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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Plädoyer für Menschenfresser

Zur Tradition eines beliebten kulinarischen Typus
Von Birgit Schwaner

Als einmal Mitte des 19. Jahrhunderts der im Osten Afrikas berühmt-berüchtigte Sklavenhändler Tippu Tip einen seiner Handels- bzw. Raubzüge unternahm "wurde die sonst geübte Grausamkeit dadurch noch erhöht, daß alle männlichen Kriegsgefangenen aufgefressen wurden, dabei entwickelten die Sieger einen herzhaften Appetit, zu zweien verspeisten sie einen ganzen Mann. Tippu Tip suchte dem Treiben Einhalt zu gebieten, weniger aus Nächstenliebe, als weil ihn der ekelhafte Geruch des geschlachteten Menschenfleischs störte. Die Manjema hatten aber für seine Vorstellungen wenig Sinn, sie erwiderten: ,Wenn wir nicht Menschenfleisch essen sollen, so enthaltet ihr euch des Ziegenfleisches.&grsquor; Diesem Vernunftsgrunde gegenüber blieb es beim alten."

Die Anekdote stammt aus der Biografie Tippu Tips, aufgezeichnet vom deutschen Linguisten Heinrich Brode, erschienen 1903 in Berlin. Damalige Leser mögen derlei erwartet haben, sobald sie zu einem Buch über Afrika griffen: Im Abenteuer- und Reisebericht gehören Kannibalen oder kannibalische Vorgänge zu den Motiven, die die Gefahren einer fremden Welt aufs Äußerste veranschaulichen.

Motive, die umso stärker wirken, je klarer sie im Gewand des Fremden vielleicht sehr vertraute Wünsche oder Befürchtungen verraten, welche sich sonst nur unter Schwierigkeiten realisieren lassen: Sollten Sie mehr als damit liebäugeln, im Rahmen unserer Kultur Ihre Artgenossen zu kochen, panieren, rösten, zu Salat raspeln, zu Sauce verrühren oder in der Mikrowelle aufzuheizen - dann verlassen Sie mit narrensicherer Wahrscheinlichkeit bald ebendiesen kulturellen Rahmen. Und überschreiten (wo nicht im eigenen Kopf, so in den Köpfen Ihrer Mitwisser) per Kannibalismus ohne Rückkehr eine imaginäre Grenze zwischen "Zivilisation" und "Barbarei". Denn der Menschenfresser bricht das vielleicht größte Tabu. Was in der christlichen Welt der abscheulichsten Sünden-Bündelung gleichkommt: Statt einer angemessenen Beerdigung das Vergreifen und Sich-Einverleiben eines anderen, menschlichen Körpers.

Ein posthumer Übergriff (wohl radikaler als Nekrophilie), der etwa im neuzeitlichen Abendland, wo man zwar symbolisch "Leib und Blut Christi" verzehrte und effektive Foltermethoden entwickelt hatte, genug Grauen erregte, um die schlimmsten Gemetzel unter den Eingeborenen Afrikas oder Südamerikas zu rechtfertigen.

Das Wort "Kannibale" wurde denn auch zu Beginn der Epoche der Conquistadoren geprägt. Mit dem Begriff "caniba" (ursprünglich "stark, tapfer, geschickt, klug") bezeichneten sich die Kariben - das Wort übernahm Christoph Columbus, als Ausdruck für "die menschenfressenden Stämme der Karibik". (Pfeifers Etymologisches Wörterbuch.)

"Sie fressen Menschen, wie ihr scheußliches Aussehen beweist . . ." - auch dieses Argument stammt vom berühmtesten Amerika-Entdecker, während seiner vierten Reise 1503 in Jamaica notiert. Der deutsche Ethnologe Erwin Frank zitierte es 1987 im Titel seiner noch immer aktuellen "Kritische(n) Überlegungen zu Zeugen und Quellen der Menschenfresserei", deren Lektüre eins zeigt: Kannibalen sind Angehörige einer Spezies, von der alle gehört haben, viele erzählten . . . und kaum anderes: "Menschenfresser waren und sind ein ,Jenseits-der-Grenze&grsquor;-Phänomen. Sie existieren immer nur dort, wo und nur solange wie es eine Grenze gibt zwischen der Welt der Berichterstatter und jener ganz anderen Welt, deren Unkenntnis die Hypothese von der möglichen Existenz des ganz und gar anderen, selbst des Undenkbaren permanent bestärkt."

