Matthies meint

Berlin suchen und Sex weglassen

(10.12.10)

Heute muss mal Goethe ran. „Was ihr den Geist der Zeiten heißt/das ist im Grund der Herren eigner Geist/in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Danke, Hochwürden. Heute interessieren wir uns nur noch wenig für die Definition des Dichters, denn es gibt ja Google, jenes Unternehmen, das uns unter dem Begriff „Zeitgeist“ alljährlich eine Auswertung liefert, die das Suchen und Sehnen des Menschen besser widerspiegelt als ein Kongress von Premium- Philosophen, Precht und Sloterdijk eingeschlossen. Kommentarlos wird darin aufbereitet, was den Deutschen im ablaufenden Jahr eine Anfrage wert war. Namen, natürlich, die nahe legen, dass wir süchtig nach Augenaufschlägen sind, Lena Meyer-Landrut, Justin Bieber, Daniela Katzenberger, solche Sachen. Als Aufsteiger gilt das Portal Chatroulette, das soll kommentieren, der sich damit auskennt, denn es gibt ja noch die am häufigsten eingegebenen Begriffe. Achtung: 1. Facebook, 2. Youtube und 3., da kommen Sie nie drauf, Berlin. Ebay, Google selbst, Wetter, alles dahinter.
Nun schließt sich unweigerlich die Frage an, was die Leute da eigentlich suchen. Sagen sie: Schauen wir mal, wie es der Hauptstadt so geht? Wollen sie wissen, was der Senat nun grad wieder versemmelt hat, oder was nachts im verruchten Berghain läuft? Wer nun bei Google „Berlin“ eingibt, der bekommt als erstes ein paar hübsche Bilder und landet dann auf berlin.de. „Wiedereinweihung der Amalien-Orgel“ heißt es ganz oben, daneben geht es um den Wintereinbruch, das Bündnis gegen Homophobie, den Regierenden Bürgermeister selbst und einen traulich blickenden Dalmatiner. Nein, das ist keine Kritik, das ist okay, so stellen sich die Leute draußen Berlin halt vor, kalt, anti-homophob, immer mit einem Lied auf den Lippen. Aber was könnte davon so wichtig sein, das es sogar das Wetter, Ebay und das Fernsehprogramm auf die Plätze verdrängt?
Goethe hätte uns dazu vermutlich Näheres sagen können; er ist verhindert, und so bleibt es Klaus Wowereit und den Seinen eigentlich nur noch, trunken vor Glück im Schnee zu tollen. Alle interessieren sich für Berlin! Ach, es gibt da nur eine kleine Einschränkung. Die Statistik wurde nämlich um sämtliche Anfragen bereinigt, die sich um das Thema Sex ranken. Nähme man sie dazu, das lässt sich zumindest ahnen, dann hätte der Zeitgeist die deutsche Hauptstadt sofort aus den Augen verloren, es wäre ganz weit drunten, verloren im Grundrauschen des Internets zusammen mit Bad Wörishofen und Oer-Erkenschwick. So sexy wie Sex ist Berlin noch lange nicht.