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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Über die vielfältigen sozialen Funktionen des Essens

Gesellige Genüsse

Von Gabriele Sorgo

Wer Gemeinschaft pflegen will, der trifft sich mit anderen zumeist zum gemeinsamen Essen und Trinken. Denn neben dem Beischlaf stellt die Nahrungsteilung unter Menschen eine der grundlegendsten Formen der Erzeugung sozialen Zusammenhalts dar. Weil im vormodernen Europa Nahrungsgemeinschaft zumeist auch Schicksalsgemeinschaft bedeutete, war man bereit, sogar Fremden, die man aus Gastfreundschaft an seinen Tisch einlud, die selben Rechte einzuräumen wie den Familienangehörigen. Schließlich sind Kinder, die von der selben Frau gestillt werden, zumeist Geschwister.

So wird aus Geteiltem mehr: Anthropologen vermuten, dass die entscheidende evolutionäre Errungenschaft der Kooperation rund um die Nahrungsteilung entstanden sein muss. Fest steht, dass Mahlgemeinschaften emotionale Bindungen schaffen. Das gilt bis heute. Allerdings sind die Gemeinschaften nicht immer nur gleichberechtigt oder so erotisch, wie das Sprichwort "Liebe geht durch den Magen" nahe legt. Verhaltensforscher weisen darauf hin, dass zwischen Verteilenden und Empfangenden ein Machtgefälle erzeugt wird, sodass Gefühle der Abhängigkeit und der Schuld entstehen. Wer etwas zu verteilen hat, bestimmt meist auch die Beziehungen. Von der Frühzeit der Menschen bis ins 20. Jahrhundert galt wohl vor allem Essen und nicht Wissen als Macht. Die Redensart "Wess' Brot ich ess', dess' Lied ich sing'" umschreibt recht zutreffend die Bedeutung des Essens bei ständig knappen Nahrungsmittelressourcen in den Jahrtausenden, die unserer Wohlstandsgesellschaft vorausgegangen sind. Sowohl Jäger und Sammlerinnen als auch Ackerbaukulturen auf der ganzen Welt haben daher Tischmanieren entwickelt, in denen sich ihre sozialen Strukturen und ihr Weltbild symbolisch abbildeten. In den Industrienationen ist das heute nicht anders.

Sitten der Nahrungsaufnahme

Wer was mit wem zusammen essen darf, ist kulturell festgelegt. Die Sitten der Nahrungsaufnahme unterscheiden sich von einem Kulturkreis zum anderen. Wer das spanische Hofzeremoniell der Habsburger kennt, kann sich vorstellen, wie wenig das Essen zuweilen mit einfacher Sättigung zu tun hat. Ethno-Psychoanalytiker berichten von der ein- und ausschließenden Funktion des Mahles in kollektivistischen Gesellschaften. Wer sich zu einer Gemeinschaft an den Tisch setzt, erhält nicht nur seinen Anteil am Essen, sondern wird durch die Teilnahme selber in die Gemeinschaft "hineingegessen", wird von ihr einverleibt.

Westeuropäer machen solche Erfahrungen heute vielleicht weniger beim Akt des Essens als vielmehr beim Genuss von Musik- oder Theateraufführungen, die das Publikum vorübergehend zu einer - manchmal sogar ekstatischen - Gruppe verschmelzen. Aber von antiken Mysterienkulten und frühchristlichen Gemeinschaftsmählern wird berichtet, dass der gemeinsame Genuss von Speisen bei einem rituellen Beisammensein Transzendenzerfahrungen ermöglicht habe. Griechische Symposien erfüllten den selben Zweck: Man traf sich und pflegte die Gemeinschaft bei einem Mahl. Das heute eher abwertend verwendete Wort "Gelage" beschreibt nur die Tatsache, dass die reichen Bürger damals auf bequemen Polstern lagerten, um einen ganzen Abend bei sinnlichen und philosophischen Genüssen zu verbringen. Zum Essen tritt hier eben die Kommunikation hinzu. Während die Nahrung von außen kommend ins Körperinnere eindringt, können innere Zustände und Empfindungen verbal geäußert und mitgeteilt werden. So kommt es zu einem grenzüberschreitenden Erlebnis, das die Teilnehmenden verbindet.

