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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Zur Geschichte der Eßkultur

Zurück zu den Fingern

Von Hilde Weiss



Andere Zeiten, andere Sitten, auch bei Eßkultur und Tischmanieren. Nicht immer ist mit Messer und Gabel gegessen worden. Und bis heute hat diese Sitte nicht alle Kulturen erfaßt. Sie ist,
ganz im Gegenteil, stark rückläufig, denn das Zulangen mit den Fingern ist weltweit wieder groß im Kommen. Ein Grund dafür ist der überhandnehmende Konsum von Fast und Junk food, der die Kunst, mit
Messer und Gabel halbwegs elegant (oder zumindest zweckmäßig) zu hantieren, überflüssig macht. Die Zahlen sprechen für sich: Der Großteil der Menschheit ißt vorwiegend mit den Fingern, 1,2 Milliarden
Menschen verwenden Stäbchen, und nur mehr 500 Millionen Menschen nehmen weltweit noch regelmäßig Messer und Gabel zu Hilfe. Tendenz: rapide fallend. Historisch betrachtet hat das Speisen mit Messer
und Gabel eine viel kürzere Tradition als man glauben möchte. Die Geschichte des Eßbestecks, vor allem die Geschichte der Gabel, ist erstaunlich kurz.

Vorläufer von Messer und Gabeln gab es natürlich seit Menschengedenken: Scharfe Klingen zum Zerteilen der Speisen und Spieße zum Braten. Die Gabel, vom althochdeutschen Wort "gabala", war
ursprünglich ein gegabelter Ast. Benützt wurden Messer, Gabel und Schöpflöffel anfangs aber nur zur Vorbereitung der Speisen, nicht beim Essen.

In der Antike langte man lustvoll mit den Fingern zu. Wurden diese dabei allzu fettig, wischte man sie am liebsten am Brot ab. Eigentlich eine sparsame und die Nahrung würdigende Angewohnheit,
denn das angefettete Brot wurde natürlich gegessen und nicht wie eine Serviette weggeworfen. Selbstverständlich gab es Tischmanieren, auch wenn man bekanntlich nicht zu Tisch saß, sondern lag.
"Ein lästiger und ungezogener Tischgenosse zerstört alle Lust", klagte Plutarch in seinem "Gastmahl der 7 Weisen" über die, die sich nicht dran hielten.

Unter allem Eßbesteck hatte es die Gabel am schwersten, sich einen Platz am Tisch zu erobern. Die erste Erwähnung der Gabel als Eßgerät stammt zwar aus dem Jahr 1023, und es finden sich Hinweise, daß
bereits damals der eine oder andere Aristokrat gelegentlich eine Gabel in die Hand nahm, es sollte aber noch Jahrhunderte dauern, bevor dieses heute so vertraute Gerät sich durchsetzen konnte.

Das ganze Mittelalter hindurch wurde hauptsächlich mit den Fingern oder mit hölzernen Löffeln gegessen. Vornehme Herren benutzten gern Messer, die sie stets bei sich trugen und auch zu allem
möglichen anderen verwendeten. Gegessen haben aber auch sie per Finger: Die Messer dienten lediglich der Zerkleinerung und Portionierung.

Die mittelalterlichen Tischsitten überlebten wie kaum etwas anderes ihre Zeit und die folgenden großen Umbrüche ziemlich unbeschadet. Selbst Martin Luther, als angesehener Mann Gottes vielen ein
Vorbild, jammerte 1518: "Gott behüte mich vor Gäbelchen." Ohne die katholische Abneigung zu teilen, war ihm die Gabel als Eßwerkzeug einfach zu umständlich.

Der große Gelehrte Erasmus von Rotterdam schrieb 1530 in seinem Anstandsbuch über gesittetes Betragen bei Tisch: "Was gereicht wird, hat man mit drei Fingern oder mit Brotstücken zu nehmen."
Und noch "Sonnenkönig" Ludwig XIV. faßte im vornehmen, tonangebenden Frankreich des 17. Jahrhunderts "mit den Pfoten ins Ragout", wie uns ein Hofchronist überliefert.

