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Artikel aus dem EXTRA LexikonPrint this

Verwandlungen des Wissens

Isaac Newton, visionär gestaltet von William Blake. Foto: EPO/ Wikimedia

Isaac Newton, visionär gestaltet von William Blake. Foto: EPO/ Wikimedia

Von Peter Markl

Die Forschungen des niederländischen Historikers H. Floris Cohen werfen ein neues und faszinierendes Licht auf die Entstehung der modernen Naturwissenschaften.

Als der theoretische Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker 1976 über die Ambivalenz der Naturwissenschaften und ihre Rolle in der heutigen Gesellschaft nachdachte, kam er zu dem – auch heute noch für viele überraschenden – Ergebnis, dass die mathematischen Naturwissenschaften in den letzten Jahrhunderten zum harten Kern der europäisch-nordamerikanischen Kultur geworden sind: Sie sind das, wodurch sich diese Kultur von anderen Kulturen unterscheidet. Weizsäcker stellte fest, dass Naturerkenntnis als Nachdenken über die Natur eine Komponente aller Hochkulturen sei – vor allem der klassischen Kulturen Vorderasiens, Indiens und Chinas, von Kulturen also, die – wie Weizsäcker sagte – "bis tief in die Neuzeit hinein politisch, wirtschaftlich, technisch, künstlerisch, sittlich und metaphysisch gewachsen, wo nicht überlegen waren".

Trotzdem hat keine dieser Kulturen eine mathematische Naturwissenschaft entwickelt. Sie alle sahen im naturwissenschaftlichen Wissen eine Art handwerklicher, auf praktische Anwendung abzielende Weisheit oder in der Ordnung ihrer Begriffe die Spieglung einer metaphysischen Ordnung. Doch diese Ansätze wurden nicht weiterentwickelt. Mathematische Naturwissenschaften sind also kein unerlässlicher Bestandteil von Hochkulturen. Etwa zur gleichen Zeit entwickelten die Griechen wie die Chinesen Begriffe, mit denen sich Naturerscheinungen und deren Zusammenhänge beschreiben ließen.

Europäische Mathematik

Das wirft die Frage auf, warum die modernen Naturwissenschaften sich gerade – und gerade nur in Europa entwickelt haben. Diese Tatsache ist auf der Suche nach einem Selbstverständnis der europäischen Identität bisher nicht rezipiert worden.

Weizsäcker sah die Entwicklung einer mathematischen Naturwissenschaft als ein Hauptcharakteristikum der europäisch- nordamerikanischen Kultur und als Ausformung einer entscheidenden gedanklichen Innovation der Griechen, nämlich der deduktiven Mathematik, welche belegte, dass es hinter den Erscheinungen große gedankliche Zusammenhänge von unbedingter Stringenz gibt. Das Bewusstsein davon findet man sonst nur noch in der arabisch-islamischen Philosophie des Mittelalters, die aber bekanntlich von der griechischen Philosophie beeinflusst wurde. Weizsäcker war sich jedoch bewusst, dass im angelsächsischen Kulturkreis die Bezauberung der Griechen durch die deduktive Geometrie häufig als ein Hindernis auf dem Weg zu den modernen Naturwissenschaften gesehen wird.

Weizsäckers Sicht war eine von der platonischen und der kantischen Philosophie geprägte, eurozentristische Interpretation der Wissenschaftsgeschichte der modernen Naturwissenschaften, wie ja eurozentrierte Interpretationen der Geschichte der modernen Naturwissenschaften lange Zeit in den Kulturwissenschaften dominant waren. Mittlerweile aber sind die außereuropäischen Hochkulturen zunehmend ins Blickfeld der Wissenschaft geraten, und man hat begonnen, die Frühgeschichte der modernen Naturwissenschaften zu erforschen. Das ist ein atemberaubendes interdisziplinäres Vorhaben: denn schließlich ist es notwendig, räumlich und zeitlich weit auseinanderliegende Kulturen und deren zeitgenössische Wissenschaft zu vergleichen, was außerordentliche methodische Probleme aufwirft.

