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Sonntag, 11. April 2010
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OBST - Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie

Obsthäppchen: Editorial OBST 47

Jürgen Erfurt / Joachim Gessinger

Schriftkultur und sprachlicher Wandel

Editorial

1. Das Thema Sprachwandel hat seit geraumer Zeit wieder Konjunktur. Zunächst waren es vor allem die soziolinguistischen Arbeiten von William Labov und Joshua Fishman, die dem an sich sehr alten Thema in der ersten Hälfte der 60er Jahre neue Aspekte im Zusammenhang mit der sprachlichen Variation und dem Sprachkontakt abgewannen. Gleichwohl bilden bei ihnen die ausgewählten Datenbereiche der Lautung und der Lexik eine Wandelphänomenologie ab, die vergleichbar ist mit der des etymologischen und des lautgesetzlichen Rekonstruktionismus in der Sprachwissenschaft, wie er vom Ende des 18. Jahrhunderts an vor allem im 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Phonologie und Lexik, seltener die Grammatik, sind bis in die Gegenwart noch die bevorzugten Analyseebenen des sprachlichen Wandels. Seit etwas mehr als 10 Jahren zeichnet sich nun eine theoretische und methodologische Neubesinnung ab. Neben die quantitativ orientierte sprachwandelsensitive Variationslinguistik Labovscher Prägung sind sprachwandeltheoretische Neuansätze etwa in Gestalt von Helmut Lüdtkes kommunikationstheoretischem Modell, Rudi Kellers ökonomistisch unterlegter verhaltenspsychologischer These vom Sprachwandel als einem 'Prozeß der unsichtbaren Hand', Anregungen Brigitte Schlieben-Langes (und anderer) zu einer pragmatischen Sprachwandeltheorie sowie soziolinguistische und sozialgeschichtliche Bestimmungen von Sprache und Sprachwandel (in der Germanistik z. B. durch K. J. Mattheier, P. v. Polenz, G. Lerchner und J. Gessinger; übereinzelsprachlich im Projekt 'Prinzipien des Sprachwandels' (ProPrins), an dem SprachwissenschaftlerInnen aus Essen, Bochum, Berlin und Leipzig beteiligt sind) getreten. Das Nebeneinander verschiedener Theorieansätze und Erkenntnisinteressen macht die gegenwärtige Diskussion anregend, eine integrale Theorie des Sprachwandels ist jedoch in diesem Stadium sicherlich nicht zu erwarten, zumal zumindest ein systematischer Bereich bislang wenig bearbeitet wurde: der Einfluß von Schrift und Schriftlichkeit auf den sprachlichen Wandel. Während kontaktsensitive oder kontaktignorierende Konzepte, innerstrukturell ausgerichtete Natürlichkeitskonzepte (insbesondere zum natürlichen phonologischen und zum natürlichen morphologischen Wandel) oder Grammatikalisierungskonzepte inzwischen relativ gut ausgearbeitet sind, besteht noch größere Unklarheit über das Verhältnis von Schriftlichkeit und Sprachwandel, das von den gerade genannten Theorien meist ausgeklammert wird. Neben der Skriptaforschung in den fünfziger und sechziger Jahren haben vor allem (und zum Teil erst) in den 80er Jahren die Studien zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit Einsichten erbracht, die es erlauben, die Beziehung von Schriftlichkeit und Sprachwandel theoretisch wie empirisch zu bearbeiten. Die qualitativen Unterschiede zwischen der Sprachwandelforschung der 60er Jahre und der heutigen lassen sich an zwei Beispielen einprägsam nachvollziehen. Wenn in W. Labovs 1963 publizierter Pionierarbeit 'The Social Motivation of a Sound change' zum Sprachverhalten von Sprechern unterschiedlicher ethnischer Herkunft (alteingesessene Anglophone, portugiesische Einwanderer, Indianer, neue Siedler verschiedener Herkunft) und unterschiedlichen Alters auf der Insel Martha's Vineyard/Massachusetts der Lautwandel im Mittelpunkt steht, sind heute beispielsweise Studien zu Kreolsprachen zu nennen, in welchen sich im Zuge ihrer Verschriftlichung - gewissermaßen vor unseren Augen - gravierende morphologische, syntaktische und textuelle Veränderungen einstellen. Nicht Analogie, Ökonomie, Markiertheitsabbau, Vereinfachung, Kreativität oder ähnliche und z.T. recht gut beschriebene Prinzipien gelten hier als sprachwandelinitiierend, sondern in erster Linie weitgehend unerforschte, die Umrüstung der Sprache für ein anderes Medium der sprachlichen Artikulation betreffende Prozesse im Zusammenhang mit der Mehrdimensionalität, der codespezifischen Funktionalisierung, der wachsenden Elaboriertheit im Zuge der Schriftlichkeit.

Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit ist zweifelsohne nicht einfach ein technischer Prozeß der Umkodierung von Lautstrukturen in graphische Strukturen, sondern betrifft vielmehr die Ausformung von Sprache insgesamt: das Varietätengefüge und die Herausbildung eines Standards, die Schichtung der sprachlichen Register, die Beziehung von Dialekt und 'Dach'-Sprache, die je verschiedenen Versprachlichungsstrategien und -techniken der mündlichen und der schriftlichen Artikulation ebenso wie die Elaboration komplexer Satzstrukturen.

2. Einige der Fragen, auf welche die Beiträge des vorliegenden Bandes Bezug nehmen, sind die folgenden:

  • Welche konstitutiven Momente weist Schriftlichkeit gegenüber Mündlichkeit auf und von welchen sprachlichen Veränderungen ist die Verschriftlichung begleitet?
  • Wie wirkt Schriftlichkeit in literaten Gesellschaften auf Mündlichkeit zurück (z.B. in Form von an der Schriftsprache ausgeprägten Mustern der Satz- und Textorganisation; durch die Neorhetorik im 18. und 19. Jh.; durch die schulische Sozialisation und Alphabetisierung)?
  • Unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen wird Schriftlichkeit ein gesellschafts- und kulturkonstituierendes Moment?
  • Hat die Entscheidung für ein bestimmtes Schriftsystem Einfluß auf den Wandel der Sprache (auch im Sinne von stärker konservierenden oder dynamisierenden Tendenzen)?
  • Kann man für Sprache mit phonematischer Verschriftung andere Wandelprozesse bzw. ein anderes Sprachwandelverhalten annehmen als für Sprachen mit größerer Differenz zwischen Lautung und Schrift (ideographische Verschriftung)?
  • Welche Rolle spielt Schriftlichkeit bei Sprachwechsel?
  • Welche kognitiven Orientierungen (z.B. optische und artikulatorische) und welche Verwendungszusammenhänge beeinflussen die historische Ausformung und Systematisierung schriftlicher Darstellungen?
  • Welchen systematischen Ort hat Schriftlichkeit in einer Sprachtheorie und einer Theorie des Sprachwandels ?

3. Ein kurzer Aufriß der einzelnen Beiträge dieses Bandes

Richard Baum folgt in seinem Beitrag "Im Anfang war die Schrift - oder: die historische Sprachwissenschaft muß umkehren" zwei Argumentationsrichtungen. Die erste besteht - (der Titel kündigt es an) in einer Kritik an Theoremen der historischen Sprachwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, die ihren Gegenstand in der Analyse des Sprechens definierte, die der gesprochenen Sprache das Primat gegenüber der schriftlichen Artikulation einräumte und die die Phänomenologie des sprachlichen Wandels auf Fakten der gesprochenen Sprache begrenzte. Es sind dies Topoi, die auch noch in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft fortleben. Demgegenüber müsse die historische Sprachwissenschaft dem Tatbestand des 'Polymorphismus' Rechnung tragen, d.h. der Vielgestaltigkeit des sprachlichen Ausdrucks, wobei gleichermaßen, jedoch funktional differenziert, die orale und die schriftliche Form der sprachlichen Artikulation in den Blick genommen werden müsse. "Angesprochen ist damit die mit Verschriftung beginnende Ausformung von gesprochener Sprache zu einer voll ausgebauten Schriftsprache" (R. Baum). Im zweiten Teil seines Beitrages bündelt R. Baum Gedanken zur Beziehung von Kultursprache und Schriftkultur sowie zu den Dimensionen ('Realitätsbewältigung', 'Transzendenz', 'Surrealität' und 'Fiktion') und Medien ('Sprache', 'Schriftsprache') von Schriftkultur.

An diesen wissenschaftskritischen Beitrag schließen sich einige romanisch-germanische Einzelstudien an.