Diese "ganz andere Welt" befand sich in Altertum und Mittelalter an den Rändern der scheibenförmigen Erde. Die Bewohner dieser, weit von Europa, Kleinasien und Nordafrika entfernten, unbekannten Gegenden nannte man "Erdrandsiedler". Plinius der Ältere hat sie im

1. Jahrhundert nach Christus im VII. Buch seiner Naturalis historia ausführlich beschrieben.

Es handelt sich hierbei um aus heutiger Perspektive äußerst sonderbare, um nicht zu sagen groteske Geschöpfe, die bis ins 16. Jahrhundert europäische Reiseberichte bevölkern sollten, deren Verfasser oft darauf bestanden, sie gesehen zu haben: Die Skiapoden zum Beispiel, die nur ein Bein mit einem äußerst großen Plattfuß besaßen, welchen sie, im Freien liegend, als Sonnenschirm benutzten. Oder die Astomi bzw. Apfelschmecker, die keinen Mund besaßen und sich nur vom Geruch der Äpfel ernährten - gab es keine, starben sie. Andere hatten so große Ohren, dass sie sich mit ihnen wie mit Decken umhüllen konnten, oder sie besaßen zwei Augenpaare, oder vier Arme, oder keinen Kopf und trugen das Gesicht auf der Brust, waren Zyklopen oder Zwerge.

Oberkörper von Löwen

Keine Frage, dass es auch Menschenfresser oder Anthropophagen unter der Erdrandsiedlern gab: neben solchen mit Hundeköpfen, sind die Donestren bemerkenswert, nicht nur, weil sie die Oberkörper von Löwen besaßen: "Die Donestren beispielsweise ließen den Reisenden nur allzu rasch vergessen, daß sie erst vom Bauche an abwärts menschliche Formen annahmen. Sie besaßen tadellose Manieren, und man konnte sich mit ihnen um so anregender unterhalten, als sie sämtliche Sprachen verstanden. Allerdings war ihre Freundlichkeit Schein. Denn kaum hatte der Zugereiste ausgeredet, aß ihn sein polyglotter Gesprächspartner auf. Hinterher vergoß er krokodilsgleich Tränen über sein Opfer." So der Kunsthistoriker Alexander Perrig, der 1987 im Rahmen einer Ringvorlesung an der Universität von Marburg/Lahn seinen Hörern die Erdrandsiedler präsentierte und in der Folge nicht nur zeigte, wie leicht die Begegnung mit fremden Sitten, Menschentypen, Tieren zur Erfindung monströser Wesen verleiten kann, sondern auch darauf zu sprechen kam, dass erst für

die Vertreter der christlichen Kirche die skurrilen, sicher heidnischen Wesen zum Ärgernis wurden.

Natürlich resultierte hieraus die (noch Ende des kolonisatorischen 19. Jahrhunderts wirksame) Aufforderung, zu ihnen zu fahren, ihr Land zu besetzen, sie zu unterwerfen und zu bekehren. Bis die Ränder der Erde platzten und verschwanden, weil die Erde eine Kugel wurde. Auch die fantastischen Wesen verschwanden, je mehr man die Meere und die Länder hinter dem Horizont besuchte: keine Erdrandsiedler mehr in Äthiopien, Indien oder Sibirien, keine Nixen und Meermönche auf dem Weg dorthin. Nur die Menschenfresser blieben.

