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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Designer in Teufels Küche

Unangenehme Wahrheiten und populäre Irrtümer über moderne Ernährung / Von René Freund

Ich war letztlich eingeladen, in Deutschland einen Vortrag zu halten. Zweimal täglich gab es in unserem Seminarhotel warmes Essen in einem riesigen, aber mit seinen Korbmöbeln und Pflanzen gemütlich wirkenden Speisesaal. Das Büfett sah verlockend aus. In halb geöffneten gläsernen Vitrinen, von warmem Licht umspielt, dampften die Speisen vor sich hin. Glänzend polierte Schöpfer, Gabeln und Löffel lagen bereit, auf dass man sich bedienen könne: ein Stück von der gebratenen Gans hier; ein wenig vom Kalbsgulasch da; gegrillte Putenbrust für die Light-Liebhaber; Spätzle, Knödel, Reis, Saucen; runde Karöttchen, Fisolen im Speckhemd, Erbsen, Broccoli. Und erst die vielen gesunden Salate an der "Vitamin-Bar"!

Das Essen sah hervorragend aus, und ich kann nicht einmal sagen, dass es schlecht schmeckte. Ich hatte nur das unbestimmte Gefühl, keine Nahrung zu mir zu nehmen, jedenfalls suggerierte mir das mein vielleicht doch noch nicht völlig irregeleiteter Körper. Dieses angenehme Gefühl, das sich üblicherweise bei den ersten Bissen einer guten Speise in einem freudigen Glucksen und Sprudeln aller zur Verdauung nötigen Körpersäfte bemerkbar macht, blieb diesfalls völlig aus. Nach dem Essen war ich satt. Nein, satt ist der falsche Ausdruck. Nach dem Essen hatte ich keinen Hunger mehr.

Am zweiten Tag meines Aufenthalts merkte ich, dass das Essen, obwohl es immer etwas anderes gab, immer gleich schmeckte. Das lag wohl in erster Linie an diesen Einheitssaucen. Da gab es die helle Einheitssauce (für Pute, Huhn und Faschiertes) und die dunkle Einheitssauce (für Stroganoff, gebratene Ente und Schweinebraten). Ich aß etwas, was "Filet von der Freilandpute mit Natur-Wildreis" hieß. Das klang fantastisch, erweckte in mir aber den Verdacht, dass die Natürlichkeit der Speisen proportional zu der Häufigkeit des Vorkommens von "Natürlichkeit" in ihrer Bezeichnung abnimmt: Je unechter das Essen, desto falscher sein Name. Nach dem Essen sah ich "Big Brother" im Fernsehen, und die Parallele zum Essen fiel mir erstmals auf. Die Big-Brotherisierung der Ernährung, das ist die hochgradige Künstlichkeit, mit der versucht wird, Natürlichkeit zu simulieren, weil das "die Leute ja wollen". Egal, ob Taxi Orange aus dem Fernsehstudio oder Ente à l'Orange aus der Tiefkühlpackung: Hauptsache naturident.

Am dritten Tag begann ich zu ahnen, dass diese dicken, glänzenden, wie lackiert wirkenden Einheitssaucen, die den Namen Tunken wirklich verdienen, aus Teufels Küche kommen müssen. Sie machten irgendwie süchtig, obwohl sie nicht wirklich gut schmeckten. Aber es war unmöglich, die restliche Sauce nicht mit dem restlichen Reis aufzutunken. Am letzten Tag schmeckte mir auch das Frühstück nicht mehr. Diese Semmeln sahen zwar aus wie Semmeln und schmeckten wie Semmeln, aber es waren keine echten Semmeln. Heute weiß ich, warum - dank Udo Pollmer und Susanne Warmuth, die in ihrem "Lexikon der populären Ernährungsirrtümer" auch über das sogenannte "Convenience Food" schreiben, von dem ich mich damals drei Tage lang ernährt hatte. Am Beispiel Brot und Gebäck: 98 Prozent der Bäcker, so Pollmer und Warmuth, produzieren ihre Waren auf der Basis von Fertigmischungen, und die sind "dank der zugesetzten Feinchemikalien ziemlich idiotensicher". Ein paar Beispiele: "Mixturen aus Emulgatoren, die Teige maschinenfreundlich und voluminös machen; Schimmelpilzenzyme, die Stärke abbauen oder den Teig erweichen; Phosphate, die die Porengröße steuern; Lipoxygenasen, die Toastbrot weiß erstrahlen lassen; Färbemittel, die hellen Mehlen den Vollkorn-Look verpassen; Bräunungsvorläufer, die für knusprige Rösche sorgen, und nicht zuletzt Aromapräkursoren, die den appetitlichen Duft in die Backstube zaubern."

