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Karlsruher Urteil: Hohe steuerliche Entlastung für Ehepaare mit Kindern

Bundesverfassungsgericht schafft Benachteiligung für Verheiratete ab Lafontaine rechnet mit Mehrkosten von jährlich 22,5 Milliarden Mark

Sigrid Averesch

BERLIN/BONN, 19. Januar. Ehepaare mit Kindern müssen vom kommenden Jahr an steuerlich stärker entlastet werden. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis Ende dieses Jahres die Abzugsfähigkeit von Kinderbetreuungskosten neu zu regeln, heißt es in einer am Dienstag in Karlsruhe veröffentlichten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BverfG). Zudem muß der Gesetzgeber bis Ende 2001 Ehepaaren mit Kindern einen Haushaltsfreibetrag gewähren. Dadurch können verheiratete Eltern jährlich rund 10 000 Mark zusätzlich steuerlich absetzen.

Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine (SPD) rechnet nach einer "ersten groben Schätzung" seines Hauses bei einer Umsetzung der Vorgaben aus Karlsruhe mit Steuerausfällen von 22,5 Milliarden Mark jährlich. Gleichwohl begrüßte der SPD-Vorsitzende die Entscheidung des Verfassungsgerichtes. "Es liegt in der Richtung unserer Politik, Familien besser zu stellen", sagte er am Dienstag in Bonn.

Bislang kamen nur Alleinerziehende und unverheiratete Eltern in den Genuß dieser Steuervorteile. Diese Ungleichbehandlung erklärten die Bundesrichter für verfassungswidrig. Mit ihrer Entscheidung wurde der Gesetzgeber erstmals dazu verpflichtet, die Erziehungsleistungen in der Ehe auch finanziell anzuerkennen, unabhängig davon, ob die Eltern berufstätig sind oder ihr Kind selbst erziehen. Ausdrücklich betonte der 2. Senat, daß die Kinderbetreuung eine "Leistung ist, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt".

"Schallende Ohrfeige"

Nach Angaben der Bonner Finanz-Staatssekretärin Barbara Hendricks (SPD) soll in der zweiten Jahreshälfte ein eigenes Steuergesetz zur Förderung von Familien auf den Weg gebracht werden, in dem die Richter-Vorgaben umgesetzt werden. Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) sagte, die Umsetzungsfristen des Verfassungsgerichts erforderten "ein unverzügliches Handeln von Regierung und Bundestag noch in diesem Jahr". Das Urteil sei eine "schallende Ohrfeige für die alte Bundesregierung, denn es decke schwere familienpolitische Versäumnisse auf. Die Vorsitzende des Familienausschusses des Bundestages, Christel Hanewinckel (SPD), sagte der "Berliner Zeitung", "mit dem Urteil wird der von uns seit langem geforderten Gleichstellung zwischen Eltern mit und ohne Trauschein entsprochen". Es stärke die Kaufkraft der Familien. Mit dem Urteil müsse auch neu über das Ehegattensplitting nachgedacht werden, sagte Hanewinckel. Dieser Steuervorteil für Ehepaare würde ohnehin ab 2000 gekappt, eine spätere gänzliche Abschaffung des Ehegattensplittings wäre nur eine konsequente Schlußfolgerung aus dem Urteil, so Hanewinckel. Bereits bei einer Kappung des Splittings entstünden Mehreinnahmen, die für die Umsetzung der Karlsruher Beschlüsse verwendet werden könnten.

Auch die FDP begrüßte die Entscheidung. Bundestagsvizepräsident Hermann Otto Solms (FDP) sprach von einer "bahnbrechenden Verbesserung von Familien". Damit werde der finanziellen Belastung aller Eltern durch Kindererziehung Rechnung getragen. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, Friedrich Merz, forderte, die Koalition solle nunmehr ein völlig neues Gesamtsteuermodell auf den Tisch legen.

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