Sprach man in den sechziger Jahren von "Schwedenfilmen", meinte man damit jene sexuell äußerst freizügigen Streifen, die, aus Schweden kommend, nicht nur in der Bundesrepublik gerne gesehen wurden. Dabei handelte es sich keineswegs nur um obszönes Schmuddelkino: Künstlerisch ambitionierte Filme fanden als "Schwedenfilme" ein großes Publikum. So etwa die Filme Vilgot Sjömans, der die intellektuelle Linke im schwedischen Film der sechziger Jahre repräsentierte. Ein Rückblick anlässlich der DVD-Veröffentlichung seines Doppelfilms "Ich bin neugierig".
Von Johannes Leisen
Das Folgende ist der gekürzte Nachdruck einer für das Begleitheft der DVD-Veröffentlichung "Kino Kontrovers: Ich bin neugierig – gelb/blau" verfassten Publikation. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Legend Films.
In einer einspaltigen Meldung kündigte der Spiegel vom Februar 1968 einen neuen Film mit einem zehn Jahre alten Zitat des französischen Regisseurs Jean Renoir an: "Eines Tages wird man Liebespaare beim Geschlechtsverkehr zeigen können, und das wird nicht sehr interessant sein." (zit. n. Der Spiegel, 26.2.1968) Renoirs Prophezeiung sollte Lügen gestraft werden durch das, was fortan unter dem Schlagwort "Nyfiken" nicht nur bundesdeutsche Filmrezensenten erhitzte. Hatte der Kinogänger hierzulande bereits 1963 gelernt, dass "Tystnaden" das schwedische Wort für "Schweigen" ist, konnte man nun darauf zählen, dass er "Nyfiken" mit dem deutschen Wort "neugierig" zu übersetzen wusste. Gemeint war ein Film mit dem merkwürdigen Titel Jag är nyfiken – gul (Ich bin neugierig – gelb), der im März 1968 in der Bundesrepublik anlief. Denjenigen, die zusätzlichen Schwedischunterricht nötig hatten, nahm sich fünf Monate später der Folgefilm Jag är nyfiken – blå (Ich bin neugierig – blau) an.
Nyfiken war ein "Schwedenfilm". Filme wie Syskonbädd (Geschwisterbett, 1966), Jungfrukällan (Die Jungfrauenquelle, 1960) oder der schon genannte Tystnaden (Das Schweigen, 1962) hatten nicht nur deutschen Kinogängern in den zurückliegenden Jahren beigebracht, dass der schwedische Film von tabuloser sexueller Freizügigkeit war. Nyfiken nahm sich dieser Vorstellung maßgeschneidert an.
Die Presse ließ sich das Versprechen abnehmen, mit Nyfiken komme der "freieste aller Schwedenfilme" (Der Stern, 29.10.1967) in die Kinos. Und Schwedens Zeitung Dagens Nyheter versprach den "gewaltsamsten Ausbruch, den ein schwedischer Regisseur je versucht hat" (zit. n. Der Spiegel, 23.10.1967). Den Regisseur, von dem hier die Rede war, lernte man bald kennen: Als einen linken Rotbart, einen Schüler Ingmar Bergmans, der mit Nyfiken keineswegs einen trivialen Pornostreifen auf den Markt gebracht hatte.
Vilgot Sjöman, Jahrgang 1924, Sohn eines Stockholmer Bauarbeiters, zeigte schon als Jugendlicher künstlerische Ambitionen, nämlich indem er sich an eigenen Theaterstücken versuchte. Als dreiundzwanzigjähriger brachte er einen ersten Roman heraus, aus dem 1952 das Drehbuch zu einem Film Gustav Molanders, nämlich Trots, entstand. Bald darauf hatte Sjöman Gelegenheit, als Stipendiat einen sechsmonatigen Filmkurs an der us-amerikanischen UCLA zu belegen. Zurück in Schweden konnte Sjöman 1961 einen Posten als Regieassistent Ingmar Bergmans bei dessen Film Nattvardsgästerna wahrnehmen. Seine erste Regiearbeit, Älskarinnan, entstand 1962 unter Mitwirkung zweier prominenter Schauspieler des Bergman-Ensembles: Bibi Andersson und Max von Sydow; auch übernahm er im wesentlichen den Bergman-Stab der Svensk Filmindustri. Sjöman war da schon siebenunddreißig.