Was hatten die Menschen bloß gegen die Gabel? Den größten und hartnäckigsten Widerstand setzte ihr die katholische Kirche entgegen, denn aus christlicher Sicht ist die Gabel prinzipiell ein höchst
suspekter Gegenstand. Kein Wunder, galt sie doch von jeher als bevorzugtes Attribut des Teufels und vieler Hexen. Auch das machte es ihr so schwer, vom Küchentisch, wo sie als nötiges Übel geduldet
wurde, auf den Eßtisch und bis in die Münder zu gelangen.

Der Mensch soll seine Finger benützen, gebot die Kirche unverrückbar: Gott habe die Finger geschaffen und nicht die Gabeln, um damit all seine Gaben zu berühren.

Bei Zuwiderhandeln mußte dementsprechend mit der Strafe Gottes gerechnet werden. So berichtet ein italienischer Chronist des Mittelalters von einer feinen Dame, die an einer Festtafel mittels
mitgebrachter Gabel speiste. "Wegen des übertriebenen Zeichens der Verfeinerung" wurde sie von den anwesenden Kirchenmännern prompt getadelt. Die Angelegenheit sollte noch lange für
Gesprächsstoff sorgen, denn als sie kurz darauf starb, wurde ihr Tod von so mancher Kanzel herab als Strafe Gottes ausgelegt und als Warnung genommen, im Übermut zur Gabel zu greifen. "Finsteres"
Mittelalter? Noch im 17. Jahrhundert geißelte ein Chronist die "unerhörte Affektiertheit" der Minderheit der Gabelfreunde. Vor allem Männer, die eine Gabel in die Hand nahmen, wurden als
geziert und unmännlich verspottet. Und in einem auflagenstarken Manierenbüchlein der Jahrhundertmitte findet sich schließlich folgender "Rat": "Versuche nicht, die Suppe mit einer Gabel zu essen."

Trotz allen Widerstandes gelang der Gabel dann aber doch noch der große Durchbruch. Im späten 17. und vor allem im 18. Jahrhundert war sie von den Eßtischen plötzlich nicht mehr wegzudenken,
und die Gabelproduktion (und allgemein die des Eßbestecks) lief auf Hochtouren. Die Eßgeräte wurden nun immer wertvoller, kunstvoller und prunkvoller, weit über die tatsächliche Nützlichkeit hinaus.

Dieser Durchbruch gelang nicht trotz, sondern wegen der vorher vielkritisierten übermäßigen Vornehmheit der Gabel. Um sich abzugrenzen und Standesunterschiede zu betonen, stocherte man nun mit dem
(häufig edelsteinbesetzten) neuen Luxussymbol, mit dem sich so gut Raffinement und Erhabenheit demonstrieren ließ, im Essen herum.

Wer nun auf sich hielt, nahm sogar Konfekt nur mehr mittels eigens dafür vorgesehenen zweizinkigen Gäbelchen auf. Bald galt vergoldetes Vorlegebesteck als unentbehrlich, ebenso die Austerngabel und
der Spargelheber. Ein Leben ohne vielfältiges Tischbesteck und vor allem ohne eine reichhaltige Gabelauswahl wurde unvorstellbar. Das Eßbesteck mauserte sich zu einem wichtigen Renommiermittel, und
mit den entsprechenden Tischmanieren stand und fiel so manche Karriere.

