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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Ein Mensch, der gerne isst

Christoph Wagner, Gastrosoph und Autor
Von René Freund

Dies ist meine erste b'soffene Geschichte. Üblicherweise trinke ich ja weder unter Tags noch bei der Arbeit, aber diesmal machte ich gleich eine doppelte Ausnahme. Wie soll es auch anders kommen, wenn man ein Interview mit Österreichs bekanntestem Gastro-Journalisten macht? Statt Wasser oder Tee gibt es also Weißwein. Und statt meine geplante erste Frage zu stellen ("Gibt es eigentlich ein Medium in Österreich, das ohne Ihr Zutun erscheint?"), gebe ich mir die erste Blöße: "Das ist aber kein Veltliner!" Ist natürlich schon ein Veltliner. Aber kein gewöhnlicher, wie der Connaisseur Wagner erklärt, weil "speziell ausgebaut, eines der Spitzenprodukte vom Jurtschitsch".

Christoph Wagner sagt das ganz ohne nasalen Ton und gerunzelter Stirn. Überhaupt zeigt er nichts von der oberlehrerhaften Ernsthaftigkeit, die einem beim rasant sich vermehrenden Typus des "Feinschmeckers" so oft auf die Nerven geht. Er strahlt vielmehr die barocke Gemütlichkeit eines Menschen aus, der gerne isst und trinkt und nebenbei auch noch davon lebt.

Ein bisschen arbeitet Christoph Wagner dazwischen auch. Schließlich könnte man diese ganze Zeitungsseite allein mit der Liste seiner Bücher füllen - vom Lokalführer über die Biermonographie, vom Kochbuch über den teuren Fotoband bis hin zur Stephen-King-Übersetzung reicht das Menü. "Über hundert Bücher werden es jetzt schon sein. Jeder meiner Verleger wollte, dass ich das hundertste Buch bei ihm mache. Und jeder, bei dem ich es dann nicht mache, ist böse. Also habe ich mich stillheimlich drübergeschummelt."

Sehr viel Selbstdisziplin

Auflagenmäßig müsste er die Million schon übersprungen haben, aber so genau weiß er das nicht. Allein das Plachutta-Kochbuch "Die gute Küche" sollte jedenfalls in der Nähe der 300.000 verkauften Exemplare liegen. "Es ist nicht jedermanns Sache, Bücher zu schreiben", sagt Wagner. "Da gehört sehr viel Selbstdisziplin dazu. Und man darf das Wort Schreibhemmung eher nicht kennen." Wagner kennt es nicht. Er ist nicht nur Vielschreiber, sondern auch Schnellschreiber: "Meist fange ich um 9 an und schreibe bis 19 Uhr. Zu Mittag gibt's nur ein Wurstsemmerl. Manchmal lege ich auch in der Nacht eine Schicht ein, so zwischen 11 und

3 Uhr, wenn etwas dringend fertig werden muss." Ein Drittel des Jahres befindet sich Wagner auf Reisen. Der überzeugte Führerschein-muffel fährt mit dem Zug durch die Lande - und isst. Der Laptop ist immer dabei. "Bei klassischer Degustationsprosa bin ich sehr schnell. Wenn ich gut drauf bin, schreibe ich fünf bis zehn Restaurantkritiken in der Stunde. Bei meiner ,profil´-Kolumne nehme ich mir einen Tag lang Zeit zum Recherchieren, Interviewen und Schreiben. Wenn ich an einem schönen Essayband schreibe, wo ich auch literarische Ansprüche stelle, schreibe ich 5.000, vielleicht 8.000 Anschläge pro Tag. Aber bei reinen Info-Geschichten schaffe ich 20.000 bis 25.000 Anschläge." Und das sind, für Branchenfremde übersetzt, etwa 15 bis 20 normale Manuskriptseiten. Dass es Wagner gelingt, bei dieser Quantität jene Qualität zu halten, die man von ihm gewöhnt ist, grenzt an ein Wunder. Es ist ein bisschen so, als würde eine Küche mit dem Output von MacDonalds zweieinhalb Hauben bekommen.