Älskarinnan ist die psychologische Studie eines Mädchens, das zwischen ihrem Ehemann und einem deutlich älteren Liebhaber schwankt. Sich für ihren Ehemann zu entscheiden hieße, sich der Enge kleinbürgerlicher Wertvorstellungen zu ergeben. Der Kritiker und Regisseur Jörn Donner schrieb im Dagens Nyheter vom Oktober 1962: "Mit Vilgot Sjömans Älskarinnan kommt ein frischer Wind der Erneuerung in den schwedischen Film. Älskarinnan ist der reifste und selbstständigste Debütfilm, der je von einem schwedischen Regisseur gedreht worden ist. Er ist ein Film, der auf eigenen Beinen steht, ohne nach Vorgängern oder Vorbildern zu schielen." (zit. n. Paulus 1986, 62) Seine Premiere hatte Älskarinnan im internationalen Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele 1963.
Schon Älskarinnan war ein Film, der sich nicht scheute, dem Publikum Sexualszenen von unüblicher Offenheit zu zeigen. Doch Sjöman ging noch weiter: Mit seinem Film 491 aus dem Jahr 1964 löste er einen kalkulierten Skandal aus. Der Film schildert die Situation schwer erziehbarer Jugendlicher, die vom Jugendamt betreut werden. Einer der Sozialarbeiter vergeht sich an den Jungen. In der Folge zwingen diese ein Mädchen (Lena Nyman) zur Prostitution und zu sodomistischen Handlungen mit einem Schäferhund. Die schwedische Zensur belegte den Film mit einigen Auflagen, da er "vom Standpunkt mentaler Hygiene" (zit. n. Jacobsen 2000, 123) für öffentliche Aufführungen nicht geeignet sei. Dennoch nominierten die Svenska Filminstitutet und der schwedische Produzentenverband den Film für die Berliner Filmfestspiele. Nachdem in einer Ausgabe der Zeitschrift Spiegel über den Film berichtet worden war, intervenierte sowohl die evangelische wie auch die katholische Kirche: Sie drohten, sich mit ihren Jurys aus dem Festival zurückzuziehen, sollte man sich in Berlin entschließen, 491 zu zeigen. Unter Berufung auf einen formalen Verstoß gegen die Regularien des Festivals lehnte man 491 schließlich ab. Ein heftiger Eklat war die Folge.
Sjöman hatte indes den kalkulierten Skandal für sich entdeckt und brachte mit Syskonbädd einen Film heraus, der das Inzestmotiv in Kostümen des gustavianischen Rokoko behandelt. Auch diese Provokation verfehlte ihre Wirkung nicht.
Nun soll aber nicht der Eindruck entstehen, dass allein Sjöman sich aufgemacht hätte, ein junges schwedisches Kunstkino neben dem seines Meisters Bergman zu begründen. Als Ende der fünfziger Jahre Frankreich zum Epizentrum jener Entwicklungen in der internationalen Filmkunst wurde, die einer neuen Generation von Filmschaffenden Rechnung trug, blieb auch Schweden davon nicht unbeeinflusst. Doch die schwedische Filmproduktion befand sich zu Beginn der sechziger Jahre in einem überaus desolaten Zustand: Die Kinos wurden mit einer Vergnügungssteuer von 25 Prozent belegt und zudem beschleunigte das Fernsehen den Zuschauerrückgang drastisch. Die Spielfilmproduktion halbierte sich von dreißig Filmen (1957) auf nur fünfzehn Filme im Jahr (1961). Die Bedingungen für Filmschaffende verbesserten sich mit dem Inkrafttreten einer grundlegenden Filmreform im Juli 1963, deren zentrale Maßnahme die Schaffung des Svenska Filminstitutet war. Schwedens Filmproduktion kam allmählich wieder in Gang.
Neben Vilgot Sjöman verbreiteten insbesondere die Regisseure Bo Widerberg und Jan Troell eine schöpferische Unruhe im schwedischen Kino. Ihre Kritik galt der sozialen Unverbindlichkeit des nationalen Films, seiner politischen Passivität. Insbesondere Bo Widerberg, aber auch Jörn Donner kritisierten, dass sich durch die Filme Ingmar Bergmans eine Beschränkung auf die individuelle menschliche Psyche im schwedischen Film ergeben hatte. Die jungen Regisseure (Sjöman war der mit Abstand älteste von ihnen) verstanden sich als auteurs wie ihre französischen Vorbilder. Ihre Filme sollten politische und soziale Themen debattieren und zugleich über das Kino selbst nachdenken, es herausfordern und seine Möglichkeiten erweitern.