In den alten Gesellschaften erstreckten sich Abhängigkeits- und Schuldbeziehungen aber nicht nur auf die nächsten Angehörigen oder die Mitglieder eines Dorfes, sondern schlossen das Jenseits mit ein. Erst die christliche Lehre bewog die Gläubigen seit dem Mittelalter, Nahrungsmittel und Schmuck nicht mehr den Verstorbenen ins Grab zu legen, sondern als Almosen für die lebenden Bedürftigen zu spenden. In der hellenistisch-römischen Gesellschaft war es ebenso wie in den europäischen Stammesgesellschaften üblich gewesen, die Toten mit Speise und Trank zu versorgen und sie damit in eine Mahlgemeinschaft mit den Lebenden einzubeziehen.

Das Totenmahl

Auch die Götter wurden zu Tisch geladen in der Hoffnung, sie mittels großzügiger Gastfreundschaft gewogen zu stimmen. Umgekehrt fürchtete man den Zorn unversorgter Toter oder noch immer blutdürstiger Götter, die durch die geopferten Nahrungsmittel nicht besänftigt worden waren. Bis heute ist die Sitte des Totenmahles erhalten geblieben: Die Lebenden bestätigen sich ihre Vitalität bei einem ordentlichen Essen. Wann könnte es denn besser schmecken als angesichts des Todes, dem man für dieses Mal (oder für dieses Mahl?) noch entkommen ist?

Auch das Hochzeitsmahl beruht auf archaischer Lebensfreude. Die Sippen bekräftigen einander beim Tafeln nicht nur ihren gegenwärtigen Zusammenhalt, sondern auch ihre Unsterblichkeit. Denn das neue Familienmitglied wird beim Festessen von der Gemeinschaft "verschluckt", um sie zu vergrößern, und garantiert außerdem durch den erhofften Kindersegen die nächste Generation. In individualistischen Gesellschaften scheinen solche Vorstellungen immer seltener zu werden, man "verewigt" sich lieber durch eigene Taten als durch die Sippe. Bevor der moderne Staat die Bürger an seinen großen Haushalt mit den vielen Töpfen anschloss, verfügten familiäre oder regionale Gemeinschaften jedoch über eine Art unsterblichen Körper, der analog zum menschlichen Stoffwechsel aß, verdaute und ausschied.

Wenn also zwei sich einen Braten teilten, dann hatte das auch Bedeutung für die Korporation, der diese Individuen angehörten. In Zeiten, da die Kunst des Schreibens und Lesens nur wenigen Mönchen geläufig war, pflegte man seine Verträge mit symbolischen Gesten zu besiegeln. Ein Gemeinschaftsmahl von Vertretern verfeindeter Sippen oder politisch konträrer Gruppierungen konnte den Friedensschluss ebenso rechtsgültig bestätigen wie ein Dokument. Umso ruchloser erscheint daher, etwa in mittelalterlichen Quellen, ein Verräter, der sich trotz des gemeinsamen Essens nicht an den Frieden hielt. Der bündnisstiftende Charakter des Mahles war heilig.

Schließlich beruht ja auch der Zusammenhalt der Christenheit auf der Teilung eines Mahles. Die Priester "kochen" am Altar und verteilen dann den Leib Christi in der Gestalt eines Brotes, um soziale Bande zu erzeugen. So bilden die Christen als Kirche eine Art von Haus- und Mahlgemeinschaft. Desgleichen ähnelte die Hölle auf mittelalterlichen Darstellungen einer Küche, allerdings einer Opferküche, wo die Teufel fleißig brieten, rösteten und verschlangen. In diesem antichristlichen Haushalt hielten die Teufel eine Mahlgemeinschaft, für welche die Sünder den Braten lieferten. Das Höllentor selbst erschien oft als monströser Schlund, der nach Sündern lechzte. Auch die frühneuzeitlichen Vorstellungen vom Hexensabbat verkehrten das karge christliche Abendmahl in eine verschwörerische Orgie, die dennoch eine Mahlgemeinschaft blieb.

Selbst die politische Macht leitete sich in Europa einst von der Mahlgemeinschaft mit den Machthabern ab. An den Königshöfen erhielten nur die mächtigsten Fürsten den Titel Truchsess oder Seneschall, was ursprünglich nichts anderes hieß als "Küchenmeister" des Königs. Auf allen Ebenen brachte das Essen die Leute zusammen.