Vielleicht, weil sie einmal Götter waren in Europa? Kronos, der seine Kinder verschlang, weil er Angst hatte, sie könnten ihm die Herrschaft entreißen (was Zeus schließlich tat) ist nur ein Beispiel aus der griechischen Mythologie. Die vielleicht Sigmund Freud in der Annahme bestärkt hat, den Kannibalismus als einen der ältesten "Triebwünsche" zu deuten - vergleichbar Inzest und Mordlust. Was die augenscheinliche Faszination erklärt, welche die Vorstellung des Menschenfressens ausübt.

"Ich rieche, rieche Menschenfleisch . . ." - schon Kinder begegnen dem Menschenfresser in Märchen oder Kasperlstücken, in Witzen, Gruselfilmen oder Ausdrücken wie "hab dich zum Fressen gern". Er ist eine populäre Figur. Zumal sich (wie beim Mörder) niemand sicher sein kann, es ihm nicht einmal gleichtun zu müssen: zu viele Erzählungen kennt man in wohl jedem Land von Hungersnöten, die vereinzelt Menschen gezwungen haben sollen, ihre toten Freunde, Bekannten, Artgenossen zu vertilgen, um selbst zu überleben. Hiervon sei jetzt nicht weiter die Rede. Sie haben es ja nicht gern getan, wahrscheinlich.

Der veritable Menschenfresser hingegen genießt - oder gedenkt. Erwin Frank, der die Quellen seiner Sichtung studierte, hat zwei "in wesentlichen Zügen gegenläufige" Typen festgestellt: den "tierischen" und den "menschlichen" Kannibalen. Während der "menschliche" Anthropophage aus ethisch wertvollen, religiösen Motiven Menschen, zumeist Verwandte "in seinem Bauch beerdigt" und dabei "Tränen vergießt" (erkennen Sie das Attribut der Domestren?), ist der "tierische Kannibale ein Jeder-gegen-jeden-Typ. Er tötet aus roher Gier, frißt das Menschenfleisch auch schon mal roh, leckt das Blut seiner Opfer vom Boden und läßt selbst das Fett nicht verkommen, das aus den röstenden Gliedmaßen ins Feuer zu tropfen droht. Seine animalische Kulturlosigkeit zeigt sich paradoxerweise häufig gerade in der Verfeinerung seiner kannibalischen Speisesitten. Er kennt ,Lieblingsgerichte&grsquor;, seien dies nun Hirn, Handteller, Frauenbrüste oder Föten. Er mästet und prüft den Fettgehalt, bevor er schlachtet. Er hält sich lebende Speisekammern und zeugt persönlich zukünftige Braten."

Der simple Grund: ihm schmeckt Menschenfleisch (angeblich besser als Schwein). Frank schreibt, dass er diese beiden Typen, in den verschiedensten Variationen und Mischformen, in allen untersuchten Berichten begegnet sei. Und dass ihnen jeweils ein bestimmter Forschertyp entspreche, krass definierte Parallele: die "Entdecker" der "tierischen" Kannibalen haben sich des öfteren als "ethnozentristische Rassisten" herausgestellt, während philanthropische Forscher in der Regel "menschliche" Menschenfresser trafen. Man fand nichts, als was man erwartete. Und das wiederum, wurde nicht hinterfragt. Zumal, wenn es mit soviel Vorteilen verknüpft war wie die Entdeckung von Menschenfressern: Bei Kannibalen musste niemand Rücksicht walten lassen, wenn es daran ging, sie zu überfallen, ihr Land zu erobern und die Grenze zur "anderen, fremden Welt" weiter hinauszuschieben . . .

Kannibalische Ideen

Jedenfalls haben viele kannibalischen Stämme, heißt es, den Genuss von Menschenfleisch schlagartig eingestellt, nachdem sie von westlichen Reisenden, Missionaren, Ethnologen u. a. besucht wurden. Was letztere nie in Erstaunen versetzte. Vielleicht, weil sie den Großteil der Kannibalen quasi in ihren Köpfen mit sich herumtrugen. Was übrigens auch auf der anderen Seite der Fall war. So hielt sich bei Afrikanern früherer Jahrhunderte etwa hartnäckig das Gerücht, die Weißen brauchen so viele Sklaven, weil sie sie essen. Im Osten Perus glaubte man zeitweilig, die weißen Eindringlinge verarbeiteten Einheimische zu Flugzeugtreibstoff.