Doch so sehr das schwedische Filmschaffen in den sechziger Jahren auch in Bewegung geraten war, rangierte es doch in der ausländischen Wahrnehmung nicht auf den vordersten Plätzen, sieht man vom Werk Bergmans ab. Nicht nur nach bundesdeutschem Verständnis war der "Schwedenfilm" ein Synonym für semi-pornografische Kinofilme aus den schwedischen Landen. Etwaige künstlerische Ambitionen der Filme störten den Zuschauer da nicht weiter. Einen Höhepunkt dieses Phänomens bezeichnet der immense Erfolg von Ingmar Bergmans Tystanden, der – wenn dies auch von seinem Regisseur eher unbeabsichtigt – durch seine freizügigen Sexdarstellungen alleine in der Bundesrepublik die enorme Zuschauerzahl von elf Millionen erreichte.
Sjöman, der also am kalkulierten Skandal Gefallen gefunden hatte, spielte in seinem Filmen mit dem Bild, das sich das Ausland vom "Schwedenfilm" gemacht hatte; er setzte künstlerisch dort an, wo sich ein Klischeé verfestigt hatte. Denn Nyfiken war ein Film, der an "über alle herkömmlichen Stränge schlagendem Sex" (Neue Ruhrzeitung, 8.3.1968) nicht sparte. Sjöman verfolgte mit Nyfiken eine grundsätzliche Absicht: "Ich wollte die gewöhnlichen Schlafzimmerkonventionen der Filmproduktion wegfegen. [...] Weg mit Verniedlichungen und Schattenspielen. Weshalb müssen Schauspieler Laken-Virtuosen sein?" (zit. n. Der Stern, 29.10.1967) Nach Abschluss der Dreharbeiten veröffentlichte Sjöman im Oktober 1967 sein Arbeitstagebuch unter dem Titel "Ich war neugierig". Hier findet sein Anliegen eine scharfsinnig-pointierte Formulierung: "Man kann voraussetzen, daß der Akt als solcher allen, die am Film beteiligt sind, vertraut ist. Zweifellos sind die meisten von ihnen schon mit jemanden ins Bett gegangen [...]. Aber wenn sie dann im großen schwedischen Filmbett [...] einander gegenüber sind, dann scheint jeder seine Vorstellungskraft zu verlieren. [...] Es herrschen lange Momente von Gedächtnisschwund, während sie auf das Studiobett starren." (zit. n. Film-Kurier Nr. 247, 0)
Nyfiken ist laut Sjöman "das Porträt eines politisch und sexuell radikalen Menschen" (zit. n. Volksstimme Österreich, 20.4.1968), nämlich der zwanzigjährigen Großstadtgöre Lena Nyman (gespielt von der gleichnamigen Schauspielerin). Gemeinsam mit ihrem Vater, der im spanischen Bürgerkrieg von der Interbrigade desertierte, lebt sie in einer engen, muffigen Wohnung. Ihm, dem Deserteur, gilt ihre inbrünstige Verachtung: Höhnisch zählt sie die seit des Vaters Desertierung vergangenen Tage an einer kleinen Wandtafel. Ihr chaotisches Zimmer birst vor Ordnern und Kartons, in denen sie allerlei zur politisch-sozialen Lage des gegenwärtigen Schweden sammelt. Doch nicht nur das, auch über ihre zahlreichen Liebesabenteuer wird in den unzähligen Kästen Buch geführt. Das in ihrem Zimmer (sie nennt es "Nymans Institut") gesammelte Material ist das Resultat beharrlicher Straßeninterviews. Wir erleben Lena, wie sie schwedische Passanten mit den Themen der Achtundsechziger konfrontiert: Sie fragt, ob Schweden eine Zweiklassengesellschaft sei, versucht heimkehrenden Mallorca-Urlaubern zu entlocken, wie man denn unbeschwert Urlaub in einem totalitären Regime machen könne, spricht die zweifelhafte Verquickung von Staat und Kirche an und bringt – wo immer sie ist – Debatten über Gewaltlosigkeit, die Vormachtstellung der USA, die Imperialismusfrage und die Arbeiterbewegung in Gang. In Nyfiken – blå gesellen sich dazu noch die Themen der sexuellen Revolution: Sex vor der Ehe, überhaupt die Ehe, Verhütung, lesbische Liebe. Und auch die mangelhaften Zustände schwedischer Haftanstalten werden hier zur Sprache gebracht.