Vereinsleben

Nicht nur in der Antike, sondern auch noch während des ganzen Mittelalters und bis weit hinein in die Neuzeit gab es so genannte Einungen, Gilden oder Brüderschaften, die Menschen unter religiösem oder profanem Vorzeichen regelmäßig zu einem Schmaus zusammenführten. Begräbnisvereine und Gebetsverbrüderungen schlossen ebenso wie politische oder wirtschaftliche Vereine weibliche Mitglieder durchaus mit ein und besiegelten ihren Zusammenhalt und die gegenseitige Verbundenheit statt mit schriftlichen Verträgen lieber mit regelmäßigen tüchtigen Fress- und Saufgelagen. Zumindest bezeichneten es argwöhnische Kleriker des öfteren so, weil sie in dieser Sitte zurecht eine Konkurrenz zum asketischen Abendmahl erkannten. Historiker führen diese unglaublich florierende "Vereinsmeierei" auf noch schwache staatliche Strukturen zurück. Nur eine vielfältige Einbindung in Vereine konnte gegen Feinde, Krankheit, Tod und Höllenqual ein wenig absichern. Das Dazugehören aber bestätigte sich beim Essen.

Mit der Alphabetisierung änderte sich in Europa rechtlich zwar einiges, aber inoffiziell hat ein gemeinsames (oder auch einsames) Essen weiterhin hohe symbolische Aussagekraft und Auswirkungen auf das Wohlbefinden. Der steigende Absatz von Medikamenten für Magen- und Darmkrankheiten beweist, das Soziales und Stoffwechsel nicht so einfach zu trennen sind wie die Arbeit vom Privatleben. Geschäftsessen können einem im Magen liegen, wenn man sich den Braten mit einem Konkurrenten zu teilen hatte. So manches muss man der ökonomischen Umstände halber schlucken, obwohl einem die Sache gar nicht schmeckt. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein. Daher schaffen auch heute noch Kleintierzüchter- oder Tennisvereine mit ihren kulinarischen Vereinsfesten regionale Verbundenheit, die der Mitgliedsbeitrag allein nicht herstellen kann.

Verbrüderungen

Ebenso sorgen die jährlichen Weihnachtsessen von Firmen für eine corporate identity. Man isst und trinkt und erzählt aus dem Leben. Zwar werden auch bei solchen Gelegenheiten die realen Verhältnisse in Speiserituale übersetzt, denn die Rechnung begleicht der Chef. Aber die Tatsache, dass sich alle zugleich sättigen, kann trotzdem einen nivellierenden, "verbrüdernden" Effekt haben. Gerade in Zeiten des einsamen Fast Food ist es nicht gleichgültig, mit wem wir hin und wieder unser Essen teilen oder von wem wir uns einladen lassen. Weil nicht mehr der Hunger im Vordergrund steht, erhält die Inszenierung umso mehr Gewicht.

Bedeutsam ist auch, was und wie wir essen: Lokaltypisches, Exotisches oder antiallergene Schonkost. Zwar müssen Konsumentinnen und Konsumenten aus Zeitgründen oft vorgefertigte Nahrung kaufen, aber die genussvolle Grenzüberschreitung des Körpers durch die Sinne wird beim Essen umso mehr gesucht, als der Alltag persönliche Abgrenzung und Durchsetzung verlangt. Es muss ja keine Orgie sein, aber irgendwie sollte die Verknüpfung von Sinn und Sein, wie sie in vergangenen Zeiten bei üppigen Festen und rituell umrahmten Mahlzeiten stattgefunden hat, doch zustande kommen. Daher haben Kochbücher Kultstatus, neue Diäten vermitteln Körperbezogenheit, Benimm-Regeln in den Klatsch-Spalten erklären soziale Bezüge.

Ob sich sinnliche Erfahrungen und soziale Verflechtungen aber tatsächlich einfach nach Kochrezept miteinander verrühren lassen, bleibt dahingestellt. Glaubt man den Soziologen, so müssen sich die Mitglieder der westlichen Gesellschaften ohnehin ihre Existenz aus verschiedensten Rollen und Lebensabschnitten je nach Marktlage zusammenbasteln. Vielleicht müssen wir also auch die Alchemie der Emotionen individuell beherrschen lernen - wenn nicht die Genetiker und Hormonpäpste uns diese Sorge auch noch abnehmen.

Literaturhinweis: Annemarie Schweighofer-Brauer, Martina Kaller-Dietrich (Hg.): Frauen Kochen. Innsbruck 2001. Darin ist auch der Aufsatz der Kulturhistorikerin Gabriele Sorgo: "Aus der christlichen Opferküche - Entmachtung der Mägen."

 

Freitag, 16. April 2004 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 12:14:00

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