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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Eine Mystikerin ohne Gott

Gruber, Marianne

Von Barbara Neuwirth

Marianne Gruber ist den Literaturinteressierten des Landes nicht nur durch ihr umfangreiches Werk bekannt, sondern auch als souveräne und engagierte Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und als eloquente Rednerin zu kulturpolitischen und literaturbezogenen Themen. 1997 wurde sie mit dem Würdigungspreis für Literatur ausgezeichnet.

Zu publizieren begann Marianne Gruber 1972, zunächst in Zeitschriften. Seit 1981 legte sie eine gewaltige Anzahl von literarischen Texten in Buchpublikationen vor. Neben sieben eigenständigen Buchveröffentlichungen finden sich in diesen 17 Jahren 67 in Anthologien erschiene Erzählungen, 44 Aufsätze sowie in Büchern und Zeitschriften verstreute Gedichte. Buchpublikationen von Marianne Gruber wurden ins Amerikanische, ins Italienische, ins Tschechische, ins Rumänische, ins Bulgarische, ins Russische und ins Polnische übersetzt, Erzählungen zudem noch ins Ungarische, ins Slowakische, ins Kroatische und ins Arabische.

Marianne Gruber wurde 1944 in Wien geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie teilweise im Burgenland, wo der kroatische Großvater in seiner Bedächtigkeit und Liebe zu einer großen Figur der Heimat und Geborgenheit werden konnte. Das Volksschulkind, das durch Krankheit auch über längere Zeiten gezwungen war, sich allein zu Hause zu beschäftigen, verjagte mit dem Lesen von Büchern und dem Schreiben von Märchen die Stille. Hatte der Großvater als Geschichtenerzähler das kleine Mädchen bereits in die Welt der Fantasie und der großen Gedankenspiele eingeführt, so war das Lesenkönnen ein weiterer Schritt in die Welt des Wortes.

Das Volksschulkind verblüffte seine Horttante eines Tages, als es beim Lesen des "Parzifal" von Wolfram von Eschenbach beobachtet wurde. Im Gespräch entdeckte die Kinderbetreuerin, daß das Mädchen die Geschichte nicht nur las, sondern auch aufnehmen konnte.

Gewiß, die Gründe, warum Parzifal die Frage nicht stellt, sind logisch erklärbar, nicht aber gefühlsmäßig, und daran scheiterte auch das Mädchen, aber interessant an dieser frühen Literaturauffälligkeit der Autorin ist, daß sie sich mit der literarischen Bearbeitung eines Themas beschäftigte, das oft in ihren eigenen literarischen Texten mitschwingt: Mitleid und Erbarmen. Die Entbehrungen der Nachkriegszeit bestimmten auch Grubers Kindheit. Trotzdem war klar, daß sie das humanistische Gymnasium besuchen und danach ein Studium beginnen konnte. Das vielfältige musische Talent drückte sich in dieser Zeit vor allem im Klavierstudium am Konservatorium der Stadt Wien aus, aber Marianne Gruber studierte auch Medizin.

Aus Neugier an dem, was den Menschen zusätzlich zum Fleisch ausmacht, und angeregt durch eine Fragestellung, die sich ihr nach dem Besuch einer Diskussionsrunde über die nachzufragende Krise in der zeitgenössischen österreichischen Literatur aufgedrängt hat, kontaktierte sie Viktor Frankl, dessen Buch "Die Psychopathologie des Zeitgeistes" Marianne Gruber von ihrem Mann empfohlen worden war. Frankl wurde nicht nur Grubers Lehrer der Psychologie, sondern entwickelte sich zu einem Mentor, der vielleicht in einer gewissen Weise an die Figur des burgenländischen Großvaters anknüpfen konnte.

Verantwortung ohne Freiheit ist Schuld Zwei von Frankls Aussagen fassen geradezu ideal jene Themenkomplexe und Fragestellungen zusammen, die in der Literatur von Gruber auf verschiedenartigste Formen ihren Ausdruck finden: "Freiheit ohne Verantwortung ist Willkür", und "Verantwortung ohne Freiheit ist Schuld".

Freiheit, Revolte, Verantwortung, Hingabe, Respekt vor dem Geheimnis, Einsicht in die Grenzen der Erklärbarkeit des Existierenden sind nicht bloß starke Schlagwörter, sondern manifestieren sich in Grubers Geschichten in einer selbstverständlichen und dauerhaften Verbindung zwischen Intellekt, Moral und Sinnlichkeit.

Die erste Buchpublikation Marianne Grubers erschien 1981. In "Die gläserne Kugel" bediente sich die Autorin des Science-fiction-Genres, um ihr Thema der Existenzanalyse und den Entwurf des Widerstandes gegen ein unrechtes System in eine spannende und berührende Geschichte zu verpacken.

Marianne Gruber zeigt eine totalitäre Gesellschaft, deren Erfolg in der Vereinzelung der Menschen fußt. Die Grausamkeit äußerer Umstände und die autistische Antwort der Bewohner ist beklemmend beschrieben.