Überall Instant-Gastronomie

Einige Wochen später war ich eingeladen, an einem Kongress in Tirol teilzunehmen. Zweimal täglich gab es warmes Essen in einem großen, aber mit seinen Korbmöbeln und Pflanzen gemütlich wirkenden Speisesaal. Das Büfett sah verlockend aus. In halb geöffneten gläsernen Vitrinen, von warmem Licht umspielt, dampften die Speisen vor sich hin . . . Ich will die Sache abkürzen: Es gab, im gleichen Ambiente wie in Norddeutschland, die gleichen Speisen, Zuspeisen und Nachspeisen.

Seit damals habe ich einen anhaltenden Widerwillen gegen diese neuartige Instant-Gastronomie, die immer mehr auch in kleineren Betrieben eingesetzt wird: Saucen, Zutaten, Tiefkühlgemüse, ja ganze Speisen werden von großen Anbietern fix fertig geliefert (als Pulver, Tiefkühlpaket, Konserve) und vom Anwender in der Mikrowelle aufgewärmt. Die Instantgastronomie schafft es, systematisch alle Lebensmittel so zu entfremden, dass der Körper sie kaum noch als solche wiedererkennt, gleichzeitig aber zu suggerieren, dass alles ganz frisch aus dem Garten oder Großmutters Backrohr und furchtbar "natürlich" sei. Der Trend zu Convenience-Food beschränkt sich längst nicht mehr auf Profi-Betriebe. In den Vereinigten Staaten wird in 60 Prozent der Haushalte nicht mehr gekocht, in Deutschland liegt der Anteil der Haushalte, in denen Essen nicht mehr zubereitet, sondern ein Fertigprodukt erwärmt wird, bei 40 Prozent.

"Der Mensch ist, was er isst", bemerkte der Philosoph Ludwig Feuerbach. Stimmt. Aber der Mensch isst auch, je nachdem, wie er ist. Und der moderne Mensch hat das Management der wichtigsten Ereignisse des Lebens an die Experten delegiert. Der kleine Mensch kommt im Krankenhaus auf die Welt - und der alte Mensch stirbt im Krankenhaus, jeweils unter medizinischer Aufsicht. Was dazwischen liegt, beginnt nun ebenfalls, ganz langsam in die fürsorglichen Hände der Wissenschaft zu gelangen. Der lebenserhaltende Trieb der Nahrungsaufnahme wurde zunehmend der Reglementierung durch Experten unterworfen. Kein Schulkind, das nicht zwischen so genannten "gesunden" und "ungesunden" Nahrungsmitteln zu unterscheiden wüsste, keine besorgten Eltern, die nicht den Empfehlungen der Ärzte folgen und auf die wichtigen Ergänzungs- und Zusatzstoffe in der Nahrung achten würden.

Gleichzeitig essen wir so viel Junk Food wie nie zuvor. Wenn die Konsumenten wüssten, welches chemische Arsenal in vermeintlich unverdächtigen Produkten wie zum Beispiel einem "Original Landrauchschinken", einem Fruchtsahnejogurt oder einer Tiefkühlpizza enthalten ist, es würde ihnen ziemlich der Appetit vergehen. Denn nicht immer ist die Kennzeichnung so eindeutig wie bei jenem Würstelstand in Frankfurt, bei dem ich das für mich verblüffende Angebot des Tages las: "DM 4,80: Bockwurst mit Brot, Senf und Phosphat".

Dass wir jede Menge ungesundes Zeug in uns hinein futtern, bedeutet noch lange nicht, dass wir uns gesund ernähren, wenn wir die so genannten gesunden Lebensmittel konsumieren. Tatsächlich ist es äußerst fragwürdig, ob die Jogurtcreme in der umweltfeindlichen Miniverpackung so wertvoll wie ein kleines Steak ist, und ob das künstlich gesüßte und chemisch aromatisierte Getränk aus Molke (einem weitgehend unverdaulichen Abfallprodukt aus der Milchproduktion) wirklich Energie für einen ganzen Tag gibt. Ganze Heerscharen von Food-Designern, Marketing-Experten und bestenfalls durch ihre eigene Naivität korrumpierten Journalisten arbeiten in industriellen Maßstäben daran, Wellness-Food for Power-Life zu verkaufen - und es wirkt. Wir bilden uns ein, die "Fit-Diät" aus den einschlägigen bunten Magazinen würde uns zu einem erfolgreichen Tag verhelfen, und tatsächlich sieht man mittags in den Großstädten immer mehr verbissene Menschen an Energieriegeln herumkauen oder mit Todesverachtung Müslibrei hinunterwürgen. Es sind im übrigen dieselben, die abends joggend ihre Runden drehen, mit diesem Kindermörder-Lächeln auf den Lippen.

