Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Vom Glück der Feinschmeckerei

Jean Anthelme Brillat-Savarin war ein brillanter Theoretiker des Kochens und Essens
Vor 250 Jahren geboren: Brillat-Savarin (1755 bis 1826)  Bild: Archiv

Vor 250 Jahren geboren: Brillat-Savarin (1755 bis 1826) Bild: Archiv

Von Birgit Schwaner

Als in mythischer Vorzeit Zeus sich mit Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses, vereinigte, zeugte er neun Töchter – die Musen. Diese schönen Jungfrauen taten vom ersten Atemzug an nur eines: Sie sangen und tanzten, was die Götter beim Mahl erheiterte und die Menschen ihre Sorgen vergessen ließ. Doch mit den Jahren wurden sie ernster, denn sie erhielten (in römischer Zeit) konkrete Aufgaben, Zuständigkeiten: Ab nun inspirierte etwa Kleio die Geschichtsschreibung, Thalia die Komödie, Euterpe das Flötenspiel, und nach der Schutzherrin sämtlicher Erforscher des Nacht-Firmaments heißt eine Wiener Sternwarte: Urania . . .

So weit, so bekannt. Aber haben Sie je von Gastera gehört – der Muse der Gastronomie? Nein? Vielleicht interessiert Sie diese mächtige, noch sehr junge Nymphe – man imaginiere sie als Mädchen mit schwarzem Haar, himmelblauen Augen und einem feuerfarbenen Gürtel. Vielleicht lässt sich ja Ihre Neugier wecken und auch auf Gasteras Vater lenken: den so geistreichen wie heiteren Monsieur und Junggesellen Jean Anthelme Brillat-Savarin. Geboren vor 250 Jahren in Frankreich, am 1. April 1755, in der ländlichen Kleinstadt Belley (die man auf der Karte in etwa 80 km Luftlinie östlich von Lyon findet, zwischen Rhone und Jura). Berühmt geworden ist er abseits seines Brotberufs durch ein Buch, das seiner wachen Leidenschaft für gutes Essen entsprang. Sein Titel auf deutsch: "Die Physiologie des Geschmacks".

Jurist im Brotberuf

Brillat-Savarin entstammt einer Familie, deren männliche Mitglieder seit Generationen als Juristen und Verwaltungsbeamte arbeiten – und auch er beginnt seine berufliche Laufbahn mit einem Jusstudium in Dijon, besucht jedoch auch Vorlesungen in Chemie und Medizin. Wäre er in einer anderen Epoche geboren worden, hätte er vielleicht sein Leben als Richter oder Bürgermeister in Belley verbringen können, wohin er nach dem Examen zurückkehrt. Doch als er 34 Jahre alt ist, beginnt in Paris die französische Revolution, und seine Mitbürger senden ihn als Abgeordneten in die Hauptstadt, wo er – anscheinend seinem Auftrag entsprechend – eine eher konservative Haltung vertritt. Zurück in Belley, wird er zunächst zum Präsidenten des Bezirks-Gerichtshofes, dann zum Bürgermeister ernannt.

Was folgt, sei mit Hans Eckart Rübsamen erzählt (dessen Ausgabe und Übersetzung auch allen folgenden Zitaten zugrundeliegt): "Seine gemäßigte, tolerante Amtsführung brachte Brillat-Savarin schnell in Konflikt mit den radikalen Jakobinern, die ihn schließlich vor ihr Revolutionstribunal zitierten. Es ging auf Leben und Tod." Der Angeklagte reitet zur Verhandlung, nicht ohne "unterwegs noch an einem unverhofft sich darbietenden Schlemmermahle" teilzunehmen (u. a. Hühnerfrikassee mit Trüffeln und zart gebratene Wachteln), und kann seine Verhaftung nur mithilfe der Frau des Volkspräsidenten abwenden, die sein Geigenspiel liebt.

Anschließend: Flucht in die Schweiz, nach London, in die Niederlande, schließlich für drei Jahre in die noch "jungen" USA. Arbeit als Sprachlehrer, später als erster Violinist in einem New Yorker Theaterorchester – ein Emigrantenschicksal, das er in seiner "Physiologie" ausschließlich anekdotisch erwähnen wird. 1797 kehrt Brillat-Savarin nach Frankreich zurück, erhält eine Sekretärsstellung bei der Rhein-Armee. Sein Familienbesitz ist verkauft, die neue Regierung (das Direktorium) kann nichts ersetzen, doch er findet sich darein, einzig den Verlust eines Weinbergs, der köstliche Trauben lieferte, wird er nie verschmerzen.

1799 – unter Napoleon – beruft man Brillat-Savarin plötzlich in den Senat des obersten Gerichtshofes, des Kassationsgerichts in Paris. Und hier bleibt er, fortan unangetastet in seinem beruflichen Status, als Richter geschätzt, sonst beliebt, Sanguiniker wohl, bis zu seinem Tod am 2. Februar 1826.

