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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Besuch im Joseph-Conrad-Museum in Terechowaja, Ukraine

Conrad, Joseph: Ein verschollener Brief von der Queen

Von Michael Martens

Wer auf der Fernstraße von Kiew nach Winniza gegen Süden unterwegs ist, kommt nach etwa zwei Dritteln der Strecke an eine Kreuzung, von der aus eine kleinere Straße
in nordwestliche Richtung führt. In dieser Richtung liegt Wolhynien. Folgt man dieser kleineren Straße und später noch anderen kleinen Straßen und Wegen der wolhynischen Provinz, kann man nach
einigen Stunden in ein Dorf namens Terechowaja gelangen. Das wäre kaum weiter erwähnenswert, gäbe es dort nicht etwas zu sehen, was sehr ungewöhnlich ist für ein ukrainisches Dorf: In Terechowaja
gibt es nämlich ein Museum. Für sich genommen ist zwar auch das noch keine Sensation und wäre, handelte es sich um ein Museum der Errungenschaften des örtlichen Kolchos oder um eine Ausstellung zur
Geschichte der regionalen kommunistischen Partei, nichts, was das Dorf Terechowaja auszeichnete vor anderen Dörfern des Landes. Dergleichen kommt vor in der ukrainischen Provinz. Doch das Museum von
Terechowaja erinnert weder an übererfüllte Erntepläne der sowjetischen Vergangenheit, noch zeigt es händeschüttelnde Größen der lokalen Parteigeschichte. Es ist einem weltberühmten Schriftsteller
gewidmet. Der wurde vor über 140 Jahren in einer nahe gelegenen Kleinstadt geboren und hat in Terechowaja die ersten Lebensjahre verbracht. Seine Eltern, das polnische Ehepaar Korzeniowski, gaben
ihrem Jungen die Vornamen Józef, Teodor und Konrad. Weltberühmt wurde Józef Teodor Konrad Korzeniowski unter zwei seiner Vornamen: als Joseph Conrad, Magier der Meere, Schilderer ferner Welten und
menschlicher Abgründe, einer der größten Erzähler der angelsächsischen Literatur.

Terechowaja ist ein schönes Dorf. Es liegt abseits der großen Straßen in der sacht wogenden Hügellandschaft Wolhyniens. An einem Ende des Dorfes liegt ein Teich, am andern Ende beginnt ein Wald,
ringsherum liegen Felder. Es gibt ungefähr 3« Straßen in Terechowaja. In welcher davon sich das Museum in memoriam Joseph Conrad befindet, ist auf Anhieb nicht auszumachen. Eine Bäuerin, die auf dem
Fahrrad vorbeikommt, hilft weiter. Natürlich gebe es ein Museum in Terechowaja. Sie weist auf ein Haus an jenem Dorfrand, wo der Teich liegt: „Dort wohnt unser Historiker. Der weiß alles."

Der Historiker heißt Michail Bedj und ist gerade dabei, die Wiese neben seinem Haus zu sensen. Das Joseph-Conrad-Museum? Michail Bedj lehnt sich auf den knorrigen und windschiefen Weidezaun und denkt
nach. Um das Museum zu besuchen, sagt er schließlich, benötige man die Erlaubnis des Direktors, bei dem auch die Schlüssel lägen. Der Direktor wohne aber ein paar Häuser weiter. Bedj überlegt wieder
eine Weile und verkündet schließlich seiner Frau, dass er mit den Gästen „zum Direktor" gehen werde. Auf dem Weg dorthin erzählt er von sich und vom Leben in Terechowaja. Zuerst entschuldigt er sich
für seinen Aufzug. Michail Bedj trägt Gummistiefel und hat vom Arbeiten schwarze Trauerringe aus ukrainischer Erde unter allen Fingernägeln. Eigentlich sei er zwar Historiker, aber davon könne er
seine Familie nicht ernähren. Deshalb betreiben die Bedjs eine kleine Landwirtschaft. Geld könne man damit nicht verdienen, aber zur Selbstversorgung reiche es, sagt der 43-Jährige. In seiner
Freizeit schreibt er manchmal noch Artikel zu historischen Themen, die er dann in der Lokalzeitung der Kreisstadt oder in Fachjournalen unterbringt. Zuletzt hat er über Bogdan Chmelnizki gearbeitet,
den umstrittenen ukrainischen Freiheitskämpfer.

