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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Neues zur Frage nach der Identität

Shakespeare: Der Caleygreyhound erzählt

Von Walter Klier

Wieder einmal ist es an der Zeit und geradezu unvermeidlich, an Edgar Allan Poes berühmte Kurzgeschichte "The Purloined Letter" ("Der entwendete Brief") zu erinnern, wo das entscheidende Beweisstück vor der Polizei dadurch verborgen wird, dass man es an gut sichtbarer Stelle in einen Kartenständer steckt. So wird es bei der peinlich genauen Hausdurchsuchung übersehen.

Ähnlich ist es einem Hinweis auf die tatsächliche Autorschaft an Shakespeares Werken ergangen, den die Herausgeber der Gesamtausgabe, der berühmten First Folio von 1623, weithin sichtbar über das Inhaltsverzeichnis am Beginn des Buches setzten. Der Kopf dieser immer wieder reproduzierten Seite mit "A Catalogue Of The Severall Comedies, Histories, And Tragedies Contained In This Volume" weist eine Zierleiste auf von der Art, wie sie zu jener Zeit als Buchschmuck durchaus üblich war. Meist handelt es sich dabei um ein mehr oder weniger schlichtes Ornament; hier allerdings haben wir ein komplexes allegorisches Geschehen vor uns; und trotz aller - wie bekannt sein dürfte - heftigen Streitigkeiten, die seit mindestens 150 Jahren um die Identität Shakespeares toben, hat es bis 1999 gedauert, dass jemand genau hingeschaut und der Bedeutung und Herkunft der einzelnen Bildelemente nachgespürt hat: der englische Forscher Charles Bird, der übrigens in Essex, in Castle Hedingham, der kleinen Ortschaft nahe dem Stammschloss jenes exzentrischen Adligen lebt, der mit nunmehr schon sehr großer Wahrscheinlichkeit der "wahre" Shakespeare gewesen ist: Edward de Vere, der 17. Graf von Oxford.

Es muss hier vielleicht daran erinnert werden, dass wir von einer Zeit sprechen, in der einerseits die Heraldik, die Lehre von den Bestandteilen der Wappen und ihren Bedeutungen, ein ganz übliches Wissensgebiet war (wovon heutzutage keine Rede mehr sein kann), und in der andererseits vieles nicht direkt, sondern gewissermaßen nur durch die Blume gesagt werden konnte. Es war durchaus üblich und ist nicht auf die Shakespeare-Problematik beschränkt, dass neuralgische Sachverhalte in Wort- und Bilderrätseln versteckt wurden, für die Wissenden weithin sichtbar und doch wie nicht vorhanden. (Irgendeine Form des Double-Speak wird ja in allen diktatorisch regierten Gesellschaften entwickelt, wie sich am Beispiel des 20. Jahrhunderts unschwer zeigen lässt.)

Die Frage der Zuschreibung

Neuralgisch war im England Elisabeths und Jakobs einiges, und die heute (meist) selbstverständliche Nennung des Autorennamens auf der Titelseite gehörte aus verschiedenen Gründen dazu. Nicht auf den rätselhaften "William Shakespeare" beschränkt ist daher die Suche nach der Identität der Verfasser zahlreicher literarischer und anderer Werke jener Epoche; doch nur bei Shakespeare konnte sich die schlichte Frage der "Zuschreibung", wie das bei den Kunsthistorikern heißt, zu einer solchen Haupt- und Staatsaktion auswachsen.

Im Jahre 1582 erschien in London ein Gedichtband mit dem Titel "The Hekatompathia Or Passionate Centurie Of Love", die der Autor Thomas Watson keinem anderem als dem vermutlichen Shakespeare, dem 17. Grafen von Oxford widmete. Die Titelseite ziert, abgesehen von den Gestalten von Amor, Venus und Apollo, ein allegorisches Frühlingsbild. Im linken und rechten unteren Eck sieht man je einen Stier in Angriffsstellung, was in einem dem Grafen von Oxford gewidmeten Buch ohne Zweifel eine Anspielung auf seinen Namen ("Oxenford") sowie auf das Sternzeichen des Stiers darstellt, unter dem der Graf geboren wurde.

41 Jahre später kehrt die Frühlingsszene in fast identischer Form in der First Folio wieder. Man kann allerdings einige kleine Änderungen und Zusätze bemerken, die sämtlich dazu zu dienen scheinen (eine andere Erklärung wäre hier nun tatsächlich weit hergeholt), den Hinweis auf Edward de Vere zu verdeutlichen. Die zwei Stiere (oder Ochsen) mit ihrem gesenkten Kopf sind mit einem weiteren heraldischen Tier gekreuzt worden, und zwar mit einem, das in der Geschichte der Wappen nur einmal vorkommt. Es ist der sogenannte "caleygreyhound".