Und dann gibt es da noch Börje, mit dem Lena bald eine Liebelei beginnt: ihre dreiundzwanzigste. Börje ist ein schmucker Autohändler, zudem ist er verheiratet und hat auch noch ein Kind. Das aber weiß Lena noch nicht. Als sie es erfährt, reagiert sie rachsüchtig: Die Macht der Triebe triumphiert über die Ideologie. Im Traum schießt sie ihn mit einer Flinte nieder und hat auch gleich ein Messer zur Hand, um ihn zu entmannen. Dieses mag überraschen, war doch "krasse, unverblümte Sexakrobatik in allen möglichen und unmöglichen Situationen" (Die Welt, 11.11.1967) der einzige Gegenstand ihrer Verbindung: Lena und Börje treiben es im Geäst einer alten Eiche ebenso wie auf der Balustrade des königlichen Schlosses Stockholms. Aus der Enttäuschung Lenas bezieht die gelbe Variante des Nyfiken-Doppels seine Spielhandlung. In Nyfiken – blå trifft Lena einen älteren Mann wieder, der ihr "intellektueller Vater" ist, der in ihr den politischen Eifer erst entfacht hat. Die beiden lassen eine Affäre von einst neu aufkochen. Von ihm enttäuscht, hält sich Lena aber bald wieder an Börje. Später begibt sich Lena auf die Suche nach ihrer Mutter, die die Familie nach einem Nervenzusammenbruch verließ. Von ihrer ergebnislosen Reise bringt Lena aber nur die juckende Krätze mit. Und die hat dann auch Börje. Zugleich ist das Nyfiken-Doppel ein Film über den Regisseur Vilgot Sjöman, der soeben dabei ist, einen Film, nämlich Nyfiken, über Lena Nyman zu drehen, mit der er selbst (es war ja zu ahnen) auch eine Liaison unterhält – im Spiel aber nur.
Mit Blick auf die Erzählform der beiden Filme, tragen sie den damaligen Trends insbesondere im europäischen Kino Rechnung. In essayistischer Manier kombinieren sie dokumentarisches Material mit fiktiver Spielhandlung. Als ein "Thema mit Improvisationen" (zit. n. Die Welt, 11.11.1967) bezeichnete Sjöman den narrativen Aufbau seiner Nyfiken-Filme. Nyfiken, als Filmdoppel, sei "ein Film über Sozialismus und Sex" (zit. n. Die Welt, 11.11.1967), sagt Sjöman. In seiner Absicht kommt das Projekt doppelköpfig daher: Es ist der Versuch Sjömans, eine politisch-soziale Bestandsaufnahme der modernen schwedischen Gesellschaft zu zeichnen und sein kraftvoller Vorstoß, diese Verhältnisse durch das Mittel des Tabubruchs zu verändern.
Nyfiken – gul wurde in sechzehn Länder verkauft. Jede Nation löste das Problem, das der sexuell so freizügige Film darstellte, auf seine Weise. Nur in wenigen Ländern kam der Film ungeschnitten zur Aufführung, in einigen wurde er – von den Zensoren als obszön bewertet – in Gänze verboten. Die Frage, inwieweit die Zensurmaßnahmen gerechtfertigt seien, dominierte dann auch die Rezensionen. Während die einen das nicht Gesehene für ohnehin verzichtbar erklärten, wetterten die anderen gegen die Prüderie der Zensoren. Nur wenige gute Kritiken erhielt Nyfiken – gul in der Bundesrepublik und kaum eine positive Besprechung wurde ohne Einschränkungen vorgebracht. Schlechter noch nahm sich die bundesdeutsche Kritik anlässlich Nyfiken – blå aus: Selbst jene Rezensenten, die die gelbe Variante verteidigt hatten, versagten dem Film ihr Wohlwollen: "Als Parallele", so eine typische Kritik jener Tage, "steht der zweite Film im Schlagschatten des explosiven Widerhalls des ersten. Was damals sensationell schien und Furore machte, ist diesmal kaum noch aufregend, grenzt schon gelegentlich an Langeweile." (Neue Zürcher Zeitung, 18.5.1968)
Die Rezeptionsgeschichte der Filme sollte jenen Kritikern Recht geben, die anmerkten, dass "der höchst intime Teil der Zeitreportage den politischen Teil in einem kaum beachteten Winkel verweisen wird. Der spanische Bürgerkrieg, die Wehrpflichtverweigerung, die Selbstgenügsamkeit zu Ehren und Würden gekommener Arbeiterführer, der Krieg in Vietnam, wen erregt das schon? Doch die Frau [...] ohne einen Faden auf dem Leib, ohne verhüllende Decke, in vier oder fünf der üblichsten Positionen [...] – wenn das nun wirklich über die Leinwand geistern sollte, bei welchem Zuschauer wird das nicht alle politischen Spekulationen und Falschrechnungen verdrängen?" (Der Industriekurier, 4.11.1967).