Die Literaturkritik in Österreich tut sich mit Genreliteratur bekanntlich nicht leicht. Utopische Literatur hat es in den letzten Jahrzehnten in Österreich kaum gegeben, um so erstaunlicher war dieser Debütroman. In jedem Fall war es Ausdruck einer Eigenwilligkeit, die die Autorin bis heute auszeichnet, nämlich die Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit gegenüber dem, was man gerade schreibt und was gerade "in" ist. Daß ihr Mut, sich nicht brav auf den Mainstream zu beschränken, durch die positive Aufnahme des Werkes belohnt wurde, kann erfreut angemerkt werden. Dem Hardcover bei Styria folgte 1984 die Taschenbuchausgabe in der Phantastischen Bibliothek bei Suhrkamp.

Grubers Neugier am Weiterdenken von Gedanken über vorgeblich gesetzte Grenzen hinaus konnte sich in der Science-fiction frei entfalten. Ihr zweiter Roman "Zwischenstation" , den die Edition S 1986 veröffentlichte, behandelt einen totalitären Staat, dessen Komponenten einerseits in die Vergangenheit unseres Staates weisen, gleichzeitig aber die modernere Version der Gewalt, den Terrorismus, mit einbindet. Auch dieser Roman wurde bei Suhrkamp als Taschenbuch nachgedruckt.

Sowohl bei den Besprechungen zu "Die gläserne Kugel" wie auch in den Besprechungen zur "Zwischenstation" sahen sich die Kritiker immer wieder verführt, auf Camus zu rekurrieren. Und tatsächlich zählt Albert Camus neben Samuel Beckett, Boris und Arkadij Strugatzki, Ernest Hemingway und Marie von Ebner Eschenbach zu jenen AutorInnen, deren Bücher Marianne Gruber als besonders lustvolle Begegnungen mit der Literatur empfunden hat. Zwischen diesen beiden Romanen erschien allerdings im Verlag Niederösterreichisches Pressehaus in der Reihe "Prosa aus Österreich" 1995 Marianne Grubers bislang letzte Buchpublikation, der Erzählband "Die Spinne und andere dunkelschwarze Geschichten".

In fast allen Prosatexten Grubers finden sich philosophische Passagen, die oft als Dialoge oder innere Monologe angelegt sind. Bemerkenswert an Gruber ist, daß die Frage der sozialen Verantwortung, die immer auch eine der politischen Verantwortlichkeit ist, von ihr nicht nur in der Literatur gestellt wird, sondern auch eine Frage ist, die sie an die Literatur stellt. Und, daß es schier unmöglich ist, die Frau Marianne Gruber von der Literatin und ihren Themen zu trennen; sie sind unkündbar miteinander vermengt zu einem Gesamtkunstwerk, das eben Mensch und Werk in einem ist.

Soziales Engagement, der Einsatz für die Literatur und für Autorinnen und Autoren ist bei Gruber jedenfalls kein Papierwerk, sondern real gelebt. 1991 bis 1993 war sie Vorsitzende der Literaturvereinigung "Podium" und Herausgeberin der gleichnamigen Literaturzeitschrift. 1992 wurde sie Mitarbeiterin der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und folgte im Jahr 1994 Wolfgang Kraus als Präsidentin an die Spitze dieser traditionsreichen Vereinigung. Ihre Arbeit gilt hier der Literatur anderer, insbesondere auch den Literaturschaffenden in den postkommunistischen Ländern.

Das Umfeld der Literatur Als wichtigste Veränderung für die Gesellschaft, die nach außen sichtbar wird, kann Grubers Einbeziehen von Philosophie, Psychologie, Religion und Naturwissenschaften, also "dem Umfeld der Literatur", wie sie selbst es bezeichnet, gewertet werden. Die das Weltbild formenden Wissenschaften und Erzählband "Protokolle der Angst" , der in den Kapiteln "Böse Märchen"; "Protokolle der Angst" und "Befunde" subtile Beschreibungen des Alltagslebens in der Gruber eigenen bedachtsamen und hinter die Kulissen blickenden Art vereint. Dieses Buch stellte die Autorin als eine exakte Beschreiberin der real begründbaren oder beobachtbaren Ängste vor.

1991 war für Marianne Gruber ein besonders publikationsreiches Jahr, in dem zwei Bücher erschienen: "Der Tod des Regenpfeiffers" erschien in der Collection S. Fischer und präsentierte zwei Erzählungen, die sich mit alten Menschen und ihrem Abschied vom Leben beschäftigen. Angesiedelt in der pannonischen Weite des Burgenlandes, entwickelt sich in den beiden ineinander verschlungenen Geschichten eine Auseinandersetzung mit der historischen Vergangenheit und der absurden Grenzlage, die durch keinerlei geografische Markierung gerechtfertigt ist. Grubers Erinnerungen an Kindheitserlebnisse beim Großvater im Burgenland müssen die dichte und sinnliche Stimmung dieser Texte mitgeschaffen haben. "Der Tod des Regenpfeiffers" erntete im In- und Ausland hymnische Kritiken.

