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Aufklärung macht krank

Welchen Schaden Ernährungs- und Gesundheitsberatung anrichten
Die ständigen Warnungen vor zu fettem und zu süßem Essen erzeugen nur schlechtes Gewissen. Die wahren Gefahren lauern woanders, z. B. bei Diäten. Foto: Begsteiger

Die ständigen Warnungen vor zu fettem und zu süßem Essen erzeugen nur schlechtes Gewissen. Die wahren Gefahren lauern woanders, z. B. bei Diäten. Foto: Begsteiger

Von Udo Pollmer

Es ist das Credo einer ganzen Generation: Aufklärung bannt Gefahren, denen die Menschheit sonst hilflos ausgesetzt wäre. Rechtzeitige und umfassende Information, so der einhellige Glaube, macht uns zu aufgeklärten Zeitgenossen, die kompetent und selbstbestimmt über ihr Schicksal entscheiden. Während die Ernährungsaufklärung im Kindergarten gesunde und glückliche Schüler schafft, beugt die Gesundheitserziehung in der Schule Krankheiten im Erwachsenenalter vor. So richtig diese Vorstellung in vielen Bereichen unseres Lebens auch sein mag und so gut sie gemeint ist, so wenig Grund gibt es für die Annahme, sie würde im Falle der Gesundheit zum erhofften Ergebnis führen. Weniger deshalb, weil alle paar Jahre andere gesunde Ratschläge verbreitet werden, sondern weil gut gemeinter Rat auch andere Folgen haben kann als erwartet.

Aber hat nicht die Sexualaufklärung den Menschen die Angst vor den Tabus religiöser Eiferer genommen? Diese drohten jedem mit Syphilis und Rückenmarksverlust, der nicht den sexuellen Verlockungen entsagen wollte. Ausgenommen war lediglich der "Vollzug ehelicher Pflichten", eine Wortwahl, die Bände spricht. Bei der Ernährung geht es zwar wie im Falle der Sexualität um einen Trieb – aber dabei hat die Aufklärung nicht das Ziel, den Esstrieb zu "befreien", sondern ihn im Gegenteil bei jeder Mahlzeit in die "kalorische Pflicht" zu nehmen. Die verklemmten Charaktere, die einst gegen die "ungehemmte Wollust" zu Felde zogen, geißeln jetzt die "ungezügelte Esslust".

Und was winkt dem Aufgeklärten? Zunächst verliert er seinen unbefangenen Appetit, dann schwindet seine Freude am Essen. Schließlich leidet sein Selbstvertrauen, weil sich der Körper partout nicht an die propagierte Ernährungsweise halten will.

Wem es an einer sinnvollen Aufgabe mangelt, der darf sich unter der Schirmherrschaft des Zeitgeistes um die Gesundheit bemühen – und endlich seinen Körper in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und Wünsche rücken. Doch die Freude darüber wird nur von kurzer Dauer sein. Wenn nämlich von vertrauenswürdiger Seite – und die meisten Menschen glauben ja den Experten – immer neue Krankheiten in Aussicht gestellt werden, vor denen man sich schützen soll, dann steigt der Angstpegel: Angst vor Herzinfarkt, Angst vor "Rinderwahnsinn" oder dem "vorzeitigen Herztod", Angst vor Allergien und Alzheimer, Angst vor Brust-, Darm- oder Prostatakrebs, und so weiter und so fort.

Aus der Achtsamkeit für den eigenen Körper wird ein ängstliches Lauern: Treffen die genannten Symptome nicht auch auf mich zu? Das schlechte Gewissen erhöht den Druck zusätzlich: Habe ich das Richtige gegessen – oder habe ich mir schon wieder achtlos Fettes, Salziges, Süßes oder sonst etwas Verdächtiges einverleibt? Überall erhobene Zeigefinger: im Radio, im Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften, in Arztpraxen und am Stammtisch.

Was schönfärberisch als "Ernährungs- und Gesundheitsaufklärung" bezeichnet wird, sind im Grunde nichts als Warnungen: Warnungen vor Gefahren in Form von Krankheiten, die in unserer Wohlstandsgesellschaft mit ihrem verlockenden Angebot vor allem durch Esssünden hervorgerufen werden. Wer ihnen nicht wie ein Bettelmönch widerstehen kann, wer sich vom Inhalt seines Kühlschranks verführen lässt, fühlt sich schon bald schuldig, isst mit schlechtem Gewissen und erwartet über kurz oder lang, dass sich die Folgen seines bösen Tuns bitter rächen werden. Als Strafe für solche Verfehlungen drohen unvorteilhafte Körperformen und schließlich Krankheit.

Kein Wunder, wenn die Aufgeklärten kleine Missempfindungen immer früher als Hinweis auf bevorstehendes Unheil interpretieren, und die Zahl der Patienten zunimmt, die wegen belangloser Wehwehchen gleich den Arzt aufsuchen. Schließlich sind – so die Botschaft aller einschlägigen Gesundheitssendungen – die ersten Anzeichen schrecklicher Leiden meist unspezifisch. Mit ein wenig Fantasie kann sie jeder bei sich selbst entdecken.