Kreuzung aus Antilope

und Windhund

Der "caleygreyhound", seinerseits eine Kreuzung aus Antilope und Windhund, war von John de Vere, dem 13. Grafen von Oxford, als Wappentier gewählt worden. Der Graf war einer der wichtigsten Verbündeten, die 1485 in der Schlacht von Bosworth Richard III. besiegten und den Thron für den Grafen von Richmond, dann Heinrich VII., sicherten. Zum Dank erhielt der verarmte John de Vere vom König seine Güter zurück und außerdem verschiedene einflussreiche Ämter. Die neugewonnene Position erforderte ein neues Wappen (zusätzlich zum althergebrachten blauen Eber der Grafen von Oxford); und dazu versah de Vere die Antilope (aus dem Wappen des siegreichen Hauses Lancaster) mit den Vorderbeinen eines Adlers und den Hinterbeinen und Pfoten eines Windhunds. Der Windhund kommt aus dem königlichen Wappen, die Adlerklauen hingegen von der Harpyie, die ihrerseits aus dem heraldischen Bestand des anderen großen (und mit Richard III. unterlegenen) Hauses von York herkommt.

So repräsentiert der "caleygreyhound" gewissermaßen das Endresultat der Rosenkriege, dem großen, den shakespeareschen Königsdramen zugrundeliegenden historischen Gegensatz, in seiner Fabelfigur. "Caley", eine altertümliche Bezeichnung für Hirsch oder Antilope, wurde fallweise auch für Ziegen, Schafe oder Hirsche verwendet. Auf dem Grabstein des 15. Grafen halten eine Harpyie und der "Caleygreyhound" das eigentliche Wappen; das kuriose Wesen erscheint noch einmal auf dem Grabmal des 16. Grafen, dem Vater Edward de Veres; sonst taucht es in der Heraldik nirgendwo auf, wie ein Blick in das den "Monsters", also den zusammengesetzten Wappentieren gewidmete Kapitel im "Complete Guide to Heraldry" von A. C. Fox-Davies (Erstauflage 1909, überarbeitete Neuauflage 1969) erweist. Erst 1623 feiert es seine Wiederauferstehung, und zwar in der First Folio.

Der Stier/Ochse der Hekatompathia hat also Adlerkrallen und einen Windhundschweif bekommen, überdies uriniert er auf Hundeart oder -unart; was sich kaum anders erklären lässt, als dass der Drucker beziehungsweise die für die Herausgabe verantwortliche Person (oder die Personen) über die heraldischen Verhältnisse im Hause Oxford auf eine intime Weise im Bilde waren. Das verstärkt die Vermutung, dass die Grafen von Pembroke und Montgomery (Edward de Veres Schwiegersohn) mehr mit der Herausgabe der Folio zu tun hatten, als sie sich bloß widmen zu lassen. Pembroke war zusammen mit Henry de Vere, dem 18. Grafen von Oxford, einer der hauptsächlichen Gegner König Jakobs in der Frage, ob Jakobs Sohn Karl sich mit dem katholischen Erbfeind in Gestalt der Schwester des spanischen Königs Philipp IV. verheiraten solle. Diese Frage führte genau um die Zeit der Herausgabe der Folio, etwa ab 1621, zu einer schweren innenpolitischen Krise in England.

Die Vermutung ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die merkwürdig übereilte Edition der Folio 1623 damit in Zusammenhang steht; Shakespeares Werk, als patriotisch-englische Aktion gegen den drohenden Einzug der Spanier und Katholiken gedacht.

Zu diesem Zeitpunkt wurde offenbar auch beschlossen, die schattenhafte Figur des "William Shakespeare" mit ein paar konkreten Eigenschaften auszustatten, etwa in der Art, wie der betrunkene Christopher Sly im Vorspiel zu "Der Widerspenstigen Zähmung", als Lord verkleidet, aufwacht und umsorgt und umhegt wird.

Damit wurde das Inkognito des eigentlichen Verfassers für den Augenblick gewahrt - dass dieser Augenblick das wahrhaft historische Ausmaß von 400 Jahren annehmen würde, konnte 1623 schwerlich angenommen werden. Denn vorsorglich hatte man die Folio nicht nur mit deutlichen Hinweisen darauf versehen, dass es sich bei "William Shakespeare" um eine Witzfigur handelte, - der deutlichste ist gewiss das maskenhafte Porträt des "Dichters" - sondern auch mit einem weniger deutlichen, aber für das Verständnis der Zeit immer noch ausreichenden Hinweis auf die richtige Identität des Verfassers.

Was sagen die Hasen?

Dieser Hinweis, sozusagen der auf Edward de Vere gerichtete Zeigefinger, findet sich in der Bildleiste über dem "Catalogue". Zu dem oben beschriebenen Fabeltier tritt ein weiteres Bildelement: links und rechts oben sehen wir zwei Hasen. Was sagen uns die Hasen? Zunächst einmal: Hares speak. Das ist ein Anagramm, das neugeordnet "Shakespeare" ergibt. Aber wovon sprechen sie? Der Hase steht für den Frühling, und vom Frühling, lateinisch "ver", spricht schon Thomas Watson in einem seiner in der Hekatompathia gesammelten Gedichte:

". . . and time of Vere reneweth everything."