Das Hauptwerk

Kaum zwei Monate vorher, im Dezember 1825, war die "Physiologie des Geschmacks" ohne Autornamen erschienen – und sofort ein großer Erfolg geworden, was heute übrigens nicht sehr verwundert. Denn es handelt sich nicht allein um ein unterhaltsames Kompendium aus interessanten Beobachtungen, weisen Gedanken, Ratschlägen, Anekdoten und brillanten Bonmots, deren schnell enttarnter Verfasser auf eine jahrzehntelange, illustre Erfahrung als reflektierender "Feinschmecker" zurückblicken kann. Nein, wenn ein Buch bekannt, ja berühmt wird, liegt dies nie nur (und vielleicht zunehmend weniger) an seiner Qualität, sondern ebenso daran, dass es, wie man sagt, "einen Zeitnerv" trifft. Das ist auch bei Brillat-Savarins Hauptwerk der Fall (seine anderen Werke, vornehmlich Schriften juridischen und ökonomischen Inhalts, kann man übrigens heute getrost vergessen).

Seit 1795 – ein Jahr nach einer Hungersnot – schossen in Paris die Lokale und Restaurants aus dem Boden; eröffnet wurden sie oft von Köchen oder Pastetenbäckern, die einst Adeligen gedient (und die Revolution überlebt) hatten. Ihr Publikum waren jetzt auch Bürger, die es sich leisten konnten, mit anderen früheren Vorrechten des Adels dessen verfeinerte Essgewohnheiten zu übernehmen. In den folgenden Jahren verbreiteten zudem ausländische Deputierte und Militärs, die durch die napoleonischen Kriege nach Paris kamen, den exzellenten Ruf der französischen Küche – dem sie natürlich selbst gerne folgten. Und während Napoleon entmachtet wurde, die Restauration einsetzte und die Gesellschaft erneut verändert wurde, blieb – wenn auch damals wie heute einer kleinen, reicheren Schicht vorbehalten - die Mode der "Feinschmeckerei". Oder, mit Brillat-Savarin: "Beim Wort ‚Gastronomie‘ allein spitzt alles schon die Ohren; das Thema ist aktuell, und die Spötter essen ebenso gern etwas Gutes wie die ernsthaften Leute."

Gastronomie: Wer im "Fremdwörterduden" nachschlägt, findet neben den Bedeutungen "Gaststättengewerbe" und "feine Kochkunst" (in diesem Sinn verwendet es Brillat-Savarin) noch eine dritte, ältere. Es handelt sich um die Übersetzung des altgriechischen Wortes "gastronomia": "Vorschrift zur Pflege des Bauches" , nach einer Schrift aus dem Jahr 350 v. Chr. Wobei wir wieder bei der Antike angelangt wären – kein schlechter Aussichtspunkt, um einen genaueren Blick auf die "Physiologie des Geschmacks" zu werfen, die man ohne weiteres als "Glücksphilosophie aus kulinarischer Optik" bezeichnen könnte. Damit stellt man sie in die Tradition Epikurs – doch davon später.

Zunächst zur Optik, und dazu, dass für einen wie Brillat-Savarin das Glück des Universums im kulinarischen Genuss liegt. So sehr, dass er einmal vom "essbaren Universum" schreibt – wohl meinend, dass sich einem wirklichen Feinschmecker das ganze Universum im Essen, pardon, im Schmecken offenbart. So wird ihm auch, gleichsam in einem Nachkorrigieren des Mythos, Gastronomia zur höchsten Göttin. Die noch frische (spätestens im beginnenden 19. Jahrhundert geborene), bereits erwähnte zehnte Muse Gastera, die "die Genüsse des Geschmacks" pflegt, ist ein mächtiges Geschöpf:

"Diese Muse kann die Weltherrschaft beanspruchen, denn die Welt ist nichts ohne das Leben, und alles, was lebt, ernährt sich. Sie hält sich besonders gern an den Hängen auf, wo der Wein blüht und die Orange duftet, oder in den Gebüschen, wo die Trüffel heimlich wächst, und in den Ländern, in denen Wildbret und Früche gedeihen."

Vom Wert der Sinnlichkeit

Doch der Autor dieser Zeilen ist kein Schwarmgeist und nicht nur ein Nachfahre des Rokoko mit seinen Schäferidyllen und seinen Äbten, die zwölf Dutzend Austern auf einmal aßen – sondern auch Vorfahre der Belle Époque , in der die zunächst unbegreifliche Schnelligkeit der Eisenbahn mit Bildern aus dem antiken Mythos besungen wurde. Und wie andere, die im 19. Jahrhunderts (in der Nachfolge Kants) ihre philosophischen Werke als "Physiologien" bezeichneten, versucht sich auch Brillat-Savarin an der Aufhebung der unseligen cartesianischen Spaltung von "Körper" und "Geist" (freilich, ohne Descartes zu erwähnen).

Und so setzt auch die "Physiologie des Geschmacks" mit der Betrachtung "Von den Sinnen" ein. Von den sechs Sinnen, genauer gesagt. Denn Brillat-Savarin, ein nicht unerfahrener Junggeselle und galanter Franzose, deklariert einen sechsten Sinn: den Geschlechtssinn. Dient der Geschmackssinn der Erhaltung des Individuums – so "müssen auch die Organe, die der Erhaltung der Art dienen, als Sinnesorgane betrachtet werden. Räumen wir also dem Geschlechtssinn den Platz ein, der ihm gebührt, und überlassen wir es unseren Nachkommen, ihm seinen Rang anzuweisen."