Es kommt aber auch vor, dass Wagner nicht arbeitet: "Am Sonntag mache ich blau. Da koche ich am Vormittag für meine Frau und meine beiden Töchter, schließlich muss ich ja die ganzen Rezepte für meine Bücher vorher ausprobieren." Wagner, Linzer des Jahrgangs 1954, verbringt auch seine freien Tage am liebsten im 15. Bezirk: "Ich bin ein leidenschaftlicher Fünfhauser. Manche sagen zwar, so lange ich hier wohne, kann ich's zu nichts gebracht haben. Aber ich habe drei U-Bahnen und vier Lieblingslokale in Geh-Nähe. Den Altwienerhof, den Quell, Vikerl's Lokal und den Chinesen Tsing Tao." Und was bemerken Sie von der angeblichen "Überfremdung" des 15. Bezirks? Wagner: "Meine Töchter gehen hier in die Schule und empfinden es als Bereicherung, wenn da eine Inderin und eine Türkin und eine Polin sind. Die sprechen alle perfekt Deutsch. Wir sind seit 20 Jahren hier und haben noch nie Probleme gehabt. Wenn es Leute gibt, für die man sich genieren muss, dann sind es leider meistens die Inländer. Ich habe übrigens auch noch nie erlebt, dass jemand Lämmer im Hof brät. Wir braten die Lämmer selbst."

Folgerichtig wird im Hause Wagner eher selbst gekocht als ausgegangen. Das liegt zum Teil auch daran, dass in den Lokalen, die Wagner einmal publizistisch unter seine Fittiche nimmt, bald darauf keine Tische mehr frei sind: "Ich muss mich immer ein bisserl überwinden, ein gutes Lokal in meiner Nähe publik zu machen. Wenn ein Lokal gut ist, schreibt man das natürlich gern. Aber früher hab ich zum Beispiel beim Vikerl nie angerufen, wenn ich auf ein Bier und ein Gulasch gehen wollte. Und jetzt geht ohne Anruf nichts mehr. So gesehen ein Eigentor. Aber ich freue mich schon auf die Zeit, wo ich retiriert sein werde. Da werd' ich mich dann nur noch zwischen diesen vier Lokalen bewegen."

Sich ganz zu "retirieren" kann sich Wagner freilich nicht vorstellen. Ein bisschen weniger schreiben vielleicht. Kurzgeschichten oder einen Roman: "Den Roman gibt's im Konstrukt, der muss nur noch aufgefüllt werden." Ein Krimi? "Mehr so eine Art kulinarischer Bildungsroman."

Seit den frühen 80er Jahren dreht sich bei Christoph Wagner alles um das Schreiben über die Aufnahme von Nahrungsmitteln. Geschrieben hat er schon immer: "Vielleicht habe ich sogar eine Art Schreibzwang. Schon in der Volksschule habe ich Theaterstücke für das Weihnachtsmärchen verfasst. Dann habe ich eine Schülerzeitung gemacht - mit 13. Eigentlich kann man sagen, dass ich, seit ich 13 bin, immer irgendwo Chefredakteur war." Beim "Extrablatt" zum Beispiel Chef der Kulturredaktion. Beim Relaunch-Versuch der "AZ" arbeitete er als stellvertretender Chefredakteur der damals von Robert Hochner geleiteten SP-Zeitung. Als eingefleischten Sozialisten sieht er sich trotz "AZ"-Vergangenheit nicht: "Ich bin kein Dogmatiker. Eine weltanschauliche Grundhaltung habe ich aber schon." In drei Schlagworten gesagt? "Ich bin für die maximale Entwicklungsfreiheit des Einzelnen bei gleichzeitiger größtmöglicher Toleranz für den jeweils anderen. Aber mir ist schon klar, dass ich dafür keinen Pulitzer-Preis krieg'."