Um die Verbindung zum (ent)sprechenden Familiennamen enger zu machen, kann man noch hinzufügen, dass die Hasen jung sind, und junge Hasen heißen "leveret". Daraus entsteht ohne viel Hinundher L. E. Vere (Lord Edward Vere). Wenn man weiter gehen will (und auf dem Gebiet, auf dem wir uns hier umtun, ist man nie ganz sicher, mit welchem Schritt man schließlich zu weit gegangen ist), kann man das überständige "T" von "leveret" de Veres zweiter Frau Elizabeth Trentham als Initial zuordnen.

Nun steht die Schmuckleiste auf der "Catalogue"-Seite nicht allein; ihre Motive kehren an einigen anderen Stellen wieder, und zwar immer in Zusammenhang mit Shakespeare und so, als sollte an dieser Stelle nochmals ausdrücklich auf jemand Speziellen hingewiesen werden.

So wird die Zierleiste von der "Catalogue"-Seite auf der ersten Seite von "The Tempest" wiederholt. Die "leverets" hingegen hoppeln über die Titelseite von Shake-Speares Sonnets von 1609. Die "Alephs" aus der Hekatompathia hingegen kehren auf der ersten Seite des "schlechten Quartdrucks" von Hamlet im Jahr 1603 wieder, hier ergänzt um zwei Auerhähne, deren englische Bezeichnung "capercaillie" zu einem Wortspiel mit "caley" einlädt: "to caper" heißt nämlich dasselbe wie das alte "caley": springen.

Ein wenig Ikonographie

Wenn man nun einwendet, das geschilderte Verfahren sei eine einigermaßen umständliche Methode, um einen schlichten Sachverhalt mitzuteilen, so kann man dem nur zustimmen. Es gehört in eine Zeit, die uns in gewisser Hinsicht äußerst fremd geworden ist - und dieser Umstand kollidiert mit der weit verbreiteten Ansicht, dass zumindest Shakespeares Dramen, wenn nicht überhaupt die Literatur aus jener Zeit unmittelbar und ohne weitere Vorbildung auf uns zu wirken vermögen. Das stimmt allerdings nur insoweit, als wir auch einen gotischen Flügelaltar oder ein barockes Deckengemälde spontan als "schön" empfinden, dass es uns zu berühren vermag, ohne dass wir das ikonographische Programm, das ihnen zugrunde liegt verstehen würden (außer wir machen uns die Mühe und lernen).

Um hier ein Beispiel aus der bildenden Kunst heranzuziehen: Leonardo da Vincis "Dame mit Hermelin", heute in Krakau, berührt den Betrachter ganz unmittelbar. Doch wen es interessiert, warum Cecilia Gallerani, die Dargestellte, dieses Tier in Armen hält, der erfährt folgendes: sie war um 1490, als das Bild entstand, die "offizielle Mätresse" des Herzogs von Mailand, Ludovico Sforza, genannt Il Moro. Nachdem er 1488 den Hermelinorden verliehen bekommen hatte, wurde er auch Ermellino, das Hermelinchen, gerufen. Darüber hinaus enthält der Familienname der Dame das griechische Wort für Hermelin, "gale".

Die verbreitete Weigerung, sich auf die Einzelheiten einer Ikonographie und die darin enthaltenen Bedeutungen einzulassen, entspringt einem naiven Unmittelbarkeitskult, und dieser wiederum stützt die kuriose Weigerung breitester Kreise in der Literaturwissenschaft, die Shakespearesche Frage ernst zu nehmen und die im Werk und - wie sich nun zeigt - auch seiner bildnerischen Begleitung auch enthaltene Frage zu beantworten: "Who wrote Shakespeare?"

Dass man William Shaksper aus Stratford zu Ehren ein paar exotische heraldische Wesen ausgegraben hätte, die ausgerechnet aus dem Besitzstand des Grafen von Oxford stammen, ist nun doch eine schwer nachvollziehbare Überlegung. Und so wartet man gespannter als zuletzt, mit welchen Argumenten die Vertreter des "herkömmlichen" Shakespeare den Caleygreyhound und das Häschen aus der Welt reden werden.

Für jene, die eine Freude an runden Jahreszahlen haben, sei noch angemerkt, dass der "richtige" William Shakespeare, also der Graf von Oxford, am 22. April dieses Jahres seinen 450. Geburtstag feiert

Der Aufsatz von Charles Bird findet sich in: Charles Bird, Springtime in Hesperides, in: The De Vere Society Newsletter, 4/1999. Über Shakespeare-Autorschaftsfragen berichtet in deutscher Sprache: Neues Shake-Speare Journal, hrsg. von Robert Detobel und Uwe Laugwitz, Verlag Uwe Laugwitz, D-21244 Buchholz in der Nordheide. Seit 1997 sind vier Bände erschienen, der 5. mit dem Schwerpunkt Shakespeare und Italien erscheint im Mai 2000.

Freitag, 21. April 2000 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:58:00

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