Wenn das Spiel zur Manie wird
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Ob im Internet oder leibhaftig: Das Schachspiel ist dazu geeignet, Aggressionen zu fördern. Foto: Kai Horstmann
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Von Christoph D. Brumme
Schnellschach im Internet kann einen dermaßen fesseln, dass man seine Gegner zu hassen beginnt, obwohl man sie gar nicht kennt.
Seit ich das Internet nutze, bin ich ein neuer Mensch geworden, mit neuen Süchten und neuen Pawlowschen Reflexen. Eine Pause beim Schreiben, und ich suche "Erholung" beim Schachspielen. Nur wenige Klicks – der rechte Zeigefinger zuckt nervös – und ich "befinde" mich zumindest mit meinen Gedanken in einem "Raum", in dem Menschen aus aller Welt gegen einander Schach spielen.
Weil mir die Geduld fehlt, tiefgründig zu denken – ich will mich ja nur ablenken –, wähle ich die kürzeste Disziplin, in der jeder Spieler pro Partie eine Minute erhält. Die Holzschraffur des Bretts, die schmatzenden Geräusche, die das Aufschlagen der Figuren vortäuschen, der Beifall für den Sieger – alles soll so echt und klar wie möglich wirken.
Doch da man keine physischen Figuren bewegen muss, spart man Zeit, die zum ruhigeren Betrachten der Stellung verwendet werden kann. In der Wirklichkeit würde die Partie etwa drei Minuten dauern.
Irre Gegner
Die Gegner sind meistens komplett irrsinnig. Einer, mit dem ich automatisch verbunden werde, nennt sich FuckNaziGermany und spielt auch so: eklig gemein, rasend schnell. Nach dreißig Sekunden und zwanzig Zügen habe ich zwar zwei Figuren mehr, aber es droht dennoch ein schwer zu widerlegendes Matt.
Ich igle mich ein, wie man im Schachjargon sagt, ich pariere seine Finten, verbrauche aber zu viel Zeit und verliere. Auf eine Revanche lässt er sich nicht ein. Ich "verfolge" ihn, sehe mir an, wie er mit dem nächsten Gegner umgeht, will wissen, ob das ein Islamist oder was sonst ist. Sein Gegner spielt ebenso schnell wie er, nach dreißig Sekunden haben beide dreißig Züge gemacht, die Stellung ist kompliziert, der mit Weiß spielende Anti-Nazi steht etwas besser. FuckNaziGermany hat aggressiver gespielt als sein Gegner, aber außer einem Raumvorteil hat er nichts erreicht.
Der anonyme Gegner macht schließlich einen "Fingerfehler", er verzieht sich, wickelt falsch ab, hat danach einen Turm weniger, verteidigt sich noch zehn Züge lang. Dann fehlen ihm die Mittel, diesem bösen Menschen, der das Spiel zum Politikum macht, standzuhalten, oder ihm gar zu zeigen, dass das Böse besiegt werden kann. Ein Trauerspiel.
Mich fordert währenddessen Nostradamus heraus. Er spielt nicht sehr verheißungsvoll, sondern gemütlich und solide und übersieht im 31. Zug eine Springergabel, als er noch zwölf Sekunden zum Überlegen hat, ich noch fünfzehn.
Manchmal fragt man sich, weshalb jemand in der Eine-Minuten-Disziplin glänzen möchte, wenn er für eine normale, allgemein bekannte Eröffnung schon zwanzig Sekunden braucht.
"Wiener Psycho"
Der Spieler Wiener Psycho hingegen macht seinem Name Ehre. Er setzt im zweiten Zug die Dame vor die Bauern, zeigt quasi seinen nackten Hintern. Na warte, dir werde ich es zeigen. Man muss ruhig bleiben, wenn einer so provozierend auftritt und glaubt, dass man in der Kürze der Zeit den Schwachsinn nicht mit kühlem Verstand widerlegen könne. Ich baue eine geschlossene Stellung auf, treibe die Bauern vor. Ich werde ein Drahtnetz über seine Dame werfen und mich um seinen König, der halbnackt auf der Grundreihe herumturnt, später kümmern. Er irrt mit seiner Dame zwischen meinen Figuren herum, aber ich kann sie nicht fassen, sie ist glibberig, er tänzelt.
