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Das Süße & das Saure

Zur Ambivalenz konträrer Geschmacksrichtungen -ein Potpourri
Von Hannes Doblhofer

Das waren noch Zeiten, als der Rahm von der Oberfläche des großen Milchtopfs vorsichtig abgeschöpft, zu Schlagobers verarbeitet und, mit Staubzucker gesüßt, in den frischgebackenen Blätterteig der mütterlichen Festtags-Schaumrollen eingefüllt wurde.

Das waren noch Geruchs- und Geschmacksexzesse, als die gepressten Mostäpfel ihre fruchtzuckersäuerliche Kraft im frischen Most im Kindermagen verteilten, bis es vor lauter Gier im Bauch rumorte und in den Hosen krachte.

Ja, es war einmal, da wurde noch - ohne modische "correctness" - einfach "süß wie ein Kinderpopo" geschwärmt - und "Jetzt gibt's Saures!" gerufen, um etwa eine Fußballelf zu mehr Angriffslust anzuspornen.

Süße Muttermilch

Der Mensch erhält seine erste Nahrung aus dem Leib der Mutter. Köstlich süß ist die Muttermilch. Somit ist die Erfahrung des Ernährtwerdens, des Hungerstillens, der immer wiederkehrenden Lustbefriedigung, mit der Mutter verbunden. Milch - auch heute noch ein traditionelles Frühstücksgetränk - leuchtet weiß in der morgendlichen Welt...

Nahrung bestimmt das Leben von Geburt an, ist also naturgemäß in unser tiefstes "gastrosophisches" Unbewusstes eingebunden. Geschmackserlebnisse sind Bestandteil des episodischen Gedächtnisses. Sie haben autobiographischen Charakter, sind weitgehend einmalig und an die Sprache gekoppelt. Die sich zu Erinnerungen vernetzenden Gehirnzellen sitzen in der Großhirnrinde, aber auch im limbischen System, das Gefühle und Gerüche speichert.

Allgemeinwissen - etwa, dass Salzgurken sauer-pikant schmecken und in einer milchig-trüben Salzlake schwimmen - ist Teil des semantischen Gedächtnisses. Das Schälen eines Cox-Orange-Apfels oder einer Williams-Birne gehört hingegen zum prozeduralen Gedächtnis: es wird ausgeführt, ohne über die Prozedur nachdenken zu müssen.

Es sind nicht die großen kulinarischen Ereignisse, die erinnert werden, nicht die Festessen, sondern kleine, lustvolle Geschmackserlebnisse. Die frische Süße einer selbst aus der Erde gezogenen Karotte etwa oder die Fruchsäure der ersten Zwetschken, das Vanille-Odeur der köstlichen Luxemburgerli, die der Onkel aus der Schweiz mitbrachte.

Mit der Erinnerung an einen Geruch oder Geschmack verbindet man meist eine Geschichte, die einem derart präsent erscheint, als wäre sie erst gestern geschehen. Der Mundraub in einem fremden Garten, bei dem man ertappt wurde, kommt einem mit jedem sauren Apfel wieder ins Gedächtnis. Und manche haben das Gefühl, als müssten sie immer wieder in einen "sauren Apfel" beißen . . .

Esserinnerungen spiegeln Zwischenmenschliches, erzeugen starke Gefühle - Freude, Ablehnung oder Widerwillen. Andreas Hartmann schreibt in "Zungenglück und Gaumenqualen" (München 1994): "Viele Menschen etwa hegen für den großelterlichen Haushalt, in dessen Mittelpunkt eine meist verständnisvolle, verwöhnende Großmutter steht, Gefühle einer melancholischen Verbundenheit, die in den Atrributen süß, zart und mild ihren adäquaten Ausdruck findet. Dagegen wird das durch allerhand Erziehungsmaßnahmen gekennzeichnete Tischgeschehen im engsten Familienkreis weit öfter in den Geschmackskategorien des Bitteren, Zähen und Scharfen erinnert."

Geschmack entsteht nicht nur auf der Zunge. Denn auch mit den vereinten Kräften seiner rund 2.000 Geschmacksknospen unterscheidet der Mensch lediglich vier Rundelemente: süß, bitter, salzig und sauer. Der "gute" Geschmack residiert nicht auf der Zunge. Das Köstliche ist oft auch das Kostbare. Der ungehemmte Konsum teuerster Ingredienzien war in der Geschichte stets Ausdruck von Macht und Reichtum: Ausgezeichne schmeckte ein Gericht, weil andere von seinem Genuss ausgeschlossen waren.

Süßes und Saures, Ambivalenzen, Vorlieben und Abneigungen dokumentierten die Vorratskammern der kleinen Leute. Wohin mit dem Überfluss der Obst- und Gemüsegärten im Herbst? Die gängige Konservierungsmethode, Lebensmittel durch Erhitzen dauerhaft haltbar zu machen, wird gerne als "einrexen" bezeichnet. Wuchtige, luftdicht verschließbare Glaszylinder der Marke "Rex" sind ideale Behälter für alles, was einkochbar ist.

