Wiener Zeitung Homepage Neu in der Linkmap:
 
  Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung ePaper der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Europa  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon  Interview  Glossen  Bücher Musik  Debatten 
BesprechungenPrint this

Mythos von der friedlichen Oase

Von Verena Mayer

Ein Blick in drei Bücher, die versuchen, die Geschichte und die Eigenarten der Schweiz aufzuarbeiten.

Was ist eigentlich mit der Schweiz los? Minarette hat das Volk verboten, Schießgewehre zu Hause sollen dagegen weiterhin erlaubt sein. Die Ausländerpolitik ist wie aus einem wirren Traum von Thilo Sarrazin, seit neuestem will man sämtliche Ausländer, die etwas angestellt haben, "ausschaffen", wie das in der Schweiz so schön heißt. Egal, ob es sich um Flüchtlinge handelt oder um EU-Bürger. Mag das gegen geltendes Recht verstoßen und mag die Straftat noch so harmlos sein.

Um herauszufinden, was das rätselhafte Land umtreibt, lohnt der Blick in drei neue Bücher. Das eine ist von Thomas Maissen, Professor für Neuere Geschichte in Heidelberg, und heißt schlicht "Geschichte der Schweiz". Zwischen roten Buchdeckeln mit weißem Kreuz entrollt Maissen die Geschichte eines Landes, in dem über die Jahrhunderte hinweg alle gegen jeden zu sein scheinen: Einheimische gegen Ausländer, Herrscher gegen Untertanen, Katholiken gegen Protestanten, Liberale gegen Konservative, Männer gegen Frauen. Wobei der Krieg lange selbst die Lebensgrundlage der Eidgenossenschaft darstellte.

Vor Schokolade, Käse und Taschenmessern waren nämlich Soldaten der Exportschlager der Schweiz. Als armes Land relativ sicher vor dem Zugriff ausländischer Mächte, konnte die Schweiz die eigenen Leute als Söldner verschicken. Im 17. Jahrhundert kämpfte ein Viertel aller Über- 16-Jährigen für fremde Herrscher.

Maissen räumt auf mit dem Mythos der friedlichen Oase inmitten von Europa, als die sich die Schweiz gerne selbst sieht. Detailreich, aber ohne sich in den Details zu verlieren, zeichnet er die vielen, oft sehr blutigen, Konflikte nach, die das kleine Land geprägt haben. Sogar der Hexenverfolgung widmet er ein eigenes Kapitel. Von 110.000 westeuropäischen Hexenprozessen wurden 10.000 in der Schweiz geführt. Die letzte überlieferte Hinrichtung einer Hexe fand 1782 ebenfalls in der Schweiz statt. Anna Göldi hieß die Frau, angeblich hatte sie einen Giftmord begangen.

Maissens gedankenstarkes Buch ist pointiert geschrieben und hat das Zeug zu einem Standardwerk. Schade nur, dass die Quellen zu kurz kommen. Erst am Schluss gibt Maissen einen knappen Überblick über den Forschungsstand; Literaturhinweise und ein Register sucht man jedoch vergeblich.

Auch die "Kleine Geschichte der Schweiz" von Volker Reinhardt geht nicht näher auf Quellen ein. Der Historiker knöpft sich einige Schweiz-Mythen vor, den Apfelschuss etwa, dem eigentlich eine Sage aus Skandinavien zugrunde liegt. Ansonsten wirkt der schmale Band, der sich brav vom Rütlischwur bis zu Christoph Blocher durcharbeitet, mit seinen historischen Karten wie ein ausformulierter dtv-Atlas. Dafür spricht der Bildteil Bände. Um 1946 vor den katastrophalen Folgen der Gleichberechtigung zu warnen, wurde unter dem Slogan "Frauenstimmrecht nein" ein Schnuller plakatiert. Der ist so verwahrlost, dass sich eine eklige Fliege darauf niedergelassen hat. Kein Wunder, dass die Schweizerinnen erst seit 1971 wählen dürfen. Propaganda, bei der man nicht weiß, ob man sie irre oder zum Lachen finden soll, gehört also nicht erst zur politischen Kultur, seit Blochers SVP dunkelhäutige Hände plakatieren ließ, die gierig nach einem Schweizer Pass greifen. Ein Plakat, auf dem die Rechtspopulisten die Verschärfung der Abschiebepraxis forderten, zeigte jüngst auch einen Nägel kauenden Deutschen. Darüber stand: "Detlef S., Kinderschänder. Bald Schweizer?"