Ohne Zweifel war Sjöman ein Regisseur, der seine Filme von ihrer provozierenden und potentiell umstürzlerischen Wirkung her dachte. Doch hinter seinem Film verbirgt sich auch ein filmpolitisches Anliegen: Eine Zensur, die mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht Schritt hält, stürzt zumeist dann, wenn nicht mehr zu übersehen ist, wie sehr das, was sie zensiert, zum gesellschaftlichen Alltag gehört. Auch darauf hat Sjöman spekuliert. Seine Verdienste zur sexuellen Befreiung nicht nur des schwedischen Filmschaffens im Kontext künstlerisch ambitionierter Filme sind beachtlich. Doch Sjömans Filme, insbesondere Nyfiken, können auch bei heutiger Betrachtung den Vorwurf formaler Inkohärenz nicht von der Hand weisen, ebenso wenig den diffusen Charakter der darin geäußerten Sozialkritik und die bisweilen oberflächliche Behandlung komplexer Themen – ähnliche Kritik wurde auch am Werk Godards, der für Sjöman von richtungsweisender Bedeutung war, immer wieder geübt. Doch waren Sjömans Filme stets Ausdruck ernst gemeinter Anliegen. Sein ganzes Werk hindurch fühlte sich Sjöman seiner Vorstellung von einem sozial engagierten Kino verpflichtet.
Ein Künstler steht immer in der Pflicht, sein Werk auf Übereinstimmung mit der Wirklichkeit hin zu überprüfen. Sjöman hat dies hinsichtlich der Darstellung von Sexualität im Film getan. Die Salven, die er nicht nur durch seinen Film, sondern auch durch seine programmatischen Texte auf die Prüderie des amerikanischen und – wie er sagt – französischen Kinos abfeuert, dienen diesem Zweck. Sie sind Ausdruck künstlerischen Denkens.
Der kalkulierte Tabubruch ist ein legitimes Mittel der Kunst. Er gehört zum Handwerkszeug des Künstlers. Doch ein Künstler sollte um die Folgen wissen, die sein Einsatz haben kann – nämlich, dass er ein Kunstwerk verschlucken kann. Das Gesamtwerk Sjömans ist heute eher unbekannt. Das mag unter anderem daran liegen, dass die Skandale, die Sjömans Filme seinerzeit hervorriefen, für uns heute kaum mehr nachvollziehbar sind. Ist es also nur ein historisches Interesse, das eine Beschäftigung mit Nyfiken heute rechtfertigt? Kann ein Film, der darauf angelegt ist, die herrschenden Sittlichkeitsvorstellungen zu stürzen, im Kontext einer Gesellschaft noch interessant sein, in der sich eben diese Vorstellung längst überholt haben? "Eines Tages wird man Liebespaare beim Geschlechtsverkehr zeigen können, und das wird nicht sehr interessant sein", sagte Renoir. Es war ein harter Kampf ums Zeigenkönnen, der da von Schweden aus geführt wurde. Dass wir Sjömans Film heute als historisch empfinden können, besiegelt den Erfolg dieses Kampfes.
Zu Beginn der siebziger Jahre "wandte sich Sjöman verblüffend radikal von dem sozialkritisch-dokumentarischen Ansatz ab" (Bawden 1978, 1365), blieb dabei jedoch dem engagierten Film verhaftet. Mit Lyckliga skitar (1970) drehte Sjöman den ersten Film im Super-16-Format. Rune Ericson, sein Kameramann, erhielt für die technische Innovation 2002 einen Oscar. Insgesamt umfasst Sjömans Werk siebzehn Kinospielfilme und fünf Fernsehfilme, darunter zwei dokumentarische Arbeiten: Ingmar Bergman gör en film, eine Dokumentation über Bergmans Arbeit an Nattvardsgästerna sowie Self Portrait '92, eine filmische Autobiographie. Von seinen späteren Arbeiten wurde insbesondere En Handfull kärlek (1974) nennenswerte Anerkennung zuteil. Im April 2006 erlag Sjöman in Stockholm einer Hirnblutung.
Sjömans Gesamtwerk sperrt sich auch bei heutiger Betrachtung gegen eine abschließende Bewertung. Sowohl lässt sich die These vertreten, dass Sjöman sein ambitioniertes Werk unabhängig von den Forderungen des Marktes vorangetrieben habe, wie auch die These, dass Sjöman Ausverkauf mit künstlerischer Radikalität betrieben habe. Während ersteres als eine künstlerische Tugend erscheinen mag, wäre nach dem allgemeinem Verständnis letzteres außerkünstlerisch.
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