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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Vor 250 Jahren wurde Jakob Michael Reinhold Lenz geboren

Einer, dem die Welt zu eng war

Von Oliver Bentz

Wir werden geboren - unsere Eltern geben uns Brot und Kleid - unsere Lehrer drücken in unser Hirn Worte, Sprachen, Wissenschaften . . . es entsteht eine Lücke in der Republik wo wir hineinpassen - unsere Freunde, Verwandten, Gönner . . . stoßen uns glücklich hinein - wir drehen uns eine Zeit lang in diesem Platz herum wie die andern Räder und stoßen und treiben - bis wir, wenn's noch so ordentlich geht, abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen - das ist . . . unsere Biographie . . . Heißt das gelebt? Heißt das eine Existenz gefühlt, seine selbständige Existenz, den Funken von Gott?"

So spricht einer, dem die Welt zu eng geworden ist. Einer, dem es nicht gegeben ist, sich in die Ständegesellschaft seiner Zeit einzugliedern, sich getrieben fühlt und schließlich an seiner lntegrationsunfähigkeit scheitert: So spricht der Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der vor 250 Jahren - nach dem alten russischen Kalender am 12. Jänner, nach dem neuen am 23. Jänner 1751 - im livländischen Seßwegen als Sohn eines pietistisch orientierten Pfarrers geboren wurde und heute als einer der Hauptvertreter der literarischen Bewegung des "Sturm und Drang" gilt.

Der Vater lehnte ab, was schon den jungen Lenz faszinierte: Die Dichtung und das Theater. Der spätere Generalsuperintendent von Livland hatte vielmehr auch für seinen Sohn eine Karriere im Kirchendienst geplant. Doch Lenz folgte nach seinem Theologiestudium, das er von 1768 bis 1771 in Königsberg absolvierte, nicht der Anweisung des Vaters, nach Livland zurückzukehren und dort auf eine Pfarrstelle zu warten: Eine Entscheidung, die ihm der Vater lebenslang nicht verzeihen sollte.

Als Gesellschafter und Übersetzer trat er in den Dienst der beiden kurländischen Barone von Kleist, die in Straßburg in französische Militärdienste treten wollten. Der fünfjährige Aufenthalt in der Stadt an Ill und Rhein, wo Lenz im Mai 1771 eintraf, sollte zum Wendepunkt in seinem Leben werden. In der elsässischen Metropole traf Lenz auf Goethe, der mit ihm die Begeisterung für Shakespeare teilte. Goethe vermittelte dem jungen Livländer, mit dem er bald Freundschaft schloss, seine mit Herder diskutierten Ideen. Rege beteiligte sich Lenz am literarischen Leben der Stadt und schloss sich der Sturm-und-Drang-Bewegung an.

In der Straßburger Zeit entstehen seine wichtigsten Werke, hinter denen man in früheren Zeiten teilweise sogar Goethe als Autor vermutete: Die fünf "Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche Theater", die Stücke "Der Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung", "Der neue Menoza", die theoretische Schrift "Anmerkungen übers Theater" (alle 1774) sowie die Komödie "Die Soldaten" (1776). In der Straßburger "Deutschen Gesellschaft", an deren Gründung Lenz maßgeblich beteiligt ist und deren Sekretär er wird, stellt er neben seinen literarischen Werken auch seine gesellschaftlichen Reformprojekte vor, von denen einige - etwa im Militärwesen - schon weit in die Zukunft vorausgreifen. Lenz thematisiert in seinen Dramen, die durch ein konsequentes soziales Engagement gekennzeichnet sind, die Probleme seiner Zeit.

Er zeigt die Konflikte und Spannungen der damaligen Gesellschaftsordnung mit ihren unüberwindlichen Standesgrenzen und ihren engen Moralbegriffen auf, die er am eigenen Leibe erlebte. So ist Läuffer, die Hauptfigur im "Hofmeister", als Sohn eines Stadtpredigers nach dem Studium gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer in einer adligen Familie zu verdienen. Von den Herrschaften ausgebeutet und abschätzig behandelt, verführt Läuffer die Tochter des Hauses und schwängert sie. Am Ende sieht er keine andere Möglichkeit, als sich selbst zu entmannen, um den sozialen Frieden wieder herzustellen. Der dünkelhafte Adel steht in diesem Stück, das den Beginn des sozialkritischen Milieudramas in Deutschland darstellt, ebenso im Zentrum der Kritik wie die Unterwürfigkeit des Bürgertums.

