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Band 28-30: Literatur
Schriftsteller, Werke, Epochen: Dr. Heike Gfrereis beantwortet den GEO-Fragebogen zu den neuen Bänden des Themenlexikons
Das GEO Themenlexikon wird in 15 Bänden mit neuen Themenfeldern fortgesetzt. Zum Erscheinen der zweiten Staffel haben wir erneut Experten verschiedener Fachgebiete gebeten, uns einige Fragen zu beantworten: über Bildung, Wissen und die Suche nach letzten Gewissheiten zwischen A und Z. In diesem Monat hat Dr. Heike Gfrereis unseren Fragebogen ausgefüllt. Sie leitet das Schiller-Nationalmuseum und das Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar.
Dr. Heike Gfrereis, welche Wörter mit A haben für Sie besondere Bedeutung?
Manchmal stoße ich bei meiner Arbeit auf erstaunliche Wörter, die mir den Blick auf
Dinge eröffnen, die ich bis dahin nicht benennen konnte: "Antilabe" ist ein solches Wort. In Versdramen bezeichnet es die Aufteilung eines Verses auf mehrere Sprecher. Es ist unglaublich, wie viel Kraft darin liegen kann, wenn sich - wie in folgender Zeile aus Schillers "Wallenstein" - drei Personen den Platz von fünf betonten Silben teilen müssen:
Gräfin: O halt ihn! halt ihn! Wallenstein: Lasst mich! Max: Tu es nicht.
Zu welchem Thema müsste man für Sie ein Lexikon erfinden?
Ich würde gern in einem Lexikon der poetischen Fehler lesen. Über Dinge, die im Leben
falsch sind, in der Literatur aber genau richtig sein können. Ein "Apokoinou" etwa, das Aufteilen eines Wortes auf zwei semantisch verschiedene Sätze, würden Lehrer als Fehler anstreichen. Hölderlin macht damit eines seiner schönsten Gedichte: "Leer steht von Trauben und Blumen / Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt."
Welcher Irrtum sollte endlich aufgeklärt werden?
Dass Literatur nicht wahr ist, weil sie erfunden ist. Die zitierten Verse aus Hölderlins "Brot
und Wein" sind immer wahr, sobald man sie liest und spricht.
Mit welchem Satz können Literaturexperten bei Abendgesellschaften Eindruck machen?
Eindruck vielleicht nicht, eher gute oder schlechte Laune. Je nachdem, zu wem man Robert
Gernhardts Satz sagt: "Gut ist, wenn da Wein ist / Scheiße, wenn man klein ist."
Welchen Lexikoneintrag möchten Sie selbst schreiben?
Jenen in meinem Lexikon der poetischen Fehler, der eine literarische Referenz für meinen
häufigsten Tippfehler wüsste: "umd" statt "und". Wie schön und weich das gewöhnliche Wort
dadurch werden kann, wie reich an Nebenbedeutungen. "Um" steckt plötzlich darin, "dumm"
und "tumb" und "müde". Man kann es singen, ein wohliger Seufzer, oder auch ein Trauerlaut.
Würde man es suchen, man fände es bei Jean Paul, Fontane und Hofmannsthal, ganz sicher.
Welchem "Helden" würden Sie einen Eintrag im Lexikon wünschen?
Dem X. Es sieht nicht nur als Buchstabe groß und stark aus, viel massiver als das Y und sehr
viel streitsüchtiger als das O, auch standfester als Z und S - allesamt auch keine üblen Buchstaben. Das X ist der große Unbekannte hinter literarischen Helden und oft auch der verborgene, Bedeutsamkeiten stiftende Kern. Wer X hinschreibt, der geht mit dem Stift einen Schritt vorwärts und einen wieder zurück, der scheidet und verbindet. Das X lehrt ein kreatives, wortspielreiches Denken. Ohne X keine Literatur. Nicht einmal Lottogewinne und Fragebögen.
Welchen Zusammenhang sollte jeder kennen?
Den Zusammenhang, den es zwischen Literatur und Leben nicht gibt. "Man muss in keiner
Pfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel schreiben zu können", soll Turgenjew gesagt
haben.
Was haben Bilder mit Bildung zu tun?
Wer ein Bild anschaut, sieht schnell, wie wichtig der Rahmen ist. Das Bild ist einzig und allein
da, weil es durch eine Linie aus unserer Welt ausgegrenzt worden ist. Sich dieser Tatsache
bewusst zu sein, das ist die Voraussetzung, damit aus der herkömmlichen Aneignung von
Wissen auch eine Schule des Charakters wird. Wissen kann man nachlesen, Herzensbildung
muss man erfahren, erlebt, erlitten haben. Das ist eine der wenigen Einsichten, von denen
ich denke, dass man sie aus der Literatur lernen kann.
Wozu braucht man noch Lexika?
Um das Vergnügen zu erleben, das Verweispfeile bereiten können, wenn man das Wort erst
durch Blättern suchen muss. Zwischen einem solchen Pfeil und seinem Referenzwort
erstreckt sich oft das ganze Lexikon. Es verblüfft mich immer wieder, was man auf der Suche
nach einem Wort alles an anderen wunderbaren Wörtern finden kann, nach denen man
gar nicht gesucht hat.
Gibt es ein Wort mit Z, das Sie besonders mögen?
Das "Zeugma": das Zuordnen etwa eines Verbs zu in ihrer Bedeutung verschiedenen
Substantiven. "Ihm sank Ohr und Mut" oder auch "Er saß ganze Nächte und Sessel durch".
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