Dann gibt Wiener Psycho unerwartet auf. Er beendet einen Konflikt, der noch gar nicht ausgereift war. Er hat Angst vor den Konsequenzen. Sein Computer steht tatsächlich in Österreich, wie ich an der Länderflagge sehe. Vielleicht sitzt er in einem Wiener Kaffeehaus? Ich sehe, dass er alle seine Gegner so narrt – er zieht nach dem Bauern die Dame vor, er irrlichtert mit ihr durch die gegnerische Stellung und gibt dann auf.
Andere Spieler lieben es, den Gegner in Zeitnot durch sinnlose Züge unter Druck zu setzen, gerade dann tragen sie Clown-Masken; der Rationalismus, den das Brett und die Regeln vorgeben, dient nur dem Hohngelächter.
Im Blitzschach lernt man den Gegner, den man nicht sieht oder hört, mit dem man sich in diesem Spielraum auch nicht schriftlich austauschen kann, manchmal ziemlich gut kennen. Man steigt in kranke Hirne ein. Auch in das eigene. Weshalb ärgert es mich, gegen einen Gegner zu verlieren, der schlechtere Züge als ich macht, aber schneller spielt? Er hat kein solides Wissen, er ist ein schlechter Rhetoriker, seine Argumente blenden. Ich hingegen, als ehrlicher Mensch, suche seine Schwächen, will die schlimmstmögliche Wendung erreichen, mit dem Skalpell seine Kombinationen zerschneiden, ich will fehlerfrei spielen und nur unwiderlegbare Argumente äußern.
Täuschen und Tricksen
Man lernt in aller Bescheidenheit, dass man mit Hilfe der Maschine zu verblüffenden Leistungen fähig ist. Die Reflexe und das Reaktionsvermögen werden trainiert. Man vertraut den ersten Gedanken, spielt raffiniertere Kombinationen als in langsamen, sich über fünf oder sechs Stunden hinziehenden Partien. Je kürzer das Spiel, desto irrationaler die Gedanken. Das Täuschen und Tricksen wird belohnt. Steigt man in die nächsthöhere Disziplin ein und spielt zweiminütige Partien, wirkt es wie ein Wechsel vom Raumschiff in die Pferdedroschke.
Jedes Mal treten die gleichen Effekte ein, ich werde müde, will einschlafen, fühle mich trostlos und leer. Wie kann der Mensch, ob er nun im Iglu oder an der Wolga sitzt, nur so langsam spielen? Zwei Minuten sind nichts für echte Kämpfer. Die Züge sind verschnörkelt, die Absichten plüschig, wir befinden uns in der Phase der Trägheit und Dekadenz. Stotterer erzählen Witze, die Pointen verpuffen.
Zurück ins Raumschiff. Es herrscht bolschewistisches Tempo. Das Gesetz der Erdanziehungskraft ist in diesem Raum außer Kraft gesetzt. Die Figuren sind Schatten ihrer selbst. Das Licht der Erkenntnisse blendet.
Ob das Selbst oder das Ich weiterspielen will, ist mir nicht klar. Je länger ich auf dem Feld des Wahnsinns herumtorkle, desto stärker lässt das Unterscheidungsvermögen nach.
Anthropologisch gesehen bin ich mit dem Menschen, der ich vor fünfundzwanzig Jahren war, nur noch entfernt verwandt. Damals hätte ich in ein echtes Schach-Café oder zu Freunden gehen müssen, um den Spielrausch zu erleben. Ich hätte Schweiß riechen und Stimmen hören müssen. Heute spendet eine Maschine mir Beifall, und wenn ich wütend bin, schlägt sie die Figuren hart aufs Brett, damit der Gegner eingeschüchtert wird. Momente des Staunens über die Eleganz mancher Kombinationen binden mich an die Maustaste. Ich will nicht aufhören und vergeude meine Zeit.
Wir Schachmenschenmaschinen industrialisieren unser Bewusstsein, wir glühen vor Begeisterung, wir fühlen uns unsterblich und genial, wir schaffen schöne ästhetische Gebilde innerhalb von Sekunden, wir lachen stumm und beißen uns in die Knie, wenn unser Zeigefinger eine Zehntelsekunde langsamer zuckte als der des Gegners.
Christoph D. Brumme, geboren 1962, lebt als Schriftsteller in Berlin. Sein letzter Roman, "Der Honigdachs", spielt in Russland.
Printausgabe vom Samstag, 14. Mai 2011
Online seit: Freitag, 13. Mai 2011 15:09:22