Später erkannte Wagner, dass das tagesjournalistische Geschäft ihm nicht so liegt. Er wechselte zum damaligen Medienkonzern der Fellner-Brüder und stieg als Chefredakteur von "Gault Millau Österreich" in den kulinarisch-publizistischen Olymp auf: "Damals habe ich begonnen, mein eigenes 3-Säulen-Programm zu entwickeln: erstens die klassische Restaurantkritik; zweitens kulturhistorische Bücher rund um Kulinarik und Kochbücher; und drittens mache ich gelegentlich ein bisserl Werbung. Da kann man in zwei Tagen manchmal so viel verdienen wie mit einem ganzen Buch."

Doppelter Zwilling

Das dritte Achtel ist mittlerweile längst eingeschenkt und das Licht wird langsam schummrig im gepflegten Chaos von Wagners Büro. Mir fallen die Fragen, die ich alle stellen wollte, nicht mehr ein. "Ja, dieser Wein hat 15 Prozent Alk. Bei mir müssen S' schon ein bisserl was aushalten." Ein freundlicher Anarchismus im Gespräch macht sich breit. Wagners rhetorische Sprunghaftigkeit können Astro-Freaks sich mühelos mit seinem Sternzeichen erklären: "Ich bin doppelter Zwilling."

Zwillinge, sagt meine Mutter, sind kontaktfreudig. Machen Sie oft Einladungen und kochen Sie für Gäste? "Ich koche sehr gerne, aber für Freunde nicht so oft, weil es ein wahnsinniger Aufwand ist. Ich habe ja einen Ruf zu verlieren. Es sagt zwar jeder immer, tu dir nichts an, aber wenn's dann nicht gut ist, gehen sie raus und sagen: Na, der schreibt auch mehr als er kochen kann."

Ich möchte wissen, was es beim letzten Gäste-Diner im Hause Wagner gegeben hat. Wagner wirft den Computer an: "Ich habe alles gespeichert, inklusive Gästeliste. Ich muss ja aufpassen, mich nicht zu wiederholen. Also: Als Entrée gab es Clafoutis aux olives, das ist eine Spezialität aus der Provence, eigentlich ein Kirschkuchen, nur mit Oliven statt mit Kirschen. Dann habe ich Prager Schinkenschnecken gekocht, also Schnecken mit Prager Schinken in einem Pastetchen. Dann gab es Tagliatelle mit Fröschen und Kaviar, dann Stubenküken in rotem Krimsekt mit Maisdukaten und als Käsegang Erdäpfel mit Gorgonzola. Und als Nachspeise Tiramisu. Das haben meine Töchter gemacht, weil Desserts interessieren mich nicht wirklich. Wenn ich in Deutschland unterwegs bin, dann sagen die Leute immer: Ah, der Herr Wagner aus dem Mehlspeisland. Wie viele Torten sind in diesen Bauch eingeflossen? Und die Wahrheit ist: fast keine."

Mindestens einmal pro Woche geht Wagner professionell essen. Es gibt in Österreich tatsächlich noch immer Lokale, in denen er nicht war. "Es existieren hierzulande etwa hunderttausend Lokale. Die meisten davon sind aber welche, in die ich nie gehen werde. Aber das Niveau steigt eher. Das hängt auch mit der kulinarischen Publizistik zusammen. Jedes Bezirksjournal hält sich einen eigenen Gourmet - metaphorisch gesprochen. Und das ist gut so, weil das allgemeine Niveau steigt. Jedes Land hat fünf Lokale, in denen man um sehr viel Geld sehr gut essen kann. Aber die kulinarische Qualität eines Landes kann man nur an der Breite der gebotenen Qualität messen."