Wie eine Therapiesitzung funktioniert der Sammelband, der von den Journalisten Jürg Altwegg und Roger de Weck herausgegeben wurde. Unter dem bescheuerten Titel "Sind die Schweizer die besseren Deutschen?" werden die deutsch-schweizerischen Beziehungen gewissenhaft aufgearbeitet. Der Schweizer Literaturwissenschafter Peter von Matt dröselt die Kultur der gegenseitigen Beschimpfungen auf ("Sauschwaben" versus "Kuhschweizer"), der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann ist verblüfft über die "grassierende Staatsfrömmigkeit der Deutschen". Wobei die Deutschen generell weniger Probleme mit den Schweizern haben als umgekehrt. So schreibt Brigitte Kronauer liebevoll-ironisch über die Schweiz als Sehnsuchtsort. Zum Dank bekommt die deutsche Autorin von einem Schweizer Gastwirt statt Prosecco Apfelsaft serviert und Whisky verrechnet.

Die Herausgeber bieten einiges an Autoren auf, um den "Hass auf die kleinen Unterschiede" bis in die allerletzte Nische auszuleuchten. Sogar Günter Netzer wird interviewt. Der klagt über die Steuern im Kanton Zürich, wo er lebt.

Am Ende läuft alles auf die Sprache hinaus. Kein Beitrag, der ohne die Unterschiede zwischen dem Schweizer- und dem Hochdeutschen auskommt, das in der Schweiz schnöde "Standardsprache" heißt. ( Siehe dazu den Beitrag auf Seite 3, Anm. )

Über die wirklich interessanten Lokalpatriotismen erfährt man in dem Band nichts. Etwa darüber, dass Schweizer neuerdings Filme wie "Sennentuntschi" stürmen, in dem Almhirten von einer selbstgebastelten Sexpuppe gehäutet werden. Oder warum in einer globalisierten Gesellschaft nicht nur Jugendliche so stolz auf ihren heimatlichen Dialekt sind, dass sie ihre SMS auf Schweizerdeutsch tippen ( "S'isch mega gsi!" ), sondern es auch eine Volksinitiative gegen Hochdeutsch als Unterrichtssprache an der Vorschule gibt.

Komisch, dass ausgerechnet dieser Konflikt unbereinigt bleibt. Wo doch die Schweiz, wie die Historiker Maissen und Reinhardt nachweisen, im Laufe ihrer Geschichte eines bewiesen hat: Abschottung und Bekämpfung von allem Fremden hat es immer gegeben. Aber ebenso pragmatisch und zivilisiert hat man sich dann wieder zusammengerauft.

Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz. Verlag hier+jetzt, Baden 2010, 334 Seiten, 24,80 Euro.

Volker Reinhardt: Kleine Geschichte der Schweiz. C. H. Beck, München 2010, 176 Seiten, 16,95 Euro.

Jürg Altwegg, Roger de Weck (Hrsg.): Sind die Schweizer die besseren Deutschen? Der Hass auf die kleinen Unterschiede. Nagel&Kimche;, Zürich 2010, 156 Seiten, 17,90 Euro.

 

Printausgabe vom Samstag, 14. Mai 2011
Online seit: Freitag, 13. Mai 2011 12:53:00

Kommentar senden:
Name:

Mail:

Überschrift:

Text (max. 1500 Zeichen):

Postadresse:*
H-DMZN07 Bitte geben sie den Sicherheitscode aus dem grünen Feld hier ein. Der Code besteht aus 6 Zeichen.




* Kommentare werden nicht automatisch veröffentlicht. Die Redaktion behält sich vor Kommentare abzulehnen. Wenn Sie eine Veröffentlichung Ihrer Stellungnahme als Leserbrief in der Druckausgabe wünschen, dann bitten wir Sie auch um die Angabe einer nachprüfbaren Postanschrift im Feld Postadresse. Diese Adresse wird online nicht veröffentlicht. Bitte beachten Sie unsere Feedback-Regeln.

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum · AGB