ihm eine seltsame, ja teuflisch unangenehme Begegnung, die er sogleich ins Werk aufnimmt und Christian Buddenbrook zumutet: "Passieren dir", fragt der seinen Bruder Thomas, "vielleicht solche Dinge, dass, wenn du in der Dämmerung in dein Zimmer kommst, du auf deinem Sofa einen Mann sitzen siehst, der dir zunickt und dabei überhaupt gar nicht vorhanden ist?! . . ."

Jahrzehnte später formt Thomas Mann seine merkwürdige Vision zum zentralen Kapitel des "Doktor Faustus", in dem Adrian Leverkühn in Palestrina eine Teufelserscheinung heimsucht: "Jemand sitzt im Dämmer auf dem Rosshaarsofa . . . sitzt in der Sofaecke mit übergeschlagenem Bein . . . fortwährend drängt mich Kälte an."

Es ist dies bei weitem nicht das einzige, jedoch das stärkste Bindeglied der beiden, scheinbar so weit entfernten Romane; der Kreis schließt sich zwischen dem jugendlichen Wurf und dem strengen Alterswerk. Wie sollte Thomas Mann nicht an Goethe denken, den sein "Faust"-Projekt sogar über sechs Jahrzehnte begleitet hatte?

Mit aller Klarheit und in einer schönen Mixtur aus Resignation, Understatement und Stolz formuliert er in einem Brief an Lion Feuchtwanger vom 27. Dezember 1950: "Wenn Goethe recht hat, zu sagen, dass der der Glücklichste ist, dem es gelingt, das Ende seines Lebens an den Anfang zu knüpfen, so bin ich ,glücklich'; der Faustus schließt sich wirklich mit den jugendlichen ,Buddenbrooks', rück- und rundläufig, zu einem Ring zusammen und sucht die Einheit, Geschlossenheit, Festigkeit des Lebenswerks zu sichern.

Umsonst, wie ich oft glaube. Denn wahrscheinlich bleiben die Buddenbrooks ,mein' Buch, das mir aufgetragene und künstlerisch einzig wirklich glückliche, das immer gelesen werden wird . . . Ich sage immer, dass, was nach dem Faustus noch kommt, nur Nachspiel und Zeitvertreib ist. Aber manchmal geht es mir auf, dass alles, was nach ,Buddenbrooks' kam, im Grunde nur Nachspiel und anständiger Zeitvertreib war."

In gewissermaßen gottschälkischer Josephs-Weise könnte man ihm zustimmen und konstatieren: "Es ist so!"

Freitag, 13. Juli 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 14:58:00

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