Und wie ist das, wenn ein Gourmet-Papst wie er ein Lokal betritt? Bekreuzigen sich die Kellner und kommen die Köche zum Tisch gerobbt? "Wenn man mich erkennt, ist es meistens so, dass die Leute die Nerven schmeißen. Ich esse meistens nicht besser, sondern schlechter als die anderen. Oder ich muss endlos lange warten. Da hat mir eine sehr gute Köchin ein Jahr nach meinem ersten Besuch eine typische Geschichte gestanden. Wir hatten damals über eine Stunde auf einen Waller mit Rotweinnudeln gewartet. Sie hat später gesagt, dass sie die Rotweinnudeln sechsmal gemacht hat, und erst beim siebten Mal waren sie so, dass sie sie servieren ließ. Solche Dinge passieren mir leider oft. Dafür habe ich ein Privileg, das ich mit meinem Kollegen Siebeck und ein paar anderen teile: Dass wir nämlich zu großen Küchenchefs so etwas wie eine Freundschaft oder ein Verhältnis gegenseitiger Wertschätzung entwickelt haben. Zum Beispiel der Jörg Wörther. Ich hatte letztlich das Vergnügen, mit dem von ihm vergötterten Eckart Witzigmann gemeinsam beim Wörther zu tafeln. Der Wörther kocht immer sehr gut, und für mich vielleicht noch ein bisserl besser, und für den Witzigmann noch ein bisserl besser. Das hat sich multipliziert. Ich muss sagen, so ein gutes Essen habe ich noch nie gehabt."

Mit Haut oder ohne?

Gutes Essen muss für Wagner aber nicht notwendigerweise teuer sein. Nach seinem Lieblingsgericht gefragt, zögert er nicht lange: "Was ich wirklich gerne esse, ist ein Backhendel." Zwischenfrage: Mit Haut oder ohne? "Klassisch ist natürlich mit Haut, aus Kaloriengründen ess ich's aber auch ohne. So ein Backhendel mit einem Erdäpfelsalat verrät auch einiges über eine Küche. Man kann etwas über das Hendel sagen, also über die Produktbehandlung und den Einkauf. Man erfährt alles über die Panier, die Qualität der verwendeten Brösel, ob mit Butterschmalz, Schweineschmalz oder Fritierfett gearbeitet wird."

Der Wein neigt sich dem Ende zu. Statt langer Fragen empfiehlt sich der (für den Reporter) kraftsparende Word-Rap. Also: Foie gras aux truffes oder Spaghetti aglio & olio?

"Ich bin sicher eher Italiener als Franzose. Aber würde man mir die Gelegenheit geben, auch China dazuzunehmen, wäre ich Chinese. Aber auch die altösterreichische Küche ist ungeheuer faszinierend. Mit der Ostöffnung entsteht da jetzt vielleicht wieder etwas Neues."

Piemont oder Bordeaux?

"Burgund!"

Vergeht Ihnen manchmal der Appetit?

"Ja. Meistens passiert das auf sogenannten Fressreisen. Da nimmt man sich für zwei Wochen einen gewissen Landstrich vor und frisst sich planquadratmäßig durch. Zwei Tage lang ist das wunderschön, nach drei Tagen denkt man sich, mein Gott, jetzt einmal eine Mahlzeit auslassen wäre schon super, und nach einer Woche oder zwei kann das schon zu ernsthaften Problemen führen. Ich werde gegen Ende so einer Reise immer weniger streng, weil ich mir denke, die Gastronomen können ja nichts dafür, dass ich nichts mehr essen will. Zu Hause faste ich dann drei Tage. Dann hab' ich wieder Hunger und es geht von vorne los."

Ein mittelmäßig betrunkener Reporter bedankt sich für das Gespräch und macht sich auf den Weg. Wie war das mit den vier Lokalen in Geh-Nähe? Ein Gulasch wäre jetzt gut. Oder Fisch. Oder Lamm. Oder Wild. Am liebsten aber ein Backhendel. Mit Haut.

Freitag, 26. Mai 2000

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