Der berühmte Baron Knigge wird in diesem Zusammenhang gern zitiert, aber zu unrecht, denn der angebliche Benimm-dich-Apostel interessierte sich herzlich wenig für Tisch- und andere artige Manieren.
Nur wenige Anstandsregeln gehen auf ihn zurück, wie die, daß man nicht "bei Tische den abgeleckten Löffel, womit man gegessen, wieder vor sich hinlegen" soll. Wo man ihn sonst hintun soll,
führt er leider nicht näher aus: "Dergleichen Regeln mehr zu geben, dazu ist hier nicht der Ort", schreibt er 1788 in seinem bis heute fälschlicherweise als Manierenratgeber kolportierten
psychologischen Werk "Über den Umgang mit Menschen". Herausgeber erwähnen dieses Knigge-Mißverständnis seit langem im jeweiligen Vorwort. Das Problem ist nur: Wer wird schon ein Vorwort lesen, wenn
er nicht vor hat, das Buch zu lesen.

Wenn sie auch nicht von Knigge stammen, Tischregeln gab es immer eine ganze Menge. Absolut verpflichtend war jedenfalls fortan das Essen mit Messer und Gabel, sogar für Geflügel und andere ähnlich
mühsam mit Besteck zu verzehrende Speisen. Lediglich kleinen Kindern wurde diesbezüglich eine Schonfrist zugebilligt.

Die Vornehmheit wurde rasch demokratisiert, und schon im späten 19. Jahrhundert umfaßten alle Klassen und Stände wie selbstverständlich Messer und Gabel. Das Verwenden von Eßbesteck · und zwar des
jeweils richtigen! · wurde, vor allem in Europa, zum Zeichen für Zivilisiertheit und Kultur. Manierenkurse und verstohlene Blicke zu den Tischnachbarn an Tafeln mit Besteckvielfalt und ausgefallenen
Speisen waren die Folge.

So konnte es schließlich 1928 zu folgender bizarren Szene in Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" kommen: In einem leeren Pferdestall feiert der kulturbewußte Kriminelle Mackie Messer Hochzeit mit der
Tochter des Bettlerkönigs. Gereizt fragt er einen seiner Gäste, was er da in der Hand habe. "Ein Messer." Und was er da auf dem Teller habe: "Eine Forelle." Da platzt dem gewiß nicht
zimperlichen Mann der Unterwelt der Kragen: "So, und mit dem Messer, nicht wahr, da ißt du die Forelle. Das ist unerhört, hast du so was schon gesehen? Ißt den Fisch mit dem Messer! Das ist doch
einfach eine Sau, der so was macht."

Was steckt hinter der neuen Vorliebe, wieder mit den Fingern zu essen? Die, die immer öfter auf Besteck verzichten, empfinden das meist als eine Art Freiheit, ein Stück Unmittelbarkeit,
Ungezwungenheit und Natürlichkeit. Mehr oder weniger bewußt erinnert das Essen mit den Fingern an die Kindheit, symbolisch genommen auch an die Kindheit der Menschheit, als noch nicht die Kultur so
eindeutig die Natur beherrschte. Die Psychologie interpretiert das als Sehnsucht nach einem einfacheren Leben.

Trotz allem gehört zu einer festlichen Tafel nach wie vor das klassische Silberbesteck. Die Herstellung ist heute kein angesehenes Handwerk mehr und wird auch kaum mehr als Kunstform anerkannt. Die
industrielle Massenfertigung hat die Klingenmacher, die Gold- und Silberschmiede längst vertrieben. Große Kunstwerke als besondere Zierde der Eßkultur sind ebenso rar geworden wie der frühere
Enthusiasmus.

Und so muß sich unsere Eßkultur zunehmend ein paar kritische Fragen gefallen lassen: Sind Messer und Gabel, zumindest bei gewissen Speisen wie Geflügel oder Pizza, eine unnötige Komplikation eines
einfachen und natürlichen Vorganges? Ist das Hantieren mit Messer und Gabel tatsächlich ein Ausdruck übertriebener, gekünstelter Vornehmheit? Ist es die Hybris des Menschen, die zwischen ihn und
seine Nahrung edle Werkzeuge gestellt sehen will? Ist also das Prinzip "von der Hand in den Mund" als Fortschritt zu werten? Oder doch als Kulturverfall?

Samstag, 25. April 1998

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