Anhalter Bahnhof

Europa ist überall

(01.12.10)

Am Samstag ist Eurofilmtag. Dann verleihen die gut 2300 Mitglieder der European Film Academy zum 23. Mal die Europäischen Filmpreise, bei der jährlichen Werbe-Show für das Kino des alten Kontinents. Mal sehen, ob unsereins ab Sonntag wieder mehr Bilder aus Frankreich, Dänemark oder Italien guckt: So richtig funktionieren tut die Sache mit dem „europäischen Oscar“ nämlich eigentlich nicht. Was hingegen bestens funktioniert, ist die Vergrößerung Europas mit cineastischen Mitteln. Schon letztes Jahr tauchte der indische Oscar-Gewinner „Slumdog Millionär“ unter den Anwärtern auf, man rieb sich verwundert die Augen.
Apropos Fernost. Dieses Jahr findet die Verleihung in Tallinn statt, Anke Engelke und der estnische Star Märvi Avandi moderieren die Gala in der Nokia Concert Hall. Kein Ding, auch Estland gehört längst zu Eurofilmland. Ins Staunen gerät der Kinofan allerdings, wenn er die sechs Kandidaten in der Königsdisziplin „Bester Film“ in Augenschein nimmt. Schauplatz Europa? Fehlanzeige. Auf der Liste steht „Lebanon“ aus Israel, der Film spielt ebendort, in einem Panzer im Krieg 1982. Außerdem: der Berlinale-Sieger „Bal/Honig“ aus der Türkei, da ist man fast schon wieder in Asien. Der Auslands-Oscargewinner „In ihren Augen“ erzählt einen Krimi aus der Zeit der algerischen Militärdiktatur in Buenos Aires. Das TrappistenmönchsDrama „Von Menschen und Göttern“ inszeniert eine wahre Geschichte aus dem algerischen Atlasgebirge. Und Polanskis Politthriller „Ghost Writer“ über einen britischen Premier ist zwar in Babelsberg und auf Sylt gedreht, aber die Chose spielt schon in Robert Harris’ Bestsellerroman weitgehend in Amerika. So groß war Europa noch nie.
Wer glaubt, die Ost-, Nord-, Süd-, West- und Morgenlanderweiterung des Abendlandes habe etwas mit der Finanzkrise zu tun und der Rest der Welt müsse die hiesige Filmindustrie mit Solidarpaketen unterstützen, der irrt allerdings gewaltig. Umgekehrt wird ein Coup draus. Europa ist als Koproduzent und Kofinanzier offenbar überall ungemein attraktiv, bloß an eigenen Stories scheint es zu hapern. Taugt Europa nicht mehr als Stoff, aus dem die Träume sind? Die Bildwelt des Kontinents, eine Randerscheinung, ein Globalisierungsopfer? Oder ist das nur die nächste Stufe von Multikulti?
Für Deutschland geht übrigens Fatih Akin mit seiner Heimatfilmkomödie „Soul Kitchen“ ins Rennen – und Sibel Kekilli als „Die Fremde“, in der Darstellerinnen-Kategorie. Na bitte! Wenn Deutschland endlich seine türkischen Wurzeln entdeckt, dann darf auch Europa seine Grenzen ein bisschen erweitern. Christiane Peitz