22.05.2010, 09:00
Pressestimmen: "Sinnbefreite Düpierung der Idee Europa"
Der Bundestag hat das von der Regierung konstruierte Euro-Hilfpaket zähneknirschend abgenickt. Die Kommentatoren sehnen sich an diesem "historischen Tag" allerdings nach klaren Konzepten und dem Ende der Merkelschen Alleingänge.
"Leipziger Volkszeitung""Ein Unwort breitet sich aus in der Berliner Politik wie ein Krebsgeschwür: Alternativlos. Bankenrettung, Griechenlandhilfe und nun auch der Euro-Rettungsschirm, den Deutschland im Ernstfall mit bis zu 148 Mrd. Euro besonders breit aufspannen soll: Alles alternativlos. Wirklich? Alternativlos macht mutlos und sollte schnell aus dem politischen Wortschatz gestrichen werden. Denn eine Politik ohne Alternative macht sich überflüssig. Politik fängt doch erst richtig an, wenn es einen Plan B gibt. Und wenn über die Wege zum Ziel gerungen wird. Zur Euro-Rettung mag dafür tatsächlich die Zeit gefehlt haben. Doch es wäre gestern die Aufgabe von Kanzlerin und Finanzminister gewesen, zumindest diesen Umstand hinreichend zu erklären."
Eine Abstimmung mit Mißmut: Bundestag segnet Euro-Rettungspaket ab
"Süddeutsche Zeitung" (München)"Das Gesetz wird als Euro-Rettungsschirm bezeichnet. Das ist ein sympathisches Bild. Jeder weiß, was ein guter Regenschirm braucht, wenn er bei schwerem Wetter funktionieren soll: Er braucht einen guten Stock, an dem man ihn festhalten kann, und er braucht Speichen, die ihm Stabilität geben. Bei einem Rettungsschirm ist das nicht anders. Die Kanzlerin kann ihn aber nicht allein halten, selbst wenn ihre Regierung viel zupackender wäre als zuletzt. Sie braucht dazu alle Parteien; sie hat sich darum zu wenig bemüht. Und sie braucht das Vertrauen der Bürger, weil erst dieses dem Rettungsschirm die Speichen einzieht, die er für die Stabilität braucht. Dieses Vertrauen fehlt. Müsste Angela Merkel den Rettungsschirm patentieren lassen, das Patent würde mangels Patentreife abgelehnt: Der Rettungsschirm hat zu wenig Speichen."
"Landeszeitung" (Lüneburg) "Die schicksalsschweren Worte der Bundeskanzlerin waren womöglich ihrer derzeitigen Ratlosigkeit geschuldet. Gewiss aber ihrem Wunsch, möglichst alle Fraktionen mit ins Boot der Milliarden-Nothilfe für pleitebedrohte Euro-Partner zu holen. Auf der Welle mag sie zuvor auch bei dem Berliner Alleingang in Sachen Börsenwettverbot geschwommen sein. Vertrauensbildend hat Merkel indes so oder so nicht gewirkt, weder auf die Finanzmärkte, noch auf den Euro-Kurs. Gemeinsam sind wir stark: Gerade auf die EU trifft das jetzt mehr denn je zu. Alleingänge bringen nichts, weder in Euro und Cent, noch im gedeihlichen Miteinander mit den Nachbarn. Kanzler wie Schmidt oder Kohl hätten sich eine so sinnbefreite Düpierung der Idee Europa nach Merkel-Art nie und nimmer erlaubt."
"Mannheimer Morgen""Guido Westerwelle verdient es, dass man ihm zustimmt, wenn er recht hat: Dieser Freitag war in der Tat ein historischer Tag für Deutschland. Aber anders, als es der FDP-Chef meint. Denn noch nie zuvor hat der Bundestag der Regierung einen derart riskanten Freibrief ausgestellt, von dem heute keiner weiß, ob er nicht irgendwann mit einem horrenden Strafporto zurückgeschickt wird. Mit bis zu gigantischen 148 Milliarden Euro bürgt künftig die Bundesrepublik für jeden defizitären Staat in der Euro-Zone, der nach griechischem Vorbild über seine Verhältnisse lebt. Die Stabilität des Euro mag vorerst gesichert sein, aber für das Notopfer Europa könnte Deutschland eines Tages einen hohen Preis bezahlen
Text 2: "Tagtägliche Experten-Kakophonie verfestigt sich"
-
22.05.2010
© 2010 Financial Times Deutschland