Erfahrung und Methode

Niemand ist besser dafür vorbereitet und geeignet als der große niederländische Wissenschaftshistoriker H. Floris Cohen, der als Professor für vergleichende Wissenschaftsgeschichte an der Universität Utrecht lehrt und früher als Kurator am nationalen Niederländischen Museum für Wissensgeschichte in Leiden Erfahrungen mit der experimentellen und instrumentellen Seite der Wissenschaft gesammelt hat.

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H. Floris Cohen. Foto: Cohen

Das Resultat seiner jahrelangen Arbeiten zu diesem Thema wurde 1994 in einem Buch zur Geschichte der Geschichtsschreibung veröffentlicht. Cohen diskutierte darin das methodische Instrumentarium, mit dessen Hilfe rund 60 Autoren zu definieren versuchten, worin denn genau die wissenschaftliche Revolution bestand. Cohens Sympathien und Antipathien sind dabei klar erkennbar: Er bewundert Joseph Needham, den eminenten englischen Entwicklungsbiologen, der mit seinem über Jahrzehnte verfolgten Projekt zur Frühgeschichte der chinesischen Naturwissenschaften zu einem Stammvater der kulturell vergleichenden Erforschung der Wissenschaftsgeschichte wurde; viel bewundert, doch auch viel gescholten ob seiner unerschütterlichen kommunistischen Weltanschauung, die auch Cohen sehr kritisch sieht.

Nicht minder kritisch sieht er Pierre Duhem, als Wissenschafter einer der Pioniere der physikalischen Chemie, als Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftsphilosoph aber beeinflusst von seiner Weltanschauung. Duhem war ein extrem konservativer katholischer französischer Chauvinist, der schlichtweg leugnete, dass es im 17. Jahrhundert eine wissenschaftliche Revolution gegeben habe: was herkömmlicherweise Galilei zugeschrieben wurde, hätten seiner Ansicht nach schon im 14. Jahrhundert die theologischen Naturphilosophen der Universität Paris mit ihrer Kritik an Aristoteles und Averroes geleistet.

Die Einbeziehung immer weiterer Aspekte in die Diskussion um die Naturwissenschaften des 17. Jahrhunderts hat in den letzten 30 Jahren zu einer Art Resignation in der Wissenschaftshistorik geführt. Etliche Wissenschafter bestritten, dass es hinter der immer unanalysierbarer erscheinenden Verschränkung von Einzelereignissen doch etwas geben könnte, das alles irgendwie zusammenhält. Mit solchen Zweiflern hat Cohen wenig Geduld. Er stimmt vielmehr Needham zu, der meint: "Den Ursprung der modernen Wissenschaft zur Gänze auf Zufall zurückzuführen, kommt einer Bankrotterklärung der Geschichtsschreibung als einer Form von Aufklärung gleich". Cohen ist dazu nicht bereit und bietet eine narrative Geschichtsschreibung, in der sich eine Analyse der Problemsituation mit einer sorgfältigen Beschreibung der historischen Kontingenz mischt.

Vor kurzem ist in Holland seine langerwartete Version der Geschichte der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert auf den Markt gekommen. Auch in Österreich stößt sie auf Interesse, da Cohen 2005 am Europäischen Forum Alpbach gemeinsam mit Toby Huff, einem der führenden amerikanischen Experten für die Frühgeschichte der Wissenschaft im Islam und in China, ein Referat gehalten hat.

Die lange Entstehungszeit des mehr als 800 Seiten umfassenden Werks hat Cohen dazu bewogen, eine niederländische Kurzfassung auszuarbeiten, die dort zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2008 gewählt und seither 11.000 Mal verkauft wurde. Diese auf die Hälfte des Seitenumfangs reduzierte Fassung wurde ins Deutsche übersetzt und 2010 vom Campus Verlag veröffentlicht. Dieses Buch steht heuer auch in Österreich auf der Shortlist zur Wahl als Wissenschaftsbuch des Jahres 2010.