Der Museumsdirektor wohnt in einer Kate mit akkurat weißgekalkten Wänden, die von einem Hund bewacht wird. Bedj klopft an eines der Fenster, dann kommt der Direktor. Er trägt eine abgewetzte
Cordjoppe, ein altes graues Hemd und eine schlecht sitzende Hose. Bedj stellt ihn als slawistischen Philologen vor. Das mag stimmen oder nicht, russisch spricht der Direktor jedenfalls nur schlecht.
Über das Interesse an seinem Museum ist er aber sichtlich erfreut. Nur habe er damit nicht gerechnet und müsse sich umziehen, sagt er und verschwindet nochmals in seinem kleinen Haus. Nach wenigen
Minuten kommt er wieder. Die abgewetzte Cordjoppe hat er gegen ein ausgebeultes Jackett getauscht, statt des alten grauen Hemdes trägt er nun ein altes gelbes Hemd, die Hose ist dieselbe. Es folgen
gleichermaßen herzliche wie langwierige Begrüßungsfloskeln.

Freundliche Verzögerungen

Der Direktor heißt Nikolai Jefimowitsch Schepeljuk, ist Mitte 60 und Rentner. Er fragt nach der Herkunft der Gäste. Aus Deutschland? Deutschland sei ein schönes Land, sagt Schepeljuk. Er war zwar
nie dort, aber darum geht es nicht. Er hätte auch Frankreich oder Neuguinea in ähnlicher Weise gelobt, wenn jemand aus Frankreich oder Neuguinea nach Terechowaja gekommen wäre. Das gehört zur
Gastfreundschaft in der Ukraine. Als es nach Austausch weiterer Freundlichkeiten schließlich losgehen soll, schlägt sich Schepeljuk mit der Hand an die Stirn. Er muss noch einmal zurück ins Haus.
Schlüssel vergessen.

Dann geht es wirklich los. Das Museum liegt in der Mitte des Dorfes in einem Neubau. Das eigentliche Geburtshaus Conrads, in dem die Dorfschule untergebracht ist, steht ein paar Schritte dahinter.
Direktor Schepeljuk hat einige Mühe, das gewaltige eiserne Vorhängeschloss an der Museumstür zu öffnen. Es ist eingerostet. Der letzte Besucher war vor Monaten da. Öffnungszeiten hat das Museum
nicht. Wer es sehen möchte, müsse sich eben zu ihm durchfragen, sagt Schepeljuk.

Das Museum ist nicht groß. Es ist sogar ziemlich klein. Es besteht aus vier Räumen. Zwei davon sind Joseph Conrad gewidmet, je eines der sowjetisch-polnischen Freundschaft und der Geschichte des
Kommunismus in der Region. Also doch händeschüttelnde Parteigrößen. Anders ging es wohl nicht.

Der erste Raum zeigt eine Wohnzimmereinrichtung aus den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, aus der Zeit von Conrads Geburt. Damals, nachdem Wien, Berlin und St. Petersburg den Staat Polen
gemeinsam verfrühstückt hatten, gehörte Terechowaja zum Zarenreich. An der Wand hängen Porträts von Conrads Eltern in Öl. Rechts Apollo Korzeniowski, Conrads Vater. Polnischer Landadeliger von
Geburt, Gutsverwalter aus Notwendigkeit, „Roter" aus Idealismus, Dichter aus Neigung, Pole aus Liebe. Links Eva Korzeniowska, Conrads Mutter, einer konservativeren Familie als ihr Mann entstammend.
Der angrenzende Raum zeigt Karten und Fotografien. Die Routen, auf denen Conrad um die Welt segelte, von Conrad befehligte Schiffe, Conrad in Kapitänsuniform und im Alter als erfolgreicher
Schriftsteller. Nikolai Schepeljuk erläutert die Exponate auf seine Art. Er zeigt auf ein spätes Foto von Conrad, unter dem auf einem kleinen Schild steht: „Joseph Conrad in seinen letzten
Lebensjahren" und sagt: „Das ist Joseph Conrad in seinen letzten Lebensjahren." Er deutet auf ein Foto, das laut Beschriftung den Hafen von Marseille zeigt zu der Zeit, als der junge Conrad
dort eintraf und sagt: „So sah der Hafen von Marseille aus, als Joseph Conrad dort ankam."

Dass Joseph Conrad ein großer Autor ist, steht für Nikolai Schepeljuk außer Frage. Auf die Frage, welche Bücher ihm besonders gefielen, gibt der Direktor des Joseph-Conrad-Museums von Terechowaja
eine überraschende Antwort: „Ich kenne seine Bücher nicht. Es gibt ja keine Übersetzungen ins Ukrainische." Die Conrad-Ausgaben in russischer Sprache, die am Eingang in einer Vitrine liegen,
seien ihm zum Lesen zu mühsam, und die polnische Übersetzung oder gar das englische Original verstehe er erst recht nicht.

Die übrigen Dörfler halten es ähnlich mit „ihrem" Schriftsteller. Gelesen hat ihn niemand, aber dass er ein großer Schriftsteller ist, bestätigen alle mit Überzeugung. Joseph Conrad wird in
Terechowaja eher als verdienstvoller Vorfahr denn als Schriftsteller rezipiert. Als einer, von dem man vom Hörensagen weiß, dass er etwas Großes vollbracht hat, was auch in der Welt da draußen
anerkannt wird. Es ist in etwa wie mit dem Heiligen Georg · jeder weiß, dass er den Drachen getötet hat, aber wann und wie, das ist eine andere Sache und liegt im Dunklen. Im Prinzip ergeht es den
meisten Schriftstellern der Welt ja ähnlich. Nur fällt es in Hamburg nicht so auf, dass die meisten von Klopstock nur den Namen kennen.

Mit Terechowaja verbinden Joseph Conrad nur die ersten Lebensjahre nach seiner Geburt, die den Lexika nach am 2. Dezember 1857, der Gedenkplatte am Museum in Terechowaja zufolge einen Tag später
stattfand. Als Conrad drei Jahre alt war, brach der Vater nach Warschau auf, wo er in der polnischen Nationalbewegung aktiv wurde. Frau und Kind folgten ihm einige Monate später. Noch im selben Jahr
wurde Conrads Vater wegen subversiver Umtriebe verhaftet und seine Mutter vorsichtshalber gleich dazu. An den Folgen der Verbannung starben beide Eltern innerhalb kurzer Zeit an Tuberkulose. Joseph
Conrad war mit elf Jahren Waise, mit 17 angehender Seemann. In seinen Geburtsort kehrte er nie mehr zurück.

Über das Leben Conrads kann man aus der Sekundärliteratur mehr erfahren als im Museum von Terechowaja, aber dort steht dafür z. B. nichts über die abenteuerliche Reise nach Moskau, die Nikolai
Jefimowitsch Schepeljuk aus Terechowaja in Sachen Joseph Conrad auf sich nahm. Das war nämlich so: Nachdem die Einwohner Terechowajas Nikolai Schepeljuk zum Direktor ihres Museums gewählt hatten,
wurde beschlossen, dass er nach Moskau fahren solle, um dort in Antiquariaten nach Büchern Conrads für die Vitrinen zu suchen. Darauf angesprochen, verzieht Schepeljuk sein Gesicht wie einer, der
sich an einen unangenehmen Zahnarztbesuch erinnert. Dazu hätte er sich nicht überreden lassen sollen, sagt er. Ganz verrückt habe ihn dieses Moskau gemacht. Schepeljuk erzählt davon, wie er, vom
Kolchos mit Geld zum Ankauf der Bücher versehen, ganz alleine durch die große Stadt irrte und viele merkwürdige Dinge sah in der sich damals bereits zaghaft dem Westen öffnenden Metropole. Nur Bücher
von Joseph Conrad habe er nicht gefunden.

Die Kostbarkeit

Neben dem letzten Raum des Museums gibt es noch eine kleine Kammer. Sie birgt die eigentliche Kostbarkeit des Hauses, das einzige Unikat. Die Kammer ist ein Büro, weshalb auch ein Schreibtisch
darin steht, auf dem irgendwo, inmitten von alten Zeitungen, gebrauchten Briefumschlägen, einem Putzeimer samt Lappen, einem 2-kg-Kanister hellblauer Farbe und vieler anderer Dinge, die dort
hingehören, ein Brief der Königin von England liegt. Vor einigen Jahren hätten sie sich entschlossen, die Queen um Unterstützung für das Museum zu bitten · schließlich sei Joseph Conrad ja ein
Untertan ihrer Vorfahren gewesen, erläutert Michail Bedj. Die Königin habe auch geantwortet, aber leider geschrieben, dass sie nichts tun könne, sagt Nikolai Schepeljuk, der ratlos die Papierwälder
durchforstet, die Post aus Windsor Castle aber nicht finden kann. Dafür findet er den Brief eines Nachfahren von Joseph Conrad, der auch, wie der Briefkopf ausweist, Vorsitzender der „Joseph Conrad
Society" in London ist. Jedenfalls war er das vor ein paar Jahren, als er den Brief schrieb, ebenfalls als Antwort auf einen Hilferuf aus Conrads Geburtsort. Gelesen hat ihn bis heute niemand in
Terechowaja. „Ich verstehe kein Englisch, und Nikolai Jefimowitsch auch nicht", sagt Michail Bedj. Zwar habe schon lange mal jemand in die Kreisstadt fahren wollen, um den Brief übersetzen zu
lassen, doch irgendwie sei immer etwas dazwischengekommen.

Das Museum verfällt unterdessen. Die Heizung ist kaputt, im Winter dringt Frost in das Gebäude ein. Das Parkett ist aufgesprungen, an anderen Stellen wellt es sich, viele der Dokumente und Fotos in
den Vitrinen haben Schimmel angesetzt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion habe es keine Kopeke staatliche Unterstützung mehr gegeben, weder aus Kiew noch aus der Kreisstadt, klagt Schepeljuk. „Ich
würde auch mein eigenes Geld investieren · aber ich habe keines. Wir verstehen ja, dass es mittlerweile andere Probleme gibt. Darum haben wir uns auch an den Westen gewandt und um Hilfe gebeten",
erklärt Nikolai Schepeljuk. Doch meist kam aus dem Westen keine Antwort. Das kann auch an der Post liegen. Die kommt nicht immer bis Terechowaja.

Nikolai Schepeljuk hätte gerne viele Gäste in seinem Museum, am besten alle Leser Joseph Conrads auf der Welt. Doch vorerst findet kaum einer den verschlungenen Weg in das entlegene Dorf, und selbst
wenn mal jemand kommt, ist das finanziell keine Erleichterung, denn der Eintritt ist frei. Zumal es nicht wirklich viele Menschen sind, die das Joseph-Conrad-Museum von Terechowaja sehen wollen. Im
letzten Jahr waren es neun.

Neben dem Ausgang liegt das Gästebuch. Schepeljuk besteht bei allen Gästen auf eine Eintragung. Außer russischen und ukrainischen Notaten finden sich vor allem polnische Inschriften in dem Buch,
britische merkwürdigerweise überhaupt nicht. In den ersten Jahren nach der Gründung weist das Buch 40 bis 80 Eintragungen pro Jahr aus, doch seit Beginn der neunziger Jahre hat die Zahl der Besucher
ständig abgenommen. So wollten 1991 noch 22 Menschen das Joseph-Conrad-Museum von Terechowaja sehen, 1993 nur noch acht und 1997 gar nur zwei.

Zum Abschied wieder freundliche Worte. Er sei zwar noch nie in Deutschland gewesen, sagt Michael Bedj, jedoch müsse es ein wunderschönes Land sein mit klugen Menschen, habe es doch solch große
Philosophen wie Kant, Fichte, Feuerbach und Marx hervorgebracht. Und gutes Bier, fällt Nikolai Schepeljuk ein, komme ja bekanntlich auch von dort. „Wenn etwas nicht so war, wie es sein sollte, so
verzeihen Sie uns bitte", bittet Michail Bedj zum Abschied mit der formvollendeten Höflichkeit eines turgenjewschen Novellenhelden.

Nikolai Schepeljuk lädt zum Abendessen in sein Haus: Er sei zwar Witwer und könne nur Bratkartoffeln zubereiten, dazu aber einen ausgezeichneten Selbsgebrannten auf den Tisch stellen. Als sein
Angebot unter Hinweis auf die bald einsetzende Dämmerung und den langen Rückweg nach Kiew mit den gebotenen Höflichkeitsfloskeln in mehrfacher Ausfertigung abgelehnt wird, spricht er gleich eine neue
Einladung für den nächsten Frühling aus, denn im Frühling sei es in Terechowaja am schönsten, wie überall auf der Welt. Bis dahin, verspricht er, habe er auch den Brief der Queen wieder gefunden.

Freitag, 31. März 2000 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 15:58:00

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