Auf diese Weise wächst die Furcht vor Krankheiten, die nicht nur das ganze Leben lang drohen, sondern sich auch jederzeit mit einem ersten zaghaften Schmerz in der Brust ankündigen und den Unachtsamen dahinraffen können. Am Ende der Angstspirale steht ein sich krank fühlender Mensch, das Produkt der so gut gemeinten Aufklärung. Aber immerhin hat er gelernt, dass er eine Chance auf Wiedergenesung hat, wenn er rechtzeitig, das heißt so früh wie möglich, handelt und behandelt wird.

Die Macht der Einbildung

Es sind beileibe nicht nur die Hypochonder unter uns, die von der Informationsflut in die Arztpraxen getrieben werden. Jeder Therapeut kennt den Effekt aus eigener Erfahrung: Während seines Studiums entdeckte er gewöhnlich angsterfüllt all die Symptome jener Krankheiten bei sich selbst, von denen er vorher in der Vorlesung gehört hatte. Die Psychologin Susan Baur beschreibt die Reaktionen der angehenden Therapeuten wie folgt: Viele Studenten "gingen mit ihrem vermeintlichen Wirbelsäulenschaden oder Gehirntumor zum Arzt und reagierten verletzt auf dessen lässiges Abtun ihrer Probleme und Diagnose. Mit einiger Erfahrung lernten die gleichen Studenten jedoch bald, ihre Symptome länger auszuhalten, ehe sie sich an einen Arzt wandten. Zumindest der Theorie nach erlaubte ihnen die wachsende Erkenntnis, dass ein gesunder Körper unzählige vorübergehende und unerklärliche Symptome produziert, die sich in Phasen der Angst verstärken, die Anfälle von Ohrensausen und Verdauungsstörungen zu überleben. Das häufige Vorkommen leichterer Symptome wurde noch stärker akzeptiert, wenn sie eine eigene Praxis eröffneten und weniger akut Kranke behandelten."

Angesichts sinkender Finanzmittel im Gesundheitswesen bewirken die Begriffe "Aufklärung" und "Prävention" wahre Wunder. Die Masche ist gut eingefädelt: Wer beim Fernsehen mit dem Leiden eines Menschen konfrontiert wird, der an einer unheilbaren Krankheit leidet, oder gar – wie im Falle der jugendlichen Opfer der Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit – quasi vor laufender Kamera sein Leben aushaucht, wird vom Schicksal des Patienten ergriffen sein, gleichgültig welche Einstellung zu Krankheit und Tod ihm zu eigen ist. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob der Zuschauer weiß, dass die gezeigte Tragödie angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit gerade ihm kaum widerfahren dürfte. Schließlich wurde es ihm oft genug eingetrichtert, dass es heute kaum noch ein schlimmes Leiden gibt, das nicht das schmückende Beiwort "ernährungsbedingt" trägt.

Mittlerweile ernten wir den zweifelhaften Erfolg der Aufklärungskampagnen der letzten Jahrzehnte. Sie setzten den Bürgern ein idealisiertes Körperbild in den Kopf, das für die meisten schlichtweg unerreichbar ist und mit zunehmendem Lebensalter in immer weitere Ferne rückt. Seither dreht sich die Beratung im Grunde nur mehr um die eine Frage: Wie werden wir durch die "richtige" Nahrungswahl wieder schlank und damit jünger?

Doch egal, was die Menschen auch probieren, stets tritt das Gegenteil ein: Je mehr sie auf die Kassandrarufe hören, desto dicker werden sie. Statt die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, wie unrealistisch die propagierten Ideale sind, statt in klarer Sprache einzugestehen, dass viele Models ihre kindliche Figur nach der Pubertät nur durch Kotzen und Kokain halten, beschwört eine Allianz aus Politik, Medien, Wissenschaft und Kliniken immer lauter den Untergang des Abendlandes durch fette, süße und salzige Speisen.

Bei den zahllosen öffentlichen Beiträgen, die vor "Übergewicht" warnen, fehlen – wie könnte es auch anders sein – stets die Hinweise auf die wichtigsten Ursachen: die Diäten, das gezügelte Essen und die Angst vor Übergewicht. Welchen Aufklärer kümmert schon die Tatsache, dass allein die Sorge der Mutter um das Gewicht ihres Kindes dessen Fettansatz dreimal so stark fördert wie die tatsächlich verzehrten Kalorien? Es stört auch niemanden, dass "Weight Cycling" , regelmäßige Abnehmkuren, gefolgt von Phasen unvermeidlicher Gewichtszunahme, gesundheitlich erheblich bedenklicher sind als ein draller Hintern oder ein "Hendlfriedhof" auf der Körpervorderseite.

Das von der Beratung hervorgerufene menschliche Leid lässt die Missionare kalt. Auf Profilierung bedachte Politiker diskrimieren Kinder, die nicht ins Körperschema passen, um im nächsten Satz zu erklären, diese würden in gleicher Weise leiden wie Krebskranke. Die Botschaft "Da muss man doch etwas tun oder?" kommt in der Öffentlichkeit bestens an. Jede noch so teure und abwegige Maßnahme ist damit gerechtfertigt. Gleichzeitig wird der Druck auf Schlanke ausgeweitet: Auch sie sollen darauf achten, dass sie nicht dick werden – ein Vorgehen, das zielsicher den Body-Mass-Index (BMI) vieler "Normalgewichtiger" nach oben treibt.