Wer in den Medien über die Jahre verfolgt hat, was alles über Essen und "gesunde" Ernährung verbreitet wurde, der weiß, dass sich die diesbezüglichen Moden schnell ändern: Einmal gilt Cholesterin als Killer Nummer 1, dann wieder als Schutzstoff für die Gefäße; im Jahr darauf erzählt man auf jeder Party vom "guten" und vom "bösen" Cholesterin. Fett soll zwar vermieden werden, und doch ist das Funktionieren des Körpers davon abhängig. Galten eine Zeit lang Fleisch und Salat als Schlankmacher, so sind es heute Teigwaren und Kartoffeln. Galt vor 20 Jahren die Margarine als Nonplusultra der vernünftigen Ernährung, so wird sie heute als eine mögliche Ursache für Herzinfarkt bezeichnet, wogegen die Butter wieder als gesund angepriesen wird.

Häufige Missverständnisse

Allen, die nach einem witzigen Ratgeber im Labyrinth der Gesundheitstipps suchen, sei nochmals das neue Werk von Udo Pollmer und Susanne Warmuth empfohlen: "Das Lexikon der populären Ernährungsirrtümer" räumt mit "Missverständnissen, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker" auf. Pollmer und Warmuth sind erfrischend antiwissenschaftlich eingestellt - mit dem Vorteil, nebenbei Wissenschaftler zu sein. Susanne Warmuth ist gelernte Biologin, Udo Pollmer seit 1995 wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Instituts für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften. Als anarchistische Experten ihres Fachs sind sie in der Lage, alle möglichen Studien, die zum Thema Gesundheit und Ernährung gemacht wurden, nicht nur aufzutreiben, sondern auch richtig zu lesen bzw. deren Machart als völlig irrelevant oder gar unwissenschaftlich zu entlarven. Und so stellen die beiden Autoren, mit untadeligen Quellenangaben und einer großen Portion Humor gewappnet, so ziemlich alle Dogmen der modernen Ernährungslehren auf den Kopf, ohne deshalb Gegendogmen zu konstruieren.

Vergnüglich und einleuchtend sind zum Beispiel ihre Argumentationen, wonach Diäten dick machen, Abnehmen ungesund ist, leichtes Übergewicht das Leben verlängert oder die viel gefeierten Antioxidanzien zu schlimmem oxidativem Stress führen können. Das ganze große Trara um Cholesterin ("gutes und böses") oder Fettsäuren (gesättigte, mehrfach ungesättigte usw. . . .) wird ebenso als Schwindel entlarvt wie der Irrglaube, dass Kalbsleberwurst Kalbsleber enthalten muss oder dass das Reinheitsgebot beim deutschen Bier etwas anderes als "Heuchelei" wäre. Neben den indischen heiligen Kühen, deren Verzehr gigantische Hungersnöte zur Folge hätte, wie die Autoren überzeugend demonstrieren, kommen in dem Buch aber auch die heiligen Kühe der Ernährungswissenschaft vor: Die neuen so genannten probiotischen Jogurts beeinträchtigen die natürliche Darmflora; Vitamin C hilft weder vorbeugend noch sonst gegen Erkältungen; und so genannte "Raucher-Vitamine" wie Beta-Karotin erhöhen die Krebsrate bei Rauchern. Pollmer und Warmuth zitieren immer wieder groß angelegte Studien, die ansonsten kaum in die Öffentlichkeit gelangen - weil niemand an ihnen verdienen kann.

Warum nun all dieser Schwindel in der Lebensmittelindustrie und Ernährungswissenschaft? Die Erklärung von Pollmer/Warmuth ist ebenso einfach wie einleuchtend: "Eine Krankheit gilt dann als ernährungsabhängig, wenn die Mehrzahl der Experten, die auf der Grundlage der behaupteten Zusammenhänge ihr Geld verdienen, diese Ansicht teilen. Aus demselben Grunde herrscht auf Kongressen von Psychologen Einigkeit darüber, dass die Mehrzahl aller Krankheiten psychisch bedingt ist, auf Veranstaltungen von Mikrobiologen hört man, dass nicht nur Grippe und Aids, sondern auch Diabetes, Arteriosklerose und Herzinfarkt die Folgen von Infekten sind, während die Umweltmediziner überzeugend verkünden, eine wachsende Zahl von Krankheiten sei umweltbedingt."

Was also tun, um der Big Brotherisierung der Ernährung zu entgehen? Die Lösung ist ebenso einfach wie schwierig: Nicht allzu viel über das Essen nachdenken. Denn ein Mensch, so Pollmer und Warmuth, "der jeden Bissen unter den Aspekten vermeintlich gesunder Ernährung zerkaut, befindet sich in der gleichen Situation wie einer, der Sexualität in erster Linie unter orthopädischen Gesichtspunkten sieht und vorsorglich seine Wirbelsäule entlasten möchte". Ob Schlaf, Sex oder Essen - wer zu viel darüber nachdenkt, bekommt Schwierigkeiten damit. Vertrauen wir also nur auf eines: Guten Appetit!

Udo Pollmer/Susanne Warmuth: Lexikon der populären Ernährungsirrtümer. Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten. Eichborn 2000, 361 Seiten.

Freitag, 15. Dezember 2000

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