Trudel Meisenburg geht in ihrer Darstellung "Lateinische Orthographie?" Fragestellungen von erheblicher theoretischer wie sprachgeschichtlicher Tragweite nach: Wie einheitlich war die häufig als idealtypisch für ein phonographisches Schriftsystem angesehene lateinische (Ortho-)Graphie? An welchen Parametern kann ein Schriftsystem gemessen werden? Und schließlich: Wie ist das Verhältnis von lateinischem und romanischem System? Die zuletzt genannte Frage wird beispielsweise von Helmut Lüdtke unter Bezug auf das Katalanische in dem Sinne beantwortet, daß es eigentlich nichts 'anderes' als das in seinem Gebiet heute noch gesprochene Latein sei. Dieses lebe "von Generation zu Generation ohne Unterbrechung fort; es hat lediglich einen anderen Namen bekommen." (H. Lüdtke, 'Vom Latein zum Katalanischen'. Zeitschrift für Katalanistik 3 (1990), 21 f.) Mit dem Parameter der (phonologischen) Tiefe, so Meisenburg, lassen sich an der lateinischen Graphie fast alle Probleme phonographischer Verschriftung mit ihren unterschiedlichen Lösungsstrategien ermitteln, wobei Aspekte der Lautanalyse und ihrer Umsetzung in Schrift ebenso wie die Bedeutung des Geschriebenen in Betracht gezogen werden müssen. Schon früh sei auch der Einfluß außersprachlicher Faktoren auf die Schreibung zu ermitteln. So würden Schreibgepflogenheiten übernommen, eigene Schreibtraditionen entwickelt und - ohne direkten Lautbezug oder diesem vorgeordnet - weitergegeben. Aufgabe der Schreibung könne es dabei werden, die 'eigentliche' Bedeutung, die in der Lautung undeutlich geworden ist, aufzuzeigen.

In der weiteren Entwicklung von der Latinität zu den Volkssprachen wird, so zeigt Barbara Franks Beitrag "Zur Entwicklung der graphischen Präsentation mittelalterlicher Texte", die graphische Gestaltung der geschriebenen Texte an die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge (monasterium und schola) angepaßt und ausgebaut. Dabei werden die jeweils spezifischen Rezeptionsbedingungen und ihre Veränderung, vor allem der Übergang von der medialen Mündlichkeit (Vorlesen, Rezitieren, Singen) zur nurmehr lesenden Aufnahme als Stimulus für die verfeinerte graphische Aufbereitung der Textarchitektur durch Kolumnengliederung, Initialen, Numerierung, Register etc. interpretiert. Aus dem schlichten Spatium, das die scriptio continua in lesefreundliche graphische Einheiten teilte, hatte sich so im Zusammenhang mit dem Übergang der Literalität auf die Laien ein reichhaltiges graphisches Instrumentarium entwickelt.

Ein reizvoller Vergleich mit den Verhältnissen in der Germania bietet sich mit Michael Scheckers komplementären Aufsatz "Kommunikatives Schreiben: Zu einigen Aspekten der Entwicklung der graphischen Textgestaltung im Althochdeutschen". Auch diese Arbeit ist aus dem Freiburger Sonderforschungsbereich 'Übergänge und Spannungsfelder zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit' entstanden und folgt der These, daß die Entwicklung von Graphie und Textgestaltung im wesentlichen in Zusammenhang mit Veränderungen der Rezeptions- und Rezipientenstruktur zu sehen ist, insbesondere der Zunahme des 'stillen Lesens'. Am hier vorgestellten althochdeutschen Material zeigt sich, wie nach und nach die aus der lateinischen Schrifttradition übernommene Phonographie erweitert wird durch die regelmäßige Verwendung des Spatiums, von Interpunktion und initialen Versalbuchstaben.

Die folgenden drei Beiträge haben neuzeitliche Prozesse schriftinduzierten sprachlichen Wandels zum Thema.

Zunächst untersucht Joachim Gessinger in seinem Beitrag "Über den Zusammenhang von Schriftspracherwerb, Schriftsystem und schriftsprachlich induziertem Wandel im Deutschen" Fibel und Schreiblehre eines Hamburger Schreibmeisters aus dem frühen 17. Jahrhundert, der Übergangszeit von der niederdeutschen zur hochdeutschen Schriftsprache an den Hamburger Schulen, um die Anatomie eines schriftinduzierten Sprachwechsels offenzulegen. Die im elementaren Leseunterricht angewandte Methode der silbischen Artikulation findet ihre Entsprechung in silbischen Schreibübungen. Die in nd. und am nd. Material explizierten orthographischen Regeln entsprechen nun ziemlich genau denen des Hochdeutschen, was den Autor zu Spekulationen über die grundlegende Rolle der Artikulation (und damit silbischer, nicht Einzellaut-Strukturen) für die schriftliche Repräsentation durch alphabetische Schriften verleitet.