"Meine größte Konkurrenz ist die Hausfrau", sagt Hans Staud aus Wien-Ottakring. In der Hubergasse und im Staud-Geschäft mitten am Brunnenmarkt findet sich Köstliches aller Geschmacksrichtungen in den typischen achteckigen Gläsern mit meist schwarzem Deckel. Jährlich stellen 27 Mitarbeiter rund vier Millionen Gläser Marmelade her. Seit 1995 engagiert sich der kunstsinnige Qualitätsfanatiker auch im Südburgenland. Der zweite Betrieb konserviert - unter der Marke "Gurkenprinz" - frisches Feldgemüse, von süß-sauren roten Rüben über delikaten Solospargel bis zu pikanten Gurkerl-Variationen.

Der Großteil von Stauds Marmeladen- und Gemüseproduktion wird in Gourmet-Läden in aller Welt verschickt, die Exportquote beträgt 40 Prozent, Tendenz steigend. Der Qualitäts-Standard ist hoch, verarbeitet werden Grundprodukte aus vorzüglichen Lagen. Die besten Qualitäten hat sich Hans Staud durch langfristige Liefer-Kontrakte gesichert; "Mama" Staud verkauft im Brunnenmarkt-Geschäft nicht nur das Kontrast-Sortiment der Manufaktur, sondern offeriert auch Senf, Sauerkraut und haltbares Tafel-Obst zum Einlagern.

Süßsaures Obstparadies

Ein Eldorado für Obst-Gourmets sind die Apfel- und Birnbäume

in Missingdorf im Waldviertel. Das verlockende rotbackige Farben-spiel verführt Vorbeifahrende, anzuhalten. In den vergangenen

15 Jahren haben Reinhard und Helga Wetter aus dem elterlichen Obstbaubetrieb an der Grenze Wald-/Weinviertel eine musterhafte Produktionsstätte der Obstveredelung entwickelt. Naturtrübe, sortenreine Apfel- und Birnensäfte werden gepresst - James Grieve, Cox Orange, Renette, Elstar, Discovery, Golden Delicious, Williams-Birne. Verarbeitet wird ausschließlich gepflücktes Obst, denn "was am Boden liegt", sagt Helga Wetter, "bleibt dort, denn es schmeckt sofort modrig".

"Es kommt auf den richtigen Zeitpunkt an, wann aus dem Festen, Flüssiges wird", erklärt Reinhard Wetter. Geschickt turnt er in den nach Sorten unterteilten Lagern von Kiste zu Kiste, um den optimalen Reifezustand seiner Früchte zu erkosten. 5 bis 14 Tage, nachdem die Früchte gepflückt wurden und die Nachreifung abgeschlossen ist, wird sanft gepresst, vorsichtig erhitzt und sofort abgefüllt.

Süßes Finale

Nach Suppe, Fisch und Fleisch folgt der süße Schlussakkord: die glasierte oder überzuckerte, aufgekochte, gedämpfte, gebackene Süßspeise, ein Finale für Augen und Gaumen: Halbgefrorenes mit gerösteten Mandeln, Krokant, Schokoladekuchen, Buttercreme und Schichtnougat.

Süße Speisen, in Honig getränkt, waren schon den alten Ägyptern bekannt. Die Babylonier vernaschten Leckereien mit Palmsirup, und die zuckervernarrten Kalifen im Nahen Osten des 11. Jahrhunderts ließen prächtige Zuckerskulpturen erbauen, als Sinnbild für ihren Reichtum. Früher aß man Süßes gerne auch zum Hauptgericht, etwa im alten Rom, wo Fleisch mit Honig verzehrt wurde, ein Rezept, das übrigens auch "Naturvölkern" in Übersee bekannt war.

Fast alle Menschen mögen Süßes. Wenn Neugeborene mit einem süßen Geschmacksreiz stimuliert werden, lächeln sie. Wenn sie Saures oder Bitteres schmecken, verziehen sie hingegen das Gesicht. Ist die "Süßpräferenz" also angeboren? Oder ist Süßes deshalb so begehrt, weil es über Jahrtausende ein rarer Luxusgenuss war?

Bevor Lebewesen in der Lage waren, zu sehen und zu hören, konnten sie bereits schmecken. Der Geschmackssinn ist der phylogenetisch älteste Sinn. Er kann vor giftiger und schlechter Nahrung schützen, indem er den Würge- oder den Brechreflex auslöst. Bereits in Rezepten alter Hausapotheken wird beschrieben, dass eine Mischung aus schwarzem, bitterem Teesud und Senf ein probates und effektives Naturheilmittel zum Erbrechen darstellt. Auch Sauerkraut war früher Medizin, die Zunft der "Sauerkräutler" wurde im 19. Jahrhundert den heilenden Berufen zugeordnet.

Babys und Säugetierjunge werden aber auch "süß" erzogen, irgendwann waren wir alle "süße Kinder". Später erfolgt der Übergang ins saure Zeitalter - nun werden auch saure Speisen begehrt, wie etwa die Essiggurke. Und spätestens im Erwachsenenalter wird das Saure sinnlich erlebt, seltener hingegen das Süße. Zum Abendessen vor einem Tete-à-tete werden nicht Torte und Kompott gereicht, sondern Kaviar und Pikantes. Wenn das Triebleben dann erwacht, heißt es, man sei "scharf". Aber auch darin verbirgt sich, wie man bei Charles Baudelaire nachlesen kann, auch eine gewisse Restsüße: "Dann war sie da . . ., heilige Raserei, süße Begierde."

Freitag, 24. September 2004

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