Im selben Jahr veröffentlichte die Edition S den Roman "Windstille" , der mit dem Genre des Kriminalromans spielt. Eigentlich geht es aber, wie im parallel dazu erschienen "Der Tod des Regenpfeiffers" , um die Bilanz eines illusionslos gewordenen Menschen, der sich mit dem Tod auseinandersetzt. Die von Gruber entworfene Gesellschaft in der Kärntner Tourismusgemeinde hat ebenfalls ihre Aus- und Abgrenzungstraditionen. Das Opfer des aufzuklärenden Mordes ist eine Kärntner Slowenin, und die Hauptfigur, verdächtigt und gleichzeitig als desinteressierter Mitaufklärer des Falles benützt, selbst einer, der zwischen den Grenzen steht. Für die italienische Übersetzung dieses Romanes erhielt Marianne Gruber 1996 den angesehenen Premio Letterario Giuseppe Acerbi.

Gruber beschäftigte sich mit Erfolg auch mit kindergerechter Literatur. Dabei beließ sie es nicht bei kürzeren Texten für Anthologien, sondern stellte sie sich der Aufgabe, einen Roman für Kinder zu schreiben. "Esras abenteuerliche Reise auf dem blauen Planeten" , ein Science-fiction-Roman für Kinder, wurde mit dem Jugendbuchpreis der Stadt Wien 1992 ausgezeichnet.

Am Anfang ist das Sandkorn Bewegungen sollen im Verständnis und im Umgang mit der Literatur mitgedacht werden. Hinter dieser Vorstellung steckt Grubers Idee, das differenzierte Denken eröffne die Erkenntnis, daß ein persönlicher Standpunkt eine Sache wirklich verändern kann. Eine Dünenwanderung beginne auch mit dem Rollen des ersten Sandkorns, ist Grubers poetisches Bild dafür.

Wie unterschiedlich die Ausgangsbedingungen für die Dünenwanderung sein können, konnte sich die Autorin Gruber bei ihren Reisen als Botschafterin der österreichischen Literatur in die USA, nach Brasilien, nach Seoul, Japan und Taiwan, nach Skandinavien, Italien und in die osteuropäischen Staaten überzeugen. Ihre Forderung nach der Eigenverantwortlichkeit der Menschen gipfelt dabei in ihrer Definition vom Ziel des reifen Menschen: Sich davon unabhängig zu machen, auf den Erfolg zu warten, ohne aufzugeben. Die Welt ist kein Einweggebrauchsgut, sondern ein Schatz, der sorgsam und liebevoll behandelt werden und auch für späteren Generationen vorhanden sein sollte. Und diese Haltung färbt Grubers Texte immer wieder mehr oder weniger.

Marianne Grubers humanistische Weltsicht bekennt sich zu einer Literatur, die nie jenseits der Verantwortlichkeit der Schreibenden entsteht. Sie fordert Redlichkeit der Literaturproduzierenden ein, und sie wünscht sich in den Texten eine Zärtlichkeit des Denkens. So sehr sie selbst an moralischen Wertvorstellungen hängt, die sie nach bestem Gewissen auch in schwierigen Konstellationen nicht aufzugeben bereit ist, so sehr ist sie, auch in der eigenen Literatur, eine Anhängerin des Redens, ohne zu urteilen. Literatur, so meint sie, soll nicht beurteilen, da dies nahe am Urteil ist.

Das Gedankenexperiment muß zwar bis an die Grenzen des Möglichen verfolgt werden, aber, und das ist ein wichtiges Credo in Grubers Literatur: Man muß mit den Erklärungen, die man gefunden hat, in die Welt hineingehen und sich ihr stellen, man darf die Erklärungen der Welt nicht überstülpen, und: Man darf jeden Sachverhalt verneinen, nicht aber das Leben. So gesehen ist Gruber im Leben und in der Literatur eine Frau voll Hingabe an jene Themen, die sich in die Geschichten hineinschreiben, ohne geplant zu sein, weil es eben die Themen sind, denen sich Gruber stellt. Die Hingabe und Lust am Gedankenexperiment mit dem Wissen um die eigenen Verantwortung für dieses Experiment kennzeichnet Grubers Umgang mit dem Schreiben. So gesehen, ist sie eine Mystikerin ohne Gott.

Auszeichnungen: Buchprämie des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst (1981), Preis des Staatssekretariates für Frauenfragen (1981), Literaturförderungspreis des Landes Niederösterreich (1982), Publikumspreis der Arbeiterkammer Oberösterreich (1984), George-Orwell-Preis der Stadt St. Pölten (1984), Lyrikpreis der Literarischen Gesellschaft St. Pölten (1986), Otto-Stoessl-Preis (1986), Kurzgeschichtenpreis der Literarischen Gesellschaft St. Pölten 1988), Staatsstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst (1989), Würdigungspreis für Literatur (1997).

Mittwoch, 20. Mai 1998 14:24:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 16:56:00

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