Sabine Albrecht wendet sich in ihrem Beitrag "Graphie und Sprachwandel in Galicien" den Normalisierungs- und Normierungsprozessen im Galegischen zu, wobei sich von ihren Ausführungen zu einer historischen Einzelsprache mehrere themenrelevante Aspekte ableiten lassen. Zum einen weist der Beitrag auf die Bedeutung der Schriftlichkeit für die Ausdifferenzierung von sprachlichen Varietäten zu literarischen Dialekten und zu Standardsprachen hin. Zweitens wird deutlich, daß Sprachwandel in viel stärkerem Maße als vielfach angenommen intendierter Wandel ist, die Sprache sich also nicht allein dadurch, daß sie gesprochen und geschrieben wird, verändert, sondern im Zuge von funktionalen (meist lexikalischen) auto- und heterozentrierten Ausbauprozessen, der Abgrenzung gegenüber Nachbarsprachen, von Alphabetisierungskampagnen und der orthographischen und orthoepischen Normierung wesentliche Veränderungen erlebt. Gerade die neuerliche Orthographiedebatte in Galicien, auf welche S.Albrecht eingeht, unterstreicht noch einmal die Interrelationen von Schriftkultur und Sprachwandel.

Jürgen Erfurt geht es ebenfalls um 'schriftinduzierten Sprachwandel'. Mit Rekurs auf K. Bühlers Begriff des 'Sprachwerkes' werden zunächst sprachwandelrelevante Aspekte der Schriftlichkeit wie 'Grammatikalisierung', 'auto- u./o. heterozentrierter Sprachausbau', 'Normierung', 'codespezifische Funktionalisierung' und 'Konservierung' skizziert. Anhand eines Textauszuges aus dem Tagebuch eines Pariser Handwerkers namens Ménétra aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wird gezeigt, welche Techniken die Schriftlichkeit konstituieren (müssen), bzw. welche in Ménétras nicht-ausgebauter Schriftlichkeit nicht oder nur partiell vorhanden sind. Die Analyse von 'Defiziten' markiert somit die sprachlichen Formen und Techniken, die vom Schreiber eingesetzt werden, um eine dem Medium gerechte sprachliche Artikulation zu erreichen, was die Schlußfolgerung nahelegt, daß sich mit dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit die Sprachen verändern, indem zum einen neue sprachliche Formen und neue Techniken der sprachlichen Artikulation ausgearbeitet werden, zum anderen die nun vorhandenen Eigenschaften der Schriftlichkeit auch auf die Mündlichkeit zurückwirken, was u.a. mit Beispielen aus der Phonologie, der Morphologie und der Satzsyntax des Französischen belegt werden kann.

Dieser Band enthält, wie schon frühere Hefte der Osnabrücker Beiträge, einen aktuellen Teil: Diesmal geht es um eine Kontroverse, die sich am Berliner Projekt zur zweisprachigen Alphabetisierung türkischer Kinder entwickelt hat und die - für manchen Beteiligten vielleicht überraschend - zeigt, daß Linguistik (immer noch) keine Naturwissenschaft ist. Wie aus der Dokumentation erkennbar, handelt es sich in erster Linie nicht um eine theoriebezogene Kontroverse im Zusammenhang von Ll/L2-Erwerb, sondern tatsächlich um einen schulpolitischen und wissenschaftspolitischen Konflikt, der vor allem darunter leidet, daß eine Partei aus verständlichen Gründen Publizität scheut. In diesem Lande ist Wissenschaft allerdings eine öffentlich geförderte Veranstaltung. Die Herausgeber wollen mit der Veröffentlichung einiger bislang zurückgehaltener Dokumente dem systematischen Ausschluß des allgemeinen und insbesondere des Fachpublikums entgegenwirken. Sich vernehmlich zu Wort zu melden, macht hier noch Sinn: Einige der Materialien, die uns bis unmittelbar vor Drucklegung des Heftes erreichten, sind, wie auch der Konflikt selber, noch 'warm'.

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