Transformationsprozesse

Der ganze Reichtum des neuen Ansatzes lässt sich jedoch nur auf den 800 Seiten der (kürzlich auch in Englisch veröffentlichten) Langfassung erkennen. Nach Cohens Ansicht entstand die moderne Naturwissenschaft in Transformationsprozessen, die in drei sehr verschiedenen und voneinander getrennten Arten der Naturerkenntnis nach einem ähnlichen historischen Muster revolutionärer Transformation abliefen: es sind dies die griechische Naturerkenntnis, die chinesische und die islamische Kultur. Bei allen dreien folgte auf eine Ouvertüre ein rasches Aufblühen, dann ein Goldenes Zeitalter, das mit einem steilen Niedergang endete.

Cohen erzählt die Geschichte dieser Umwandlungen von der griechischen Antike bis zu Newtons Hauptwerken: "Ich habe peinlich darauf geachtet", betont er, "den Jargon zu vermeiden, die aufeinanderfolgenden Probleme so klar wie nur möglich zu präsentieren. Alles nicht für die Story unmittelbar Relevante wurde weggelassen."

Cohen schreibt wie ein Naturwissenschafter: auf die Klarlegung der Problemsituation folgt eine Schilderung der möglichen Problemlösungen, gefolgt von einer Bewertung des Erfolges einer Problemlösung und der Folgeprobleme, die sie aufwirft. Obwohl viel von der Mathematisierung als einer Form der Naturerkenntnis geredet werden muss, enthält das Buch keine Mathematik, die über ganz elementare Geometrie hinausgeht.

Lobenswert ist auch die Jargonfreiheit des Textes; denn in letzter Zeit häufen sich in der Wissenschaftsgeschichte Arbeiten, in denen wissenschaftsgeschichtliche oder wissenschaftsphilosophische Probleme in einem aus anderen Gebieten importierten Jargon diskutiert werden, ohne dass dadurch mehr Klarheit gewonnen würde. (Ein amerikanischer Physiker, der sich gerade durch eine der modischen Arbeiten über den Zusammenhang östlicher Philosophie mit der Quantenmechanik durchgearbeitet hatte, hat dazu angemerkt: "Nach manchmal nicht unerheblichen Mühen mit dem Jargon konstatiert man frustriert: nun gut, das ist doch wieder nur das alte Mobiliar, wenngleich diesmal in bengalischer Beleuchtung." In nicht wenigen dieser Fälle entspringt die Verwendung des Jargons dem Wunsch, einer erfolgreichen Seilschaft von Kollegen zu signalisieren, dass man einer der ihren ist oder doch zu werden wünscht. Die Praxis der Bildung von Seilschaften ist leider auch in den Naturwissenschaften ziemlich verbreitet.)

H. Floris Cohens Buch jedoch ist als ein Meilenstein in der Wissenschaftsgeschichtsschreibung zu bezeichnen. Es ist keines jener Wissenschaftsbücher, wie sie meist von Außenseitern über modische Probleme allzu schnell und oberflächlich angefertigt – und von gutgläubigen Zeitgenossen auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken gekauft werden. Cohens Werk richtet sich an Naturwissenschafter mit geschichtlichen Interessen und bietet eine gut lesbare Zusammenfassung der spannenden, extrem methodenbewussten Forschungsergebnisse aus den letzten Jahrzehnten. Kurzum, ein wahrhaft intellektuelles Vergnügen.

Literatur

H. Floris Cohen: The Scientific Revolution. A Historiographical Inquiry. University of Chicago Press 1994, 680 Seiten.

– How modern science came into the world. Vollständige Ausgabe Amsterdam University Press 2010, 848 Seiten.

– Die zweite Erschaffung der Welt. Wie die moderne Naturwissenschaft entstand. Stark gekürzte deutsche Übersetzung von Andreas Ecke, und Gregor Seferens, Campus Verlag, Frankfurt 2010, 283 Seiten.

– Quantifying Music. The Science of Music at the first Stage of the Scientific Revolution 1580-1650. Reidel, Dordrecht, 1984, 308 Seiten.

Carl Friedrich von Weizsäcker: Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie (darin im Besonderen: Der Naturwissenschaftler, Mittler zwischen Kultur und Natur, S. 91-106). Hanser Verlag, München 1977.

Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung sowie Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.



Printausgabe vom Samstag, 18. Dezember 2010
Online seit: Freitag, 17. Dezember 2010 16:38:00

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