Formale Forderungen, die Lenz in seinen theoretischen Schriften erhebt, verwirklicht er in seinen Stücken: So verzichtet er auf die drei Einheiten (Handlung, Ort, Zeit) und tendiert zu einer offenen Dramenform. Durch die Vermischung von Tragischem und Komischem entziehen sich seine Stücke einer eindeutigen Gattungszuordnung, wie sie Gottsched und Lessing noch verlangt und praktiziert hatten.

Diese "Modernität" machte ihn auch für die Autoren und Regisseure des 20. Jahrhunderts interessant. So bearbeitete Bert Brecht mit großem Erfolg den "Hofmeister" 1950 für das Berliner Ensemble. Heinar Kipphardt wählte 1968 den Stoff des Stückes "Die Soldaten", in dem Lenz die aus dem ehelosen Leben der Offiziere entspringende zügellose Moral des Soldatenstandes und die Adelssucht der Bürger kritisierte, zur Bearbeitung aus. In der Vertonung Bernd Alois Zimmermanns fanden "Die Soldaten" 1965 auch den Weg auf die Opernbühne.

Als Begleiter des jüngeren der Barone von Kleist kam Lenz im Juni 1772 auch in die unweit von Straßburg gelegene Ortschaft Sesenheim. Dort hatte sich Goethe ein Jahr zuvor zeitweilig in die Pfarrerstochter Friederike Brion verliebt. Auch Lenz fühlte sich von dem von Goethe verlassenen Mädchen angezogen, stieß jedoch auf wenig Gegenliebe. Wie Goethe schrieb auch er für Friederike so genannte "Sesenheimer Gedichte".

Der erdrückende Alltag in Straßburg - die Kleists stellten Lenz lediglich Verpflegung und Unterkunft, seinen Unterhalt musste er sich durch das Stundengeben verdienen - und unzählige unglückliche Liebschaften veranlassten ihn im April 1776 nach Weimar zu gehen, wo sich Goethe seit Oktober 1775 ständig aufhielt.

Lenz wird dort zunächst gut aufgenommen, doch treibt ihn die Erfahrung mangelnder Freiheit und fehlender Gleichberechtigung immer wieder dazu, die Standesgrenzen bewusst zu übertreten. Zunächst nur belächelt, macht sein exzentrisches Treiben seine Stellung am Hof schließlich unhaltbar.

Ein bis heute nicht aufgeklärter Vorfall - wahrscheinlich eine Beleidigung oder Kränkung des Freundes Goethe -, führte zu der von Goethe verlangten und durch den Herzog ausgesprochenen Ausweisung von Lenz aus Weimar. Vielleicht verließen mit dem zügellosen Lenz auch endgültig die genialischen Launen des frühen Goethe Weimar. Denn Lenz' Wesen verkörperte etwas, was Goethe, der den ehemaligen Freund in "Dichtung und Wahrheit" nur als "vorübergehendes Meteor" bezeichnete, in sich selbst erfolgreich unterdrückte.

Lenz, der die Weimarer Katastrophe psychisch nicht verkraftete, begann ein planloses Reisen. Er fand Aufnahme bei einstigen Freunden in Südwestdeutschland und in der Schweiz. Die Symptome von Getriebenheit und Ruhelosigkeit steigerten sich bis zum Ausbruch des Wahnsinns. Phasen der Ruhe wechselten sich mit Tobsuchtsanfällen ab.

Im Jänner 1778 kam Lenz in die Vogesen und fand beim Pfarrer Johann Friedrich Oberlin im Steintal für einige Wochen Aufnahme. Besonders hier zeigen sich die von Zeitgenossen als "Manie" und "Melancholie" beschriebenen Symptome seiner Krankheit. Oberlins Aufzeichnungen bildeten die Grundlage für Georg Büchners 1839 erschienene Novelle "Lenz", die zu den großartigsten Zeugnissen deutschsprachiger Prosa gehört.

Sein jüngerer Bruder holte Lenz, nachdem die Familie die dramatische Berichte über seinen Zustand lange Zeit mit Gleichgültigkeit aufnahm, im Sommer 1779 aus der Obhut eines Arztes in Hertingen bei Basel ab und bracht ihn nach Riga. Den vergeblichen Versuchen, zuerst in Riga und dann in St. Petersburg eine Anstellung zu finden, folgte wieder eine Phase ruhelosen Hin- und Herreisens.

Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte Lenz in Moskau, wo er sich, so lange es sein Geisteszustand noch zuließ, als Lehrer und Übersetzer durchschlug und von der russischen Freimaurerbewegung unterstützt wurde.

Während seiner letzten Jahre entstanden zahlreiche literarische und theoretische Werke, die jedoch ungedruckt blieben. In der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792 fand man Lenz tot auf einer Moskauer Straße. Ein Unbekannter ließ ihn an einem unbekannten Ort begraben.

Freitag, 19. Jänner 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:02:00

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