Aus der Tatsache, dass praktisch alle Abspeck-Versuche bis heute gescheitert sind, würde ein vernünftiger Mensch folgern, dass das Konzept falsch ist. Doch die Branche hat sich stattdessen "ganzheitliche" Modelle auf die Fahnen geschrieben: Die Patienten werden in den Kliniken nicht nur auf Magerkost gesetzt, sondern gleichzeitig von zahlreichen Berufsgruppen in die Mangel genommen – angefangen vom Sportlehrer über den Vollwertkoch bis hin zur Psychologin. Ein 8-Stunden-Tag reicht kaum aus, um das Pflichtprogramm zu absolvieren. Scheitert der Patient, ist er selbst schuld. Schließlich hat die Fachwelt alles Menschenmögliche unternommen.

Doch es würde zu kurz greifen, solche Fehlentwicklungen allein der Gesundheitsbranche anzulasten. Man denke nur an die von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Katastrophe, die durch die Hormonersatztherapie für Frauen ausgelöst wurde, welche ohne ausreichende klinische Tests Sexualhormone zur Vorbeugung vor Osteoporose erhielten. Diese Maßnahme zur Prävention war nicht allein von der Pharmaindustrie betrieben worden: Auch die Medien ließen nichts unversucht, um die Frauen in die Arztpraxen zu treiben und damit selbst skeptische Ärzte zum Verschreiben des neuen Mittels zu drängen. Heute schweigen die Verantwortlichen in den Redaktionen, obwohl sie ansonsten durchaus ein Näschen für Skandale haben. Schließlich tragen auch sie Verantwortung für die fatalen Folgen dieses Irrwegs von Aufklärung und Prävention.

Gelernt haben die Medien aus Vorfällen dieser Art anscheinend nicht das Geringste. Unterstützt von Beratern, Ärztegesellschaften und Kliniken, stürzen sie sich nach wie vor mit Wonne auf neue Symptome, neue Krankheiten, neue Tests und neue Therapien. Grusel und damit auch Angst vor Krankheit und Siechtum verkauft sich hervorragend. Und so präsentieren Ratgebersendungen und Talkshows eine Fülle von schockierenden Opfern und deren souveränen Heilern. Der Zuschauer ist dankbar für die praktischen Tipps, mit denen er die heraufziehende Gefahr erkennen kann, um dann beim ersten leisen Kribbeln in der Nase – dem Frühsymptom des herannahenden Todes – den Arzt aufzusuchen, damit ihm dieser mittels einer im Fernsehen gezeigten Vorsorgeuntersuchung den beruhigenden Befund mit nach Hause geben kann: "Alles okay." Die Medien schaffen so in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür, worauf sie sich untersuchen und wogegen sie sich behandeln lassen kann und muss.

Von der Sorge zur Vorsorge

Der deutsche Psychiater Klaus Dörner prophezeit: "Der künftig expansivste Markt dürfte jener der Prävention sein: von den Experten für gesunde Ernährung über das Jogging bis hin zu den Fitness- und Wellness-Zentren; Agenturen, die das Leben der Menschen mit wechselnden Schwerpunkten begleiten und mit deren Hilfe sie ihre Gesundheit infinitesimal optimieren und in ,Gesundheits-Bewusste‘ umerzogen werden sollen." Man erzieht sie so zu Menschen, deren Denken und Handeln sich auf die Vermeidung von Krankheiten konzentriert. Die Auswahl an Beschwerden ist unermesslich. Hier gewinnt der, der seine Symptomatiken am eindrucksvollsten in den Medien präsentieren kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine Krankheit praktische Relevanz besitzt oder nicht. Auf diese Art wird niemand gesünder.

Aufklärung und Vorsorge, die mit Angst motivieren, weil sie schrecklichen Krankheiten vorbeugen wollen, erreichen gewöhnlich genau das Gegenteil dessen, was sie vorgeben. Je mehr Aufklärung es gibt, desto mehr Hypochonder und Kranke hat das Gesundheitssystem zu erwarten. Indem die Gesellschaft verzweifelt versucht, Risiken zu vermeiden, beraubt sie sich der Vitalität und damit der Verantwortungsbereitschaft. Die aber braucht sie, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Nicht umsonst ist das Leben ein Wagnis oder, um die Sprache von Biologen zu bemühen, eine sexuell übertragbare Krankheit, die stets tödlich endet. Was für ein Risiko!

Udo Pollmer ist Lebensmittelchemiker und Autor. Zuletzt ist von ihm erschienen: "Lexikon der Fitness-Irrtümer". Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004 (soeben auch als Taschenbuch bei Piper herausgekommen).

Der Beitrag ist zuerst erschienen in: "EU.L.E.N-Spiegel. Wissenschaftlicher Informationsdienst des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaft 6/2004 ."

Freitag, 15. April 2005

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