Naturgemäß wurde den "wilden" Kannibalen von seiten der Europäer auch sexuelle Ausschweifung nachgesagt. Alexander von Humboldt, der aufgeklärte Weltreisende, wusste (und glaubte) vom Hörensagen etwa von einem Indianerhäuptling, der einen Harem mit sich führte, dessen Frauen zugleich sein Fleischvorrat gewesen sein sollten. Dass seine Nachfahren derlei Gebräuche nicht pflegten, erklärt Humboldt mit ihrer Konvertierung. Nichtsdestotrotz, die Vorstellung pflanzte sich fort und tauchte in weiteren Reisegeschichten auf.

"Mythos Menschenfresser" - die Prähistorikern Heidi Peter-Röcher zeigt im gleichnamigen Buch, dass der Vorwurf kannibalischer Sitten auch während der langen Zeit der "Hexenverfolgung" eine große Rolle spielte. Sie schreibt an anderer Stelle: "Menschenopfer und Kannibalismus gehören einfach zum Stil einer unmenschlichen Verschwörung." Was umgekehrt jede und jeden, der in Verdacht des Menschenfressens gestellt wurde, als quasi vogelfreien Feind deklarierte.

Einer, der schon Mitte des 16. Jahrhunderts versuchte, den nicht zuletzt von Eroberungslüsten getrübten Blick auf die Völker der "Neuen Welt" zu klären, war der Philosoph Michel de Montaigne. In seinem berühmten Essay "Von den Menschenfressern" kommt er zu dem heute bewiesenen Schluss, dass die Grausamkeit europäischer Kolonisatoren unerreicht blieb.

Nun, für alles, zuletzt, kann der Kannibale nichts. Er entsprang - nicht immer, aber meistens - unseren Köpfen. Und wurde missbraucht, als Mittel zur Macht. Mag es am Amazonas Indianer gegeben haben (oder, immer weniger: geben), die die Knochenasche ihrer toten Verwandten trinken, wie wir beim Abendmahl das symbolische Blut Christi, mag es vereinzelt Stämme gegeben haben, die sich kulinarisch an den Körpern ihrer Gefangenen oder toten Lieben labten - die Heimat des Menschenfressers, wie wir ihn uns vorstellen, ist mitten unter uns.

Er ist nur: Metapher. Ein Bild, eine Figur, die, klar und deutlich, die Sinne anregend von Ungeheurem erzählt. Beispielsweise von ungeheuerlichen bis gewalttätigen Umgangsformen innerhalb der Grenzen unserer "Welt", d. h. Gesellschaft, Kultur. H. C. Artmann, der als Dichter auch mit Menschenfresser vertrauten Umgang pflegte (bzw. sie zähmte), ließ sie in diesem Sinn in Erscheinung treten. Allein sein Rezeptvorschlag "Bäckergesellende in Jägersauce" (aus: Der handkolorierte Menschenfresser) taugt - trotz des Nachsatzes: "Schmeckt gut!" - auch als Hinweis auf die Zurichtung (sog. Anpassung) junger Menschen fürs Berufsleben.

Eine in die Abgründe der Liebe führende Überlegung verfolgt Novalis, aphoristisch: "Über die Geschlechtslust - die Sehnsucht nach fleischlicher Berührung - das Wohlgefallen an nackenden Menschenleibern. Sollt' es ein verstecker Appetit nach Menschenfleisch seyn?". Wer weiß. Jedenfalls scheint sicher: der wahre Menschenfresser steht neben uns. Er trägt einen Spiegel vorm Bauch. Begrüßen wir ihn ruhig.

Literatur:

Heidi Peter-Röcher: Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen, München 1998. Der Aufsatz von Erwin Frank erschien in: H. P. Duerr: Authentizität und Betrug in der Ethnologie, Frankfurt/Main 1987.

Freitag, 15. Dezember 2000

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