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Chips mit Saccharose-Polyester

Die Nahrungsmittelindustrie setzt zunehmend auf synthetische Produkte
Von Fritz Keller

Heureka, ich hab's gefunden!, wird der leitende Ingenieur der japanischen Firma Otsuka Pharmaceutical Company gerufen haben, als er eine breite Palette künstlicher "Nährstoffe", vom Vitamin B 12 bis Pantothensäure, zu einem biskuitförmigen Stengel designed hatte. Und er hatte auch allen Grund dazu. Denn dieses Novel Food (was rein gar nichts mit Nouvelle Cuisine zu tun hat), mit der gesundheitsbewussten Beifügung "Balanced Food" als "Calorie Mate Block" auf den Markt gebracht, war nicht nur "maßgeschneidert für Menschen unterwegs, die ein einfaches, energiereiches und nahrhaftes Lebensmittel benötigen", wie der Bepacktext verspricht. Der Konsum dieser denaturierten Stängel "zum Frühstück, bei der Arbeit, beim Studium oder zu jeder anderen hektischen Zeit" waren auch die schon lang ersehnte ultimative Lösung für wachsende Umsätze in der Nahrungsmittelindustrie.

Deshalb rasteten und ruhten auch die Food-Engineers der Konkurrenz nicht, bis sie ähnliche Meisterleistungen zustande gebracht hatten: Innerhalb kürzester Zeit kreierte die Takeda Food Company, eine Tochtergesellschaft der Tadeka Chemical Industries, einen "Vitamin Salad" ohne die Spur eines Salatblattes, dafür mit pulverförmigen Anteilen von getrocknetem Gemüsemais, Kürbis, Kohl, Spinat sowie Karotten, angereichert mit zahlreichen künstlichen Vitaminen. Das bisher letzte Vitaminbiskuit präsentierte die japanische Firma Pola Cosmetic Incorporation mit "Balanced-up".

Der Trend in Richtung synthetischer, beinahe unbeschränkt haltbarer und ästhetisch gestylter Produkte zeichnet sich in der Nahrungsmittelindustrie seit dem 19. Jahrhundert ab und erfolgte synchron mit dem Anstieg des industriellen Anteils an den Lebensmitteln. Zunächst wurden Lebensmitteln technisch behandelt, dann herkömmliche Produkte industriell produziert und schließlich erfolgte die industrielle Erzeugung von Ersatzstoffen. Die Einstiegsdroge in die letzte Phase war Coca-Cola (Wasser, Zucker, Farbstoff Karamel, Säuerungsmittel E 338, Aroma, Koffein - und sonst nichts). Es folgten die Diätmagarinen - im Grunde Verfälschungsprodukte der Butternachahmung "Magarine". Diese Meta-Surrogate waren keine Erfindung aus der Not, sondern entstanden mitten im schieren Überfluss. Sie bestehen aus Farbstoffen, um das Produkt überhaupt als ansehnlich verkaufen zu können, Stabilisatoren, um es beschränkt gebrauchsfähig zu machen, Aromen, da es ansonsten keinen magarineähnliche Geruch hätte, und Vitaminen in so geringer Dosierung, das auch bei übermäßigem Verzehr keine Auswirkungen zu verzeichnen sind.

Ernährungswissenschaftlich gesehen, sind Diätmagarinen völlig wertlos. Wie die nachfolgenden "Light"-Produkte sollten sie die Konsumenten nur an chemische Nahrung gewöhnen. Der nächste Erfolg des Food Engineering waren Kunstfett-Kreationen, wie Maltrin (aus Maisstärke), Paselli SA (aus Kartoffelstärke), N-Oil aus Tapiokastärke und Nutrifat C (aus einer Mischung aus verschiedenen Stärkespaltprodukten). Alle diese Kunstfette hatten jedoch noch einen entscheidenden Nachteil: Sie ließen sich nicht hoch erhitzen, eigneten sich also nicht zum Backen, Braten und Frittieren. Erst das vom amerikanischen Konzern Procter & Gamble (Produzent von "Meister Proper" und "Pampers-Windeln") nach 25-jähriger Forschungsarbeit entwickelte Kunstfett Olestra hatte dieses Manko durch Beimengung eines widerstandsfähigen, aber vollkommen unverdaulichen Saccharose-Polyester nicht mehr.

Olestra imitiert außerdem auf der Zunge das Gefühl, das sahnig-buttrig-cremige Speisen hervorrufen, und ist absolut kalorienfrei. Da diese Kunstfett aber von den Darmbakterien nicht abgebaut werden kann, verursacht es Magenkrämpfe und Verdauungsstörungen. Der mit Olestra vermengte menschliche Stuhl müsste nach herkömmlichen Kriterien als Sondermüll behandelt werden, da das Kunstfett auch von den Mikroorganismen im Boden nicht abgebaut werden kann. Trotzdem hat Olestra in den USA die Prüfung durch die Food and Drug Administration überstanden und darf dort Kartoffelchips und anderen Fast-Food-Snacks beigefügt werden.

Was in Claude Zidis Film "Brust oder Keule" der Gastronom und Feinschmecker Charles Duchemin, verkörpert durch Louis de Funès, noch mühselig durch Einbruch und Werksspionage beweisen will - die heimliche, fabriksmäßige Erzeugung von Produkten, die nach juristischen Kriterien vielleicht noch Nahrung, keinesfalls aber mehr Lebensmittel im eigentlichen Sinn des Wortes sind -, findet heute bereits vor aller Augen unter staatlicher Aufsicht statt. Die Lebensmittel- und Getränkeindustrie gehört mit 1.5 Trillionen Dollar Jahresumsatz zu jenen Industriezweigen, in der die Zentralisierung und Monopolisierung am weitesten fortgeschritten ist. Acht Konzerne - Unilever, Nestle, BSN, Cadbury, Schweppes, AB, United Biscuits, Hillsdown und San W. Berisdorf - versorgen heute 70 Prozent des gesamten europäischen Marktes - angefangen von der bei der Geschmacks(ver)bildung ungewöhnlich wichtigen Babynahrung über Kekse und Cornflakes bis hin zur Tiernahrung.

Die weltumspannende Strategie der Lebensmittelkonzerne wird dafür sorgen, dass sich "Balanced Food", Olestra oder ähnliche Kunstprodukte auch bei uns durchsetzen. Bei der 1997 vom Europäischen Parlament und Rat verabschiedeten Novel Food-Verordnung ist es dem europaweiten Zusammenschluss der Lebensmittel- und Getränkeindustrie immerhin schon gelungen, in die restriktiven Regelungen eine solche Vielzahl unklarer Rechtsbestimmungen einzubauen, dass die juristischen Anwendungprobleme die Durchsetzung der Richtlinie zumindest sehr hemmen werden. Außerdem unterliegen absurderweise nach dieser Richtlinie ausgerechnet jene Lebensmittel, die am weitesten von herkömmlicher Nahrung entfernt sind, keiner Kennzeichnungspflicht. Die Hintertür für (bio-)chemisches Food Design jeder Art ist damit sperrangelweit offen.

Diese absehbare Entwicklung wird umso absurder, wenn man bedenkt, dass erstmals in der neueren Geschichte die landwirtschaftlichen Ressourcen in Europa ausreichen, um die Bevölkerung im Überfluss zu ernähren. Selbstbedienungstankstellen, in denen eine vollmundige Minestrone und ein deliziöses Spargelrisotto zu leistbaren Preisen für alle verabreicht werden, sind keine Utopie mehr. Einlösen muss sie halt wer.

Freitag, 25. April 2003

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