Wer weiß, was er zur aktuellen Deformation dieses Geschlechtssinns gesagt hätte, was etwa zur medialen Kopplung von "Sex" und Konsum, die mit grober Verdrängung sinnlicher Genüsse einhergeht? Wahrscheinlich das gleiche wie zu Fast Food, McDonald’s und Co. – nichts für Genießer, nichts, das befriedigt. Aus dem Lot gebracht, sozusagen. Aber er wüsste Abhilfe (seine Empfehlungen zur Vermeidung von Korpulenz lesen sich durchaus zeitgemäß: kein weißes Mehl, wenig Kohlenhydrate – und viel Bewegung!)

Wer Epikur gelesen hat, wird in der "Physiologie des Geschmacks" oft an ihn erinnert – den antiken Philosophen (341 bis 270 v. Chr.), der das Glück im sinnlichen Genuss fand und von dieser Erkenntnis ausgehend nach den Bedingungen eines möglichst glücklichen Lebens fragte. Er fand sie im richtigen Maß.

Dieser Spur folgt Brillat-Savarin. Auch er lehnt jedes Übermaß ab – und sei es die letzte Portion eines formidabel getrüffelten Fasans. So geht die bekannte Unterscheidung zwischen dem Gourmand , einem unreflektierten Vielfraß, und dem Gourmet , dem veritablen Feinschmecker, auf ihn zurück. Und Brillat-Savarin geht noch weiter. Als wissenschaftlich inspirierter Geist, der die Geschmacksempfindungen in drei Arten unterteilt, als Erfinder eines Parfümierapparats und als exzellenter Beobachter begnügt er sich nicht mit der Feststellung, dass es "geborene" Feinschmecker gibt und solche, die ihren geschmacklichen Genuss lediglich vorspiegeln. Er beschreibt auch nicht nur, ganz im Sinne Lavaters, die typischen Physiognomien von männlichen oder weiblichen Feinschmeckernaturen (erwartungsgemäß sind beide eine wenig rund, sie haben keine langen Nasen, keine hohen Stirnen, und die Frauen "sind eher hübsch als schön" ).

Darüber hinaus führt er eine Methode vor, mittels derer ein Wirt herausfinden kann, ob es sich bei seinen Gästen um Menschen handelt, die seine Kochkunst zu schätzen wissen: Drei Menüs in sogenannten "Probeschüsseln" sind gedacht für verschiedene soziale Gruppen (unterschiedliche Einkommensklassen) und darauf ausgerichtet, Begeisterung zu bewirken – tun sie das nicht, hat man es mit Leuten zu tun, die es nicht wert sind, exzellent bekocht zu werden.

Heute ist Brillat-Savarins "Physiologie des Geschmacks", die hier in ihrem Reichtum nur gestreift werden konnte, vor allem als das Werk eines frühen "Gastrosophen" bekannt, der als einer der ersten die "Kunst, Tafelfreuden zu genießen" untersuchte. Berühmt sind seine Aphorismen: "Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist" gehört zu den bekanntesten unter ihnen (nicht weit von Nietzsche entfernt). Oder "Koch wird man; zum Bratenkoch wird man geboren". Oder: "Eine Mahlzeit ohne Dessert ist wie eine einäugige Schönheit" . Das sind kleine Glanzlichter, die auf ein großes Glück fallen – das Glück, zu essen.

Dass dieses möglichst vollkommen und gesund erfahren werde, war der Wunsch Brillat-Savarins, der vorgab, dass die Entdeckung eines neuen Sternes ihn nicht annähernd so berühre, wie die einer neuen Speise. Welche ihrerseits natürlich erst ganz zu genießen wäre, wenn sie den passenden Platz in der Menüfolge erhielte. Alles andere würde sich vielleicht ergeben – wenn man auf die Anzahl der Gäste achtet (am besten nicht mehr als zwölf, damit alle das Gespräch teilen können), die Speisen zunehmend leichter, die Weine dagegen schwerer werden, und auch für Spiele gesorgt ist sowie für die verdauungsfördernde Trinkschokolade – denn "die Tafel ist der einzige Ort, wo man sich nicht schon in der ersten Stunde langweilt".

Literatur:

Jean Anthelme Brillat-Savarin: Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über das höhere Tafelvergnügen. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Hans Eckart Rübsamen, München 1962.

Birgit Schwaner , geboren 1960, ausgezeichnet mit dem Siemens Literaturpreis, lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Wien. Sie schreibt seit 1991 für das "extra".

Freitag, 19. August 2005

Aktuell

Blicke aufs Häusermeer
Erhöhte Aussichtspunkte haben schon immer Schaulustige angelockt
Wer übernimmt die Führung?
Die kommenden Probleme und Entwicklungen der Weltwirtschaft – Ein Panorama
In Millionendimensionen
Grundlegende Befunde über den allseits sichtbaren Wandel Chinas

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum