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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Zum 100. Geburtstag der Schriftstellerin Anna Seghers

Die rätselhafte Kommunistin

Von Peter Mohr

Anna Seghers' literarischer Rang steht außer Frage, doch an der Person Anna Seghers scheiden sich auch heute noch die Geister. "Was zählt, ist das Werk - nicht die Person", hatte die Schriftstellerin schon zu Lebzeiten ihren Gegnern erwidert, deren Kritik zumeist politisch motiviert war und in Anna Seghers' frühem Beitritt zur KPD (1928) ebenso ihre Wurzeln hatte wie in ihrer unreflektierten Haltung zur DDR, wo sie bis zu ihrem Tod 1983 lebte.

Anna Seghers, die am 19. November 1900 in Mainz unter dem Namen Netty Reiling als Tochter eines wohlhabenden Kunsthändlers geboren wurde, promovierte 1924 in Heidelberg über das "Judentum in Rembrandts Werk". Da hatte sie bereits erste literarische Texte verfasst, die erst später (teilweise posthum wie jetzt "Jans muss sterben") erschienen.

Anna Seghers frühe Erzählungen sind durchwegs getragen von einem emanzipatorischen Leitmotiv. Stark an Dostojewski erinnernd, schildert sie in "Grubetsch" (1927) einen gefängnisgleichen Großstadthinterhof, in dem Arbeiterfamilien in der sich abzeichnenden Weltwirtschaftskrise ein menschenunwürdiges Dasein fristen. Ähnlich desillusionierend ist auch der Niedergang einer Proletarierfamilie in "Die Ziegler" (1927) und der Kampf ungarischer Bauern in "Bauern von Hruschwo" (1929) beschrieben. In diesen thematischen und zeitlichen Kontext gehört auch die erst jetzt erschienene Erzählung "Jans muss sterben" aus dem Jahr 1924. Sie wirkt wie ein auf die private Sphäre reduzierter Vorläufer von "Grubetsch". Das Leben der Arbeiterfamilie Jansen gerät aus den Fugen, als der innig geliebte Sohn Jans stirbt. Wie eine Fremddetermination des Schicksals klingt die Hilflosigkeit des konsultierten Arztes: "Man muss abwarten, man muss die Fenster verdunkeln und Aufschläge machen. Mehr kann man nicht machen." Dieser kurze Text weist noch unübersehbare Schwächen sowohl in der Sprache als auch in der Handlungslogik auf und dürfte in erster Linie für Philologen wertvoll sein.

In der mit dem Kleist-Preis ausgezeichneten Erzählung "Der Aufstand der Fischer von St. Barbara" scheitert Hull, der Führer der aufständischen Fischer, im Kampf gegen die barbarischen Unterdrückungsmethoden der Reeder nicht zuletzt an der fehlenden Solidarität.

Aus dieser Erzählung entstand 1934 im russischen Exil der einzige Film des bekannten Theaterregisseurs Erwin Piscator. Da war das Geheimnis um das Pseudonym Seghers, hinter dem man anfangs einen Mann vermutete, längst gelüftet, denn den renommierten Kleist-Preis nahm die Autorin 1928 aus den Händen von Hans Henny Jahnn nicht als Netty Reiling oder Netty Radvanyi (so hieß sie seit der Heirat 1925 mit einem ungarischen Soziologen), sondern als Anna Seghers entgegen. Gewählt hatte sie den Namen in Anlehnung an einen holländischen Radierer aus der Rembrandt-Epoche, mit dem sie sich während des Studiums auseinandergesetzt hatte.

Nach kurzer Gestapo-Haft gelingt ihr 1933 gemeinsam mit Ehemann Laszlo und den Kindern Peter und Ruth (sieben und fünf Jahre alt) die Flucht nach Paris. Als die deutschen Truppen 1940 die französische Hauptstadt besetzen, beginnt die zweite, lebensgefährliche Etappe des Exils, die sie über ein kleines Dorf in der Nähe von Toulouse und den Hafen von Marseille im Juni 1941 auf den rettenden mexikanischen Boden führt.

1942 erschien (zunächst in New York auf Englisch) Anna Seghers' bekanntester Roman "Das siebte Kreuz", dessen Popularität noch durch die 1944 von Fred Zinneman erfolgte Verfilmung mit Spencer Tracy in der Hauptrolle gesteigert wurde. Ein Werk, das gleichermaßen von Trauer und Hoffnung, von Verzweiflung und Zuversicht kündet. Sieben Häftlinge sind aus einem Konzentrationslager entflohen, und deren Kommandant (ein paradigmatischer Nazi-Unhold) hat sich zum Ziel gesetzt, die Entflohenen innerhalb einer Woche wieder einzufangen. Um dies zu symbolisieren, hat er sieben Platanen auf dem Lagerplatz mit Querbalken zu Folterkreuzen umfunktioniert. Doch das "siebte Kreuz" bleibt leer, denn Georg Heisler kann sich mit einem Rheinschiff nach Holland absetzen. Zuvor hatte Anna Seghers ihm für einen Tag (ein symbolischer Akt) Unterschlupf im Dom ihrer Geburtsstadt Mainz gewährt. Diese dramatische Flucht, auf der sich völlig unpolitische Menschen durch ihre Hilfeleistungen selbst in Gefahr bringen, ist nicht nur ein authentisches Zeitzeugnis, sondern eines der emotional bewegendsten Stücke deutscher Prosa des 20. Jahrhunderts.

Auf der Durchreise

Ein Jahr später erschien der Roman "Transit", in dem Anna Seghers sich nah an die eigene Biografie herangetastet hat. Es geht um das hektische Treiben unter den in Marseille auf ihre Ausreisepapiere wartenden Emigranten. Der Titel "Transit" weist weit über den erzwungenen Durchreisestatus hinaus; er stand auch für die im Umbruch befindliche Weltordnung.

Über Schweden und Frankreich kehrt Anna Seghers 1947 nach Deutschland zurück und lässt sich zunächst in West-Berlin nieder. (Sie wechselt erst 1950 in den Ostteil der Stadt über.) Diesem Umstand - so darf man heute mutmaßen - verdankt sie die Verleihung des Georg-Büchner-Preises, denn seit ihrem politischen Bekenntnis zur DDR ("Weil hier ein enger Zusammenhang besteht zwischen dem geschriebenen Wort und dem Leben") gab es über Jahrzehnte hinweg in der Bundesrepublik keine vorurteilsfreie Seghers-Rezeption mehr. Da wurde u. a. 1962 von Marcel Reich-Ranicki auf die mit allen Weihen (Nationalpreis der DDR, Ehrendoktorwürden) inthronisierte Repräsentantin der DDR gezielt, aber eine verdienstvolle Schriftstellerin getroffen. Nicht mehr die Künstlerin, sondern die politische Figur Seghers stand im Mittelpunkt; die öffentliche Person, die 26 Jahre lang (bis 1978) den Schriftstellerverband der DDR leitete und zur blutigen Niederschlagung der Arbeiteraufstände im Juni 1953 und bekannten Zensurpraktiken ebenso schwieg wie zu den Schauprozessen der 50er-Jahre, in denen oppositionelle Intellektuelle zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.

Was hat sie bewogen, sich mit den Machthabern des SED-Regimes als eine Art stumme Zeugin zu arrangieren? War es ihre Form der Dankbarkeit gegenüber den Politikern, die sie mit Lorbeeren überschüttet hatten? Oder fehlte ihr einfach nach dem beschwerlichen Lebensweg der Elan (und vielleicht auch der Mut), weiterzukämpfen?

Erst zu Beginn der 70er-Jahre kann sich Anna Seghers nach etlichen schwächeren Werken aus ihren selbst angelegten ideologisch-literarischen Fesseln noch einmal lösen. Sie ist schon über 70 Jahre alt, als plötzlich in der "Überfahrt" die Liebe zum künstlerischen Motiv wird. Anna Seghers arbeitet künstlerisch ihre Erinnerungen an die Karibik auf und befasst sich außerdem mit Literatur unterschiedlichster Epochen. Diese Auseinandersetzung ist der Impuls für das exzellente Alterswerk "Die Reisebegegnung" (1973), in der sie Kafka, ETA Hoffmann und Gogol einander begegnen lässt.

Pünktlich zum Jubiläum ist neben der mit einem Nachwort ihres Sohnes Pierre (Peter) versehene Erzählung "Jans muss sterben" auch eine bis ins Jahr 1947 reichende Biographie von Christiane Zehl-Romero erschienen. Doch die zentrale Frage dieser Epoche bleibt auch nach der Lektüre weiterhin unbeantwortet: Was waren die Motive der aus bürgerlichem Milieu stammenden promovierten Kunsthistorikerin, sich ganz dem Denken und Handeln der Proletarier zu widmen? Auch ein erstmals veröffentlichter Band mit Briefen aus dem Jahr 1947 fördert in dieser Beziehung nichts Erhellendes zu Tage. So bleibt der hinter der großen Schriftstellerin Anna Seghers stehende Mensch weiter ein rätselhaftes Wesen. Ob der für das kommende Jahr avisierte zweite Teil der Biographie neue Einblicke gewährt?

Christiane Zehl-Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1900 bis 1947. 560 Seiten, 59,90 DM

Anna Seghers: Jans muss sterben. Erzählung. 89 Seiten, 29,90 DM

Anna Seghers: Eine Biographie in Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf. 262 Seiten, 39,90 DM

Anna Seghers: Hier im Volk der kalten Herzen. Briefwechsel 1947. Hg. von Christel Berger, 281 Seiten, 17,90 DM

Alle im Aufbau Verlag, Berlin

Der Reclam Verlag Stuttgart hat in seiner Reihe "Literaturstudium" die biographische Studie: "Anna Seghers" von Sonja Hilzinger angekündigt. Der Band hat 248 Seiten und wird demnächst erscheinen.

In der Buchhandlung Amadeus im Steffl, 1010 Wien, Kärntner Straße 19, findet heute, Freitag, den 17. November, um 19.30 Uhr eine Podiumsdiskussion zum 100. Geburtstag von Anna Seghers statt.

Wendelin Schmidt-Dengler, Helmut Schüller und Erika Weinzierl diskutieren über das Leben der Autorin und vor allem über "Das siebte Kreuz". Barbara Stieff liest Seghers-Texte.

Freitag, 17. November 2000